Günter Kunert: Zu Rolf Haufs Gedicht „Das hält wer aus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Haufs Gedicht „Das hält wer aus“ aus Rolf Haufs: Größer werdende Entfernung.

 

 

 

 

ROLF HAUFS

Das hält wer aus

Das hält wer aus. Das Lügen
Her von Ost nach West und hin nach Ost.
Rechtfertigungen aller Kriege. Tote viel
In farbiger Umgebung. Danach
Die Kunst.

Das hält wer aus. Das
Kommstdunicht dann Holichdich.
Halt ein. Lauf weg. Die
Predigt mach dir selbst und glaub
Sie nicht.

Das hält wer aus. Das
Blei im Hirn den Schwamm
Im Auge. Wir wecken jetzt
Die Zeugen auf. Vielleicht
Sie reden.

 

Der verborgene Zeuge der Zeit

Obgleich als Behauptung formuliert, handelt es sich bei dem Titel des Gedichts und dem jeweils jede Strophe einleitenden Satz um die bange Frage: Wer hält das aus?! Nämlich das, was anfangs unmetaphorisch, dann jedoch bildhaft benannt wird, ohne daß sich deswegen ein Bruch ergäbe: den stechenden Widerspruch, den wir erleben, in dem wir leben. Den täglichen Ohren- und Augen„schmaus“, der einem auf allen Ebenen eingetrichtert wird und an dessen Giftigkeit nicht zu krepieren von einer abgehärteten Konstitution zeugt.
Die Vermittlung der Welt durch ihre Medien findet sich solchermaßen in der ersten Strophe nackt und direkt thematisiert – wie es überhaupt ein Kennzeichen (und Vorzug) der Gedichte von Haufs ist, über ihre Vielschichtigkeit und ihren Bedeutungsreichtum durch sprachliche Einfachheit (soll man sagen:) hinwegzutäuschen? Charakteristisch für seine Schreibweise ist das „Understatement“. Als fürchte er ständig, einen umfassenden Gedanken als solchen zu erkennen zu geben: zum Beispiel das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, oder Kunst und Wirklichkeitswiderschein, in den nahezu kargen Sätzen der ersten Strophe, wo es nach der Aufzählung bekannter Trostlosigkeiten heißt: „Danach die Kunst“, Drastischer und lakonischer ist die oft zwielichtige, eben „affirmative“ Rolle der Kunst weiß Gott nicht zeigbar. Nach jeder historischen Enttäuschung, nach der immer wiederkehrenden einmaligen Erfahrung: Kunst, auf fatale Weise versöhnend.
Doch trotz unserer Einsicht können wir diesen Widerspruch, den wir selber produzieren, an dem wir leiden, durch den wir existieren (und nicht nur materiell), nicht aufheben, sondern nur reflektieren: wie die zweite Strophe die Angst zwischen Fremdbestimmtsein und Eigenwollen, zwischen Einhalten und Wegrennen, zwischen eigener Überzeugung und ihrer unausweichlichen Relativierung. Denn die beschriebene Position, zwar als jedermanns denkbar, hier aus dem betroffenen Bewußtsein des Intellektuellen gezeichnet, ist die unserer Ambivalenz, unter deren Naturgesetzlichkeit die Versuche, im Tun, auch im literarischen, noch einen Zweck zu entdecken, fragwürdig wurden. „Die Predigt mach dir selbst“ – weil jede öffentliche längst alle Überzeugungskraft verlor; so wird Zielsuche zum privaten Unternehmen und das Ergebnis unglaubhaft.
Doch noch über die Gefangenschaft im gemütlichen Schrecken und in intellektueller Gebrochenheit hinaus geht die bereits biologisch gewordene oder werdende: Das „Blei im Hirn“, Symbol mühsamer Denkarbeit, bewirkt außerdem heute Assoziationen wie: den tödlichen Schuß; wie „aktuelle Beeinträchtigung durch Schadstoffe“. Auch der „Schwamm im Auge“ verdeckt es nicht nur beißend, er durchwuchert es ebenso und zersetzt den lebendigen Blick bis zum Absterben: Alles Stufungen gestörter oder aufhörender Anteilnahme an der Umwelt. Auf jeden Fall Signale, die uns ahnen lassen, jene Zeugen, die, was für Lebende ungewöhnlich wäre, erst geweckt werden müßten, um vielleicht zu reden, seien Tote, vordem auf ihre Weise an den genannten Umständen beteiligt, und von denen wir annehmen, daß sie diese eben nicht ausgehalten haben. So oder so.
Aber, und damit schließt das Gedicht sich unterhalb seiner Wörtlichkeit zum Kreis zusammen, ob sie aussagen werden, ist so unsicher wie in den vorhergehenden Strophen das Verhältnis von Realität oder Realitätsabbild zur Kunst, wie das von Selbstgewißheit und Selbstzweifel. Doch auch wenn die Zeugen schweigen sollten, es ist bereits alles gesagt und die Spekulation auf ihr mögliches Reden nur noch rhetorisch. Einer hat für sie stellvertretend ihre Rolle übernommen, obwohl er seine Zeugenschaft sorgfältig verbirgt und sein Ich aus dem Gedicht heraushält, das doch so und nicht anders keiner sonst geschrieben haben könnte als er.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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