Hanns Cibulka: Windrose

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hanns Cibulka: Windrose

Cibulka-Windrose

HYPERION 1943

I

Ich kam dir entgegen
an der Mauer von Syrakus,
fliehendes Vaterland.

Segesta
habe ich vom Kübelwagen
aus gesehen,
Fallschirmseide
lag auf den Feldern.

Nebelpatronen
jagten wir hinauf
in das antike Blau.

In den Dörfern
landete die Nacht,
Leuchtspur im Nacken.

 

II

Verkarstetes Land,
die Poesie ist ausgewandert,
auf Krücken
defilieren die Worte
am Forum Romanum vorbei.

Mit Fahnenstoff
verdecken sie die Blöße,
dem Wind
verbieten sie die Botschaft,
die er aus anderen Ländern bringt,
jedes offene Wort
eine Falltür.      

O mein Bellarmin,
ich verspräche dir gern
einen besseren Brief
aus dem Land der Orangen,
doch mein Haus
ist schweigsam geworden,
die Fenster
haben sehen gelernt.

 

 

 

Über Cibulkas Windrose

Einen Idioblasten innerhalb unseres literarischen Organismus wollen wir den in Rede stehenden Dichter durchaus nennen: gerade das, sein poetischer Bauplan, von der schönen Aderung des eigenen Lebens durchzogen, reizt uns zu ausführlicher kritischer Beschäftigung. Schon der Name unseres Dichters, im Tschechischen Diminutiv einer würzenden Gemüsesorte, führt uns in südliche Richtung. Der Titel seines vierten Gedichtbandes, erschienen im Mitteldeutschen Verlag, ist dieser: Windrose. Schärfer träfe der Gebrauch des Wortes in halbierter Bedeutung zu, denn zum südlichen Viertel tritt vornehmlich das östliche. „Bis nach Orvieto gleitet das Land meiner Kindheit, Böhmen“, sagt der Dichter in der Reiseprosa Umbrische Tage, und dieser Satz gilt uns als Hinweis, wie sich der prüfende Leser auf die Gedichte einzustellen habe: nämlich beweglich, körperlich und geistig, um der diachronischen und synchronischen Betrachtungsweise eines weitgreifenden geographischen und menschheitsgeschichtlichen Raumes gewachsen zu sein.
Die Gedichte sind in vier Abteilungen gruppiert. Die erste ist „Windrose“ überschrieben. Seit den frühen Bänden gehören die Tschechoslowakei, Polen, die Ukraine, Korea und China, die engere, zumeist thüringische Heimat und in besonderem Maße Italien zu den poetischen Hauptschauplätzen, die, mit Ausnahme Koreas, wieder aufgerufen werden, vermehrt durch einige Gegenden des Südens. Im ersten Gedicht erscheint die Heimat Hyperions, Griechenland, jedoch nicht zum Zeitpunkt des Volksaufstandes gegen die Türken 1770, den sich Hölderlin im Briefroman zum Vorwand wählte, seine Klage um Deutschland griechisch zu bemänteln, sondern „Hyperion 1943“: deutsch-italienisch-bulgarische Okkupation, Hyperion-Cibulka mit deutlichem Doppelbezug: beide Vaterländer, das der Geburt und das der von ihm bewunderten antiken Kultur, ,fliehend‘, beide vom Faschismus mit Krieg überzogen und zerstört. Die Hoffnungen Hyperions sind 1943 wie 1770 gültig: gesellschaftliche Veränderungen, deren Ergebnis sich in einem friedlichen und freiheitlichen Geschichtsgang des Vaterlandes entwickeln möge. Das große Thema der Exildichtung wird hier, vergleichsweise beruhigter, noch einmal aufgenommen, und Hyperions Ausruf „Wohl dem Manne, dem ein blühend Vaterland das Herz erfreut und stärkt! Mir ist, als würd ich in den Sumpf geworfen, als schlüge man den Sargdeckel über mir zu, wenn einer an das meinige mich mahnt, und wenn mich einer einen Griechen nennt, so wird mir immer, als schnürt’ er mit dem Halsband eines Hundes mir die Kehle zu“ liegt zugrunde. Die Versicherung, „gern / einen besseren Brief“ in die Heimat geschrieben zu haben, ist die Übersetzung des „Schade, schade, daß es jetzt nicht besser zugeht unter den Menschen“, ein ebenso lapidarer wie erschütternder Satz Hyperions, den der zweite Teil des Gedichts erleuchtet und der mit dem tatsächlichen Geschehen im Dritten Reich zu belegen ist: „Verkarstetes Land, / die Poesie ist ausgewandert“ (10. Mai 1933: Tag der Bücherverbrennung), „mit Fahnenstoff / verdecken sie die Blöße“ (Reichsparteitagsfeld Nürnberg), „dem Wind / verbieten sie die Botschaft, / die er aus anderen Ländern bringt“ (faschistische Pressezensur), „jedes offene Wort / eine Falltür“ (Gestapo, Schutzhäftlinge, Konzentrationslager). „Der Aufenthalt in einem fremden Land ist immer ein Angriff auf das eigene Ich“ Diese Gedichte können wohl spröd und karg sein, doch niemals kristallisiert in ihnen menschliche Frostigkeit aus. Der Dichter läßt sich erschüttern von dem, was um ihn herum sich ereignet, sowohl auf der zeitgenössischen als auch auf der historischen Ebene. Hölderlins Maxime, „eines zu sein mit allem, was lebt“, die Hyperion ausspricht, formt sich hier zu einer Poesie aus, die die sichtbaren gesellschaftlichen Veränderungen im oft Unsichtbaren, Noch-nicht-Sichtbaren mit seismographischer Empfindlichkeit abbildet. Seit eh und je, so teilt uns der Dichter in den „Umbrischen Tagen“ mit, bewege ihn ein Wort aus dem Talmud: „Du sollst nicht demütigen“, und tatsächlich sind die Gedichte Zeugnisse einer gesteigerten Leidenschaft in des Wortes erster Bedeutung, Wundstellen der Welt, denen er sich zugekehrt hat, in seinem und in einem fremden Land, Angriffe gegen sich selbst, um Klarheit über die eigene Aufrichtigkeit zu erlangen. In diesem Sinn verdienen alle Gedichte des Bandes, leidenschaftlich genannt zu werden.
Die Konzeptionstechnik erfordert einen hohen Grad an Vorstellungsverknüpfung.
Offene und verkappte Zitate aus den Bereichen Historie, Geographie, Naturwissenschaften, Literatur, bildende Kunst, Architektur u.a. funktionieren wie die berühmten unsichtbaren sechs Siebentel des Eisberges, mit denen gerechnet werden muß. Folglich verdecken sich mehrere Gedichte gänzlich, wenn ihr Untergrund nicht erklärend freigelegt wird, was in den Anmerkungen gründlicher hätte geleistet werden können. „Wer spricht vom Tod, / wenn an den Hängen / die Traube / bräunt?“ fragt der Verfasser gegen Ende des Gedichts „Jičín“, und die scheinbar rhetorische Frage bekommt Gewicht, wenn die tschechische Stadt nordwestlich von Hradec Králové ihre Historie hersagt: Residenz Wallensteins, der im nahe gelegenen Kartäuserkloster bis 1785 beigesetzt war. Die Anwesenheit des kaiserlichen Generalissimus in der Stadt wird über die „Barockgirlanden“ des zweiten Verses erinnert, die auf das 1630 unter ihm erbaute Barockschloß hinweisen, das, im Verein mit der kleinstädtisch-rustikalen Szene, heiter gegen die neuere Mythologie der Gegend gesetzt wird: Bei Jičín unterlagen am 29.6.1866 die Österreicher den Preußen in einem Gefecht, das entscheidend für den Ausgang der Schlacht von Königgrätz war (3.7.1866). Die Geschichtlichkeit der aufgerufenen Orte ist freilich unterschiedlich: „Caprarola ist ein Dorf ohne historischen Glanz“, lesen wir in den „Umbrischen Tagen“, wo wir dem Flecken der italienischen Provinz Rom schon einmal begegnet waren, bevor jetzt, Reißbrett und Schiene unter dem Arm, sein berühmtester Bürger, der Baumeister Giacomo Barozzi da Vignola (1507–1573), die Treppe herabgeschritten kommt: Schöpfer von Il Gesù in Rom, aber auch, und somit hat der Ort kunsthistorischen Glanz, des Renaissanceschlosses der Farnese in Caprarola. Auf den ersten Blick scheint das Gedicht architekturtheoretische Aspekte in Betracht ziehen zu wollen: Vignola erscheint, ausgestattet mit den Insignien, das Spannungsfeld zwischen Häusern und Pinien wird hervorgehoben. Danach verliert das Gedicht das Interesse an der aufgebauten Szene, und das Spannungsfeld ist leicht zu konstruieren: ein ungleichseitiges Dreieck der Luft, aus dem sich nichts ergibt. Das Farnese-Schloß bleibt unerwähnt. Das Spannungsfeld zwischen der Architektur einfacher Kuben und der Verwendung illusionistischer Mittel der Malerei in den Bauten Vignolas (um eine durchbrochene Plastizität zu erreichen) wird nicht abgesteckt. Noch ein zweiter Umstand legt die Vermutung über den denkbaren Gang des Gedichts nahe: der merkwürdige, auf Novalis anspielende Schluß „Jenseits der Alpen / liegen die Hymnen / an die Nacht“. Die über ein Enjambement vollzogene Verfremdung des Titels ist ein Fingerzeig: „Das Wunderreich der ewigen Nacht“ (Novalis), das gegen das diesseitige Leben gesetzt ist, rückt, angesichts der italienischen Landschaft, der realen und der geistigen, in transalpine Ferne. Aber Novalis’ geschichtsphilosophische Erleuchtungen, die auch den Untergang der Antike zurückstrahlen, wären zugleich das Widerlager im angedeuteten Bauplan, in dem sich die Antike-Rezeption der italienischen Renaissance und die Antike-Vision der deutschen Frühromantik durchgriffen. Das mag eine gewagte Überlegung sein, die höchstens den Rang eines Vorschlags beanspruchen darf. Sie ist überhaupt nur für das Werk eines Autors in Betracht zu ziehen, der ein breites Oberflächenmaterial zum Thema in zwei Tagebüchern und einem guten Dutzend Gedichten ausgebreitet hat.
Wir durchschreiten noch immer die erste Abteilung und wenden uns jetzt nach Norden, in den Nordosten Böhmens: nach Kuks, einer stillen Gemeinde, die ehemals Adelssitz war und vor deren Barockkirche der aus Prag gebürtige Bildhauer Matthias Braun von Braun (1684–1738) im Auftrag des Reichsgrafen Franz Anton von Sporck lange Reihen allegorischer Skulpturen aufstellte, die, ebenso wie seine Figuren auf der Prager Karlsbrücke, von leichter Erfindungsgabe Zeugnis ablegen. Die Legende zu diesem Gedicht muß notwendigerweise noch ergänzt werden: „Deine Seligkeiten, / Matthias Bernard Braun, / sind von ihrem Sockel / herabgestiegen“: Die Seligpreisungen der Bergpredigt also, und in der Tat hat Braun acht Sandsteinfiguren geschaffen, in deren Sockel biblische Texte eingehauen sind. Nachdem wir uns der Auskünfte versichert haben, bietet das Gedicht keine Schwierigkeiten mehr, ja es ist in einem Maße durchsichtig geworden, daß die Ringelstruktur seines Gehalts sechsfach zutage tritt: 

Deine Seligkeiten,
Bernard Matthias Braun,
sind von ihrem Sockel
herabgestiegen,
keiner weiß,
wohin sie gegangen.

Der Engel
der Verkündigung
ist abgereist,
auch er
ließ keine Adresse
zurück. 

Die Tage
blättern ab,
Kalk
an den Baumstämmen;
die Terrasse
vor der Kirche
ist leer. 

Zurückgeblieben
sind ein paar Sprüche,
eingehauen
in den Sockel
aus Sandstein.

Dann durchstreift der Dichter wandernd die näheren Bezirke der Heimat. Es ist Dornburg, dem ein Gedicht gilt, und eingedenk des zitierenden Systems, das bei unserem Dichter vorwaltet, erinnern wir uns an das zweite der Dornburger Altersgedichte Goethes (zwischen dem 7. und 9. September 1828), dem Goethes Wetterbeobachtungen vom 7. und 8. September vorausgegangen waren: Naturschilderung auch hier, zunächst, dann: „Hier finde ich / die alten Zeichen wieder“, um sich zu besinnen, wie sich Goethe zu besinnen, zu fassen suchte, als er nach dem Tod Karl Augusts (14. Juni 1828) für mehrere Monate in Dornburg Quartier bezog. Ein leises Gedicht von unauffälliger Schönheit, das der Erfahrung eines Mannes von fast fünfzig Jahren bedarf: 

Unter dem Sonnendach
einer Esche
bleibe ich stehen,
getroffen von einem Tag,
der keine Lüge kennt.

Das ist ein Seitenflügel zu dem ethischen Triptychon, an dem der Dichter malt: frei von Lüge und Betrug, Liebe zur Heimat, Hunger nach Weite. Die Landschaft als gründendes Element wohnt auch den drei Hiddensee-Gedichten inne, deren drittes, „Haus Seedorn“ überschrieben, das interessanteste ist. Es stellt die Beziehung zu Gerhart Hauptmann her. Das Wort der Iphigenie aus dem späten Drama Iphigenie in Delphi wird dem Dichter selbst in den Mund gelegt, und der nicht im Gedicht erscheinende Satz Iphigenies, wenige Verse vorher gesprochen, erhellt die Funktion des Zitats: 

Schenk mir die Worte,
die meine arme Schwester ahnen lassen,
daß ich für ihre Welt verloren bin!

Das Possessivpronomen bezeichnet viel: die Verbrechen der Faschisten, mit denen sich die Atridentetralogie in der Gewandung antiker Vorlagen schonend beschäftigt. Daß unser Dichter gerade diese Stelle zum Angelpunkt des Gedichts werden läßt, ist bezeichnend für seine eigene Haltung, die den faschistischen Kräften der Vergangenheit und der Gegenwart Paroli bietet, im Gedicht „Haus Seedorn“ und in anderen Gedichten dieses Bandes und früherer Bände. Die genaue Standortbestimmung für den heutigen Tag, für die sechziger Jahre, gibt der Dichter bei Gelegenheit dieser vierzig Gedichte der Windrose, nicht etwa in bekenntnishafter Einzelanfertigung, wobei Auswahl und Komposition des Materials poetologisch bedeutsam sind. Aber dies ist auch der Ort anzumerken, daß der Dichter die motivisch vorgegebenen Möglichkeiten gar nicht immer mit der gebotenen Rücksichtslosigkeit verwirklicht. Oder er gelangt, wie in „Kap Arkana“, zu Ergebnissen, die stärker beeindruckten, wenn ihnen die Bildlogik ein strengeres Gesetz bedeutete: Die alten Wappentiere Adler und Falke, zwei Raubvögel, werden durch die friedlicheren Schwäne ersetzt, „die mit ihrem Flug / weiße Bänder / um die Erde winden“ (Es ergrimmt den Ornithologen, die ausdauernde Flugstärke der Adler und Falken derart herabgewürdigt zu sehen.), „wann ist uns je / ein solches Bild / geglückt?“ Schön ist die Auswechslung der Tiere, sie allein drückt ein Symbol aus, das der um die Erde gewundenen Bänder nicht bedarf. (Zusätzlich striche Schiller, sich dabei auf seine Rezension der Gedichte Bürgers berufend, die onomatopoetische Bildung des sechzehnten Verses an.) Nach mehreren Tagesmärschen erreichen wir den engeren Kreis der Heimat unseres Dichters und stehen bereits im „Spätherbst am Hörselberg“. Der kahle Muschelkalkrücken östlich von Eisenach, den die Hörsel vom Thüringer Wald abtrennt, ist der Schauplatz der Tannhäuser-, Venus- und Frau-Holle-Sagen. Doch davon nichts, eher etwas über den kargen Pflanzenbewuchs: Wetterdistel, Blütenspindel, Enzian, Königskerze. Und die Verzauberung der sagenhaften Landschaft spukt noch in der Wetterdistel, hinter der sich der Korbblütler Eberwurz verbirgt, dessen strahlenförmig ausgebreitete, trockenhäutige weiße oder gelbe Hüllblätter sich bei trübem Wetter um die großen Blütenköpfe schließen: daher der botanische Spitzname. Die erste Strophe bedient sich der Genesis: 

Wetterdistel,
heimatlos,
an deinem Blatt
hat sich der Wind
die Lippe
aufgeschnitten.

Das Gedicht schließt mit dem Wortspiel „Königskerze / vom Nachtwind / ausgelöscht“, welchem im nachstehenden „Albumblatt“ ein zweites folgt („Das Acker-Hellerkraut / hat seine letzte Münze / in den Sand geworfen“): beide nicht urschriftlich, dieses aber jenem vorzuziehen, obwohl die Gegend über stärkeren zauberischen Zuspruch verfügt: Im herbstlich-schönen „Albumblatt“ ergeht der Lockruf an die Gefährtin: 

Wenn du kommst,
komm im November, dann wird im Abendrauch
der Mistelzweig blühn

November, der Abendrauch der Hexenküchen und am Ende die Mistel, der in den englischen Volksbräuchen wunderbare Kräfte zugeschrieben werden, lassen, auf einen Wink des Dichters, die deutliche Landschaft verschwimmen, und wir setzen uns, nach den Anstrengungen der ahasverischen Tour, auf den Sockel der ersten Stele, von denen sieben in der zweiten Abteilung aufgestellt sind: Po Chü-I, Wilhelm Heinse, Novalis, Georg Trakl, Ossip Mandelstam, Eugen Gottlob Winkler, Paul Eluard. Für die Ausstellung in künftigen Anthologien beanspruchen fünf unsere Anteilnahme. Es wird für das bessere Verständnis von Nutzen sein, einige biographische Besonderheiten herauszustellen.
In „Arioso“ waren wir „Po Chü-I in der Verbannung“ begegnet, einem klaren Gedicht, das mit der Frage endet: wie denn das Vaterland zu preisen sei, wenn selbst die Tusche im Pinsel gerinnt? Derlei Fragen unterbleiben neuerdings. Die Lage ist bedrohlicher geworden, „künstliche Vögel / singen in den Zweigen“, und sicher ist nur: 

Wo immer
der Baum auch steht,
der Wind
wird ihn erreichen

Die politischen Verpflichtungen Po Chü-Is (772–846) erklären den Nekrolog: Als Beamter der kaiserlichen Zentralregierung übte er wiederholt scharfe Kritik an der Staatsführung und wurde daraufhin in die Provinz versetzt. Später widmete er sich resignierend dem Buddhismus und zog sich bis zu seinem Tod aus der Politik zurück. Johann Jakob Wilhelm Heinse (1746–1803), dem Autor des Romans Ardinghello und die glückseligen Inseln, und der brillanten Bilderbeschreibungen aus der Düsseldorfer Gemäldegalerie, ist die zweite Stele gewidmet. Seine republikanische Gesinnung ließ ihn oft das Vaterland, „wo der Freiheitsrock / immer nur nach Maß / geschnitten“ wird, fliehen. Es wurde gefragt, welches Deutschland gemeint sei. Es ist dies jenes Deutschland, in dem die gesellschaftlichen Kräfte wirksam waren oder sind, vor denen der im Renaissancedenken erzogene Dichter davonlief: Von 1781 bis 1783 unternahm er mit finanzieller Unterstützung Gleims, bei dem er zuvor als Hauslehrer angestellt gewesen war, und Jacobis, an dessen Zeitschrift Iris er mitgearbeitet hatte, eine Italienreise. Das ist die Situation, als das Gedicht einsetzt: 

Mit einem Silberstift
reißen sie den Torso ab,
sinnloses Kopieren,
wenn ich
den Marmorblock
mit meinem Wort berühre,
schlage ich Funken
aus dem Stein.

Dem nach allseitiger Bildung strebenden Heinse muß gedankenlose Nachahmung, „sinnloses Kopieren“, ein Greuel gewesen sein. Er versuchte in ein aktives Verhältnis zur Kunst zu treten, und in den Briefen, die er dem „verehrten Vater Gleim“ aus Italien schrieb, schlagen aus dem Stein der antiken Bildwerke die Funken der Begeisterung. Nicht der Zufall von Heinses Geburt in Langewiesen bei Ilmenau, also im Heimatbezirk unseres Dichters, sondern der Hinweis auf dessen anregende, progressive Ideen macht das Gedicht bemerkenswert, das bis zum letzten Vers von renaissancebestimmtem Selbstbewußtsein getragen ist: 

Keine Sybille
zeigt
mir den Weg. 

Ich selbst
bin die Stimme,
das Wort.

Die dritte Stele gedenkt Novalis’: Impressionen im „Frühling 1966“. Unser Dichter lenkt die Erinnerung auf Weißenfels, wo Novalis im November 1796 eine Anstellung als Akzessist am Salineamt erhalten hatte: 

In Weißenfels drüben
der Freund,
Blütenstaub
an den Fingern

(Blütenstaub: Gleichermaßen auf Novalis’ Aphorismensammlung von 1798 und dessen naturwissenschaftliche Studien zu beziehen.) Der vorsichtigen Distanzierung von der Geisteshaltung Novalis’, wie sie in „Caprarola“ angedeutet wird, ist die Anrede „Freund“ entgegengesetzt. Das scheint uns kein Widerspruch zu sein, aber die eingeleitete Auseinandersetzung mit der Weltanschauung des Frühromantikers, die, in idealistischen Denksystemen verhaftet, auch antifeudalistische und antikapitalistische Momente einschließt, hat sich der Dichter offenbar für spätere Arbeiten aufgehoben. Im Trakl-Gedicht, der vierten Stele, schon im ersten Vers auf „Grodek“ anspielend, ist die Übereinstimmung der Gerüstwörter (Trakl: Abend, Nacht, Klage, Trauer, Schmerz; Cibulka: Abend, Nacht, Schwermut) gegeben, während die Traklsche Novalis-Rezeption erheblich von der unseres Dichters abweicht. (In „An Novalis“ feiert ihn Trakl als „heiligen Fremdling“.) Die Verflechtung der Motive ist augenfällig. Einen neuen Band des Dichters werden wir vor allem unter dem Blickwinkel der sichtbaren Nutzbarmachung solcher Verflechtungen zu lesen haben, durch die das interessante und in vielen Stücken zu den besten Leistungen unserer Dichtung zählende Werk sich nicht nur mengenmäßig vergrößern würde, sondern in seiner Substanz noch mehr an Bedeutung gewönne. Bevor wir die Galerie verlassen, werfen wir noch einen Blick auf die sechste Stele: Eugen Gottlob Winkler. Zirka vierzig Gedichte, mehrere Prosaarbeiten und bemerkenswerte Essays umfaßt das Werk des Dichters. 1933 unternahm er eine Italienreise und gelangte bis nach Sizilien. „Infolge eines politischen Zwischenfalls“, heißt es, schloß er seine germanistischen Studien nicht mit dem Staatsexamen ab. Das Gedicht ruft die Sage um Iphigenie herauf: Nur daß jetzt, im Jahrzehnt des Faschismus, Rettung ausgeschlossen ist. Die Hirschkuh der Artemis erscheint nicht: 

Iphigenie
wurde
füsiliert.

Die Vorahnung kommenden Unheils trieb Winkler, ständig unter dem Alp einer möglichen Verhaftung lebend, 1936, im Alter von vierundzwanzig Jahren, in den Selbstmord: 

Sein Wort
fand nur noch
in der Urne
Raum
zu leben.

Aus der Erinnerung an die Musik ist der Titel der dritten Abteilung genommen: „Sonate in C“. Werke zeitgenössischer Komponisten, etwa von Hindemith und Honegger, verzichten auf die genaue Tonartbezeichnung; näher liegt jedoch die Vermutung, daß das Initial den Dichter selbst meint: Also die Durchführung zweier Themen in vier Sätzen und zwei Variationen des zweiten Satzes in eigener Sache. Eine „Widmung“ geht der Sonate voraus, eigentlich eine achte Stele, in der sich unser Dichter vor seinem poetischen Lehrmeister verbeugt: 

Giuseppe Ungaretti,
unter deinen Pinien
will ich heimwärts gehen,
wenn die Zikade,
abendhell,
die Erde in ein Lied verwandelt.

In den „Umbrischen Tagen“ wird mitgeteilt, welche Berückung für ihn von Ungarettis Gedichtband L’Allegria (1931) ausgeht: 

Die Gedichte von Ungaretti gleichen einem Tagebuch.

(Ungaretti hatte im Vorwort des Bandes geschrieben: „Dieses Buch ist ein Tagebuch.“)… „Auf der Sprache von Ungaretti liegt ein helles gleichmäßiges Licht, eine frische Sinnlichkeit, ein Ernst, der die dunkle Hülle des Traumes abstreift. Seine Sprache ist Körper. Sie ist klar, auf wenige Linien konzentriert. Jede Zeile ist Bild, Musik“. Die scharf gesehene Beurteilung Ungarettis wendet unser Dichter durchaus wörtlich auf die eigene lyrische Produktion an. Im Gedicht auf Po Chü-I, beispielsweise, lesen wir: 

wenig Striche
genügen
für ihr
(der Landschaft, d.V.) Profil.

Mit dem Hinweis auf die Musik, auf die Musikalität der Verse Ungarettis, ist die „Widmung“ in den kleinen Zyklus eingebunden, der sich auf den Kriegsschauplätzen faschistischer Okkupationen östlich der Weichsel aufhält und von dort aus, in den drei Variationen des zweiten Satzes, das Bild der geschundenen Heimat spiegelt: 

In meiner Heimat
frieren jetzt die Brunnen.

Es ist eine elegische, formelhaft verkürzte Beschreibung der Erlebnisse, denen der Dichter als Soldat ausgesetzt war, die sich gegen das Ende hin, die „österliche Stunde“ wiederkehrender Menschlichkeit anrufend, auf das „Wort, / diese Landschaft / mit dem siebenfachen / Echo“ zurückzieht. Landschaften, topografisch erfaßbare und innere, mit Wörtern zu vermessen: das ist auch noch einmal das Thema der vierten Abteilung, eines „Selbstbildnisses“ in zwölf Entwürfen. Wichtig für die poetologische Konzeption unseres Dichters werden die Gedichte allemal dann, wenn im Selbstbildnis das Abbild der Welt zu lesen ist. Selbstbildnis heißt hier Selbstgespräch, Selbstbefragung, etwa im Gedicht „Stumm“, das mit den Versen endet: 

„Wo beginnen?“
schrei
ich ihm entgegen. 

„Dort,
 wo deine Fragen
offen sind!“

Der Dichter vergewissert sich fragend der eigenen Positionen und steckt neue ab. „Offen“ bedeutet aber auch, das Gedicht dem Weltgeschehen zu öffnen: Die scharfmacherischen Reden bestimmter Politiker, der Kampf amerikanischer Neger um ihre Bürgerrechte, Wostok VI, die Nachrichten aus Vietnam halten den Vers in Bewegung: 

Ich sehe mich
selbst
im Visier!

Aus diesem Ergriffensein kommt sein Mahnruf, der in „Mater terra“ am deutlichsten ausgesprochen wird: 

Die Erde
darf ich nicht
verraten,
weil ich der Mutter
immer wieder bedarf,
um Mensch zu sein. 

Willst du
in einem Haus wohnen,
wo die Mauern
fliegender Staub,
der Dachstuhl

aus Wind? 

Alle Sonnen,
flammend,
zwischen Orion,
Andromeda
wiegen das Leben
nicht auf.

Der globale Appell vergegenständlicht sich angesichts der heimatlichen Landschaft: ein Schwalbenflug, die gewöhnliche tägliche Arbeit führen vor, worauf die Sorge des Dichters gerichtet ist. Am Schluß des Bandes steht ein „Selbstgespräch 1967“. Das Gedicht bezieht die Heiterkeit aus seiner weltanschaulichen Grundlegung. Die Überlegenheit wird durch Gesichtspunkte gestützt, die, auf den ersten Blick anscheinend rein naturwissenschaftlich bestimmt, in der Metapher der durchsichtigen „Maske der Materie“ das Credo des Dichters ergänzen: Es ist die Zuversicht in den Menschen, der „Landschaften / aus der Taufe heben“ wird, „die uns fremd sind“ fremd in ihren gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Erscheinungsformen, deren Erschließung von der entwickelten Schöpferkraft des Menschen künden wird. Unüberhörbar ist der polemische Bezug auf das Eingangsgedicht in Celans Gedichtband Die Niemandsrose, das mit dem Vers „Es war Erde in ihnen“ beginnt, wenn wir lesen: 

Gewiß,
in uns ist Erde,
eine Erde, die leuchtet,
Staub,
der spricht.

Die nächste Strophe gibt eine Erklärung, und wir nehmen sie als ein vorläufig letztes Wort unseres Dichters entgegen: 

Ich weiß,
woher ich komme,
weiß,
wohin ich gehe.

Nachdem wir uns über die Gegenstände in Kenntnis gesetzt haben, beschäftigen uns nun Sprache und Rhythmus, die äußeren Mittel ihrer Verwirklichung. Diese Sprache hat manches im Umgang mit der Ungarettis gelernt. Wie jene knapp und in den Bedeutungsfeldern weitreichend, durchläuft sie alle Abstufungen von leiser Melancholie bis zur genau gezielten Proklamation. In keinem Vers gerät sie auch nur in die Nähe tödlicher Geschwätzigkeit, eher werden die Blindzeilen zwischen den Strophen zu Spannungszentren, welche die oft in der Art eines lyrischen Telegrammstils mitgeteilten Nachrichten anhalten: Wir sind aufgefordert, jede Strophe mit den Anmerkungen unseres Nachdenkens zu versehen, die schon der nächste Vers voraussetzt. Der Dichter bedient sich äußerst selten bestimmter Formeln aus der Weltsprache der Poesie. Etwa im Gedicht „Albumblatt“ tauchen sie auf: 

Der Herbst
hebt seinen blauen Degen,
die Vögel in den Lüften
bleiben stehen.

Eine Stelle wie diese deutet an, daß unser Dichter in der Lage ist, auch die intellektuelle Metaphorik zu handhaben. Nur kommen uns derartige Wendungen in einer ansonsten betont schlichten Sprache verloren vor, während sie uns im Werk Karl Krolows, das sich innerhalb der zeitgenössischen deutschen Lyrik vielleicht am konsequentesten den surrealistischen Leistungen anpaßte, nicht überraschen. („Landschaften für mich“ [1966]: „Ermüdete Vögel schlafen / auf der Luft“; „ihr elliptisches Krähen“ [der Hähne, d.V.] „steht lang in der Luft.“) Im ganzen breitet sich über dem „Albumblatt“ ein Anflug von Kostbarkeit aus, dem wir zeilenweise auch in anderen Stücken begegnen: „Ich schenke / mein Gesicht / dem Meer“, „Sonnenlicht / im Gefieder“, „Umfangen / vom Atem der Sonne“, „die Sterne, / Blütenzweige / über der Erde“, „die Trauerweiden / stehen ungekämmt“, „Silbertrompeten, / vom Rauhreif / blind“, „ein Flötenlied, / dem Wind vom Mund gestohlen“. In diesem sprachlichen Zusammenhang beansprucht das Gedicht „Geodäsie“ unser Interesse. Schon die Überschrift, die niedere Geodäsie meinend, gibt die Richtung der Auslegung vor: Landvermessung. Am Beispiel des thüringischen Schlosses Tenneberg wird ein Einblick in die Tätigkeit der Geodäten gewährt. Dementsprechend verwendet der Dichter die geodätische Terminologie: Meßlatte, Winkelspiegel, Prisma, nivellieren. Der letzte Begriff muß definiert werden: Unter einem Nivellement haben wir den Höhenvergleich eines Geländes zu einer gedachten, auf den Amsterdamer Pegel bezogenen Ebene zu verstehen. Also bezeichnet der Satz „Schloß Tenneberg / mit seinen schwarzen Wäldern / eingewogen / in die Landschaft, / nivelliert“ nichts als den Vorgang eines Nivellements mit dem Ziel, die Höhe des Schlosses zu ermitteln. Die Verse „Nicht meßbar / die Schatten der Bäume“ hingegen sind, geodätisch betrachtet, unexakt, da mit Hilfe des pythagoreischen Lehrsatzes Schatten, sofern sie auf eine geneigte Ebene fallen, und die entgegengesetzte Möglichkeit schließt die Formulierung nicht aus, mühelos zu nivellieren sind. Das Gedicht „Mit sechsunddreißig“ betritt das Fachgebiet der Atomphysik: 

Heute
ist die Welt
atomisiert,
Elektronenschatten
huschen
durch meine Hände.

In der Strophe verbergen sich ein sprachlicher und ein sachlicher Fehler. Sprachlich: „atomisieren“ heißt soviel wie: in Atome auflösen, völlig zerstören, pulverisieren. Gestützt wird der Einwand beispielsweise durch Atomiseur: 1) Kohlenstauberzeuger; 2) Feinverstäuber in der Zahnheilkunde. Offenbar meint der Dichter jedoch: Heute ist die Welt von den Auswirkungen der Atomwissenschaft überzogen. Er hätte dafür das Verb „aromifizieren“ erfinden müssen. Sachlich: Elektronen sind im Prinzip unsichtbar. Daraus folgt, daß sie keinen Schatten werfen. Wir haben es mit dem Dualismus der kleinen Teilchen zu tun: Unter bestimmten Versuchsbedingungen treten die Elektronen mit ihren Welleneigenschaften, unter anderen mit ihren Körpereigenschaften auf. Wenn die Körpereigenschaften wirksam werden, sind Schatten, da eine ausgedehnte Masse vorhanden ist, theoretisch möglich, jedoch nicht sichtbar. Eine Tautologie liegt im Vers „denkendes Erkennen“ vor. „Erkennen“ ist „sich wissen machen“; „denken“, von germ. * ƅankjan, steht als Faktitiv zu unserem „dünken“ und bedeutete ursprünglich „machen, daß etwas einleuchtet“, dann „überlegen“. Es wäre zusätzlich interessant, die Wortfelder nach ihrer Stilhöhe zu untersuchen. Wir würden hauptsächlich auf zwei Erscheinungen hinzuweisen haben. Die 1) weitgehend nüchterne, Slang und Technizismen meidende Sprache verfügt 2) über ein Vokabular, das der spröden lyrischen Sprechweise eine geschmeidigere Komponente einschreibt. Innerhalb dieser Wörtergruppe fallen Einmalbildungen (Schwesternwort) und die Neigung zu gehobenen Substantiven (Gestade) auf. Auch der Neologismus „Nesselhemd“ reizt zur Zergliederung. Das Grundwort bedeutet afränk. Kutte (*hrok), ital. Chormantel (rochetto). Aus dem deutschen Sprachgebrauch erinnern wir uns an den Wappenrock des Herolds, den Gehrock, den Überrock. Wir halten also die Bedeutung „eine Art Mantel“ fest und fügen hinzu: Rock in Zusammensetzungen erinnert (hier!) an die Sprache des ausgehenden 19. Jahrhunderts und ist in Gottfried Kellers „Sinngedicht“ (1881) zu belegen. Das Bestimmungswort lenkt die Auslegung in zwei Richtungen. Zum einen assoziieren wir bei dem Stichwort „Nessel“ den heftig brennenden Saft der Pflanze, zum anderen die ursprüngliche Bezeichnung für die aus den Bastfasern der großen Nessel hergestellten Tuche, die später auch Baumwollgeweben den Namen gab. Der Kontext des Wortes im Gedicht „Widmung“ ist dieser: 

Durch den Nesselrock
meiner Zeit
trifft mich das Bild
deiner Strophe
(gemeint ist Ungaretti, d.V.). 

Es handelt sich also um einen abstrakten Rock, sozusagen um die Giftwirkung der faschistischen Ideologie, der unser Dichter auf Schritt und Tritt ausgesetzt, von der er umhüllt war.
Der Rhythmus ist nach syntaktischen Einheiten geregelt. Innerhalb des Prinzips herrscht relative Freizügigkeit. Sprechzäsur und Verszäsur fallen beinahe immer zusammen, wodurch die Gedichte aufs einfachste vorzutragen sind. (Unschärfen in der Versbrechung wie „wo immer / auch die Hacke / in die Erde stößt“ sind leicht zu beheben.) Unser Dichter hat die Angewohnheit, bei zusammengesetzten Zeiten, auch in seiner Prosa, gelegentlich die Hilfsverben einzusparen, was den Sprachfluß stört und unnötigerweise den Verdacht des Altfränkischen aufkommen läßt. Aus dem Caprarola-Kapitel des Reisetagebuchs „Umbrische Tage“ ist uns noch folgender Satz erinnerlich: 

Seine Häuser, lichtgebrannte Würfel, ohne Symmetrie, wahllos übereinander gesetzt.

Es hat uns ein wenig gegen das rhythmische Feingefühl unseres Dichters eingenommen, einen Teil des Satzes im Gedicht „Caprarola“ wörtlich wiederzufinden: 

Die Häuser,
lichtgebrannte
Würfel… 

Als Beispiel dafür, wie ein ohnehin stark rhythmisierter Prosasatz in einen Vers überzugehen habe, gilt uns eine Stelle aus Hölderlins „Hyperion“. Wir zitieren aus den handschriftlich überlieferten Bruchstücken zunächst den Prosa-Entwurf: 

Unschuldiger Weise hatte mich die Schule des Schicksals und der Weisen ungerecht und tyrannisch gegen die Natur gemacht.

Seine Vers-Fassung lautet: 

Gestählt vom Schicksal und den Weisen war
Durch meine Schuld mein jugendlicher Sinn
Tyrannisch gegen die Natur geworden.

In der vierten Abteilung steht das einzige Reimgedicht des Bandes: „Selbstbildnis 1947“. Die drei ursprünglich je vierzeiligen Strophen verwenden in der ersten Strophe jambische Vierheber (ab) und viertaktige Trochäen (cd), in der zweiten Strophe jambische Vier- (abc) und Dreiheber (d) und in der dritten Strophe jambische Vier- (ab), Zwei- (c) und Dreiheber (d). Die Strophen sind nach dem Schema abab gereimt. Die Reime treten fast völlig hinter den Fluß der Verse zurück, unterstützt durch die, zumeist unregelmäßige, Halbierung und Drittelung der Reihen (mit Ausnahme von (c/3). Das scheint uns eine mögliche Vorarbeit für künftig zu reimende Gedichte, wie die Gedichte des Bandes Windrose überhaupt würdige Studienobjekte abgeben und ihr Verfasser vor andern zu nennen ist. 

Bernd Jentzsch, Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1968

Kommentar zu „Über Cibulkas Windrose“

Der Text, eine Auftragsarbeit für Sinn und Form, ist im politischen Sommer 1968 entstanden, an heißen, windstillen Tagen im Garten. Nachdem er in der Redaktionsstube am Robert-Koch-Platz eine erträgliche Weile gelegen hatte, lud mich Armin Zeißler, der stellvertretende Chefredakteur, zu einem Gespräch ein. Mit ihm, dem zuvorkommenden, kenntnisreichen Mann, arbeitete ich gern zusammen. Bei einer Tasse Kaffee gingen wir in dem riesigen, hohen Raum, der sein Büro war, das Manuskript vergnügt durch, sichtlich erfreut über die zahlreichen Spuren, die in ihm verfolgt werden. Er sagte: 

Ich finde es reizvoll, daß Sie mit einem Vergleich aus der Biologie beginnen.

Mir gefiel seine aufmerksame Lektüre im Detail. In diesem Gespräch ahnte ich noch nicht, wie die Bemerkung gemeint war. Das erkannte ich erst, als ich im November oder Dezember das Belegexemplar aufschlug und entdeckte, daß die ersten Sätze gestrichen worden waren. Sie hatten gelautet: 

Die leichtfertige Art, in der einzelne Rezensenten, aber in immer größerer Zahl, den Gedichten unserer wesentlichen Dichter Verse, neuerdings sogar Wörter, ausbrechen, um an ihnen die gedankliche Planung eines Verfassers im Ansehen herabsetzen zu können, ist im höchsten Grad erstaunlich. In der Zwischenzeit setzen wir einige Hoffnungen in die Kraft eines Gutachtens, das sich müht, aus den Wurzeln zu urteilen.

Worin bestand der Grund für die präventive Zensur? In der prinzipiellen Polemik gegen einige unerträglich gewordene Tendenzen in der Literaturkritik der DDR. Eine Heerschar von Rezensenten sprang mit Literatur, und mit Gedichten im besonderen, nach ideologischem Gutdünken um, fahrlässig, einfältig und zunehmend bösartig. Die Eröffnung war programmatisch gemeint. Es wird Zeißler auch nicht entgangen sein, daß der Text den Duktus vorbildlicher Literaturkritiken des 18. Jahrhunderts absichtsvoll aufgreift und ausreichend Raum beansprucht, um rezensorische Gerechtigkeit walten zu lassen. Die literatur-politischen Klischees von der angeblich „unterkühlten Lyrik“, den „Gedichten jenseits des Realismus“ und den „nicht generationstypischen Herangehensweisen“, die ständig angemahnten „fehlenden Spitzen gegen den Klassenfeind“ und die Einschwörung auf die sogenannte „Heine-Weerth-Linie“ gehörten zum dumpfen Kanon dieser Praktiken. Sie unter dem Patronat von allgemein geachteten Autoritäten des zu Recht hochgehaltenen klassischen Erbes zu brandmarken, war Teil des Anti-Programms. Zeißler hatte das gespürt und durch vorauseilenden kulturpolitischen Gehorsam zu verhindern gewußt.
Das Originalmanuskript hielt ich für verschollen, bis es während eines vierwöchigen Aufenthalts in Karl-Marx-Stadt im Juli 1988 unversehens wieder auftauchte. Mein Gastgeber gestattete mir, nach virtuosen Überredungskünsten, schließlich den Zutritt zu seinem Heiligtum: der Bodenkammer. Sie war vollgestopft mit Druckerzeugnissen jeder Art. Ich arbeitete mich, Blatt für Blatt sortierend, durch den Wust in den Regalen und die auf den Dielen deponiehaft wuchernden Halden. Inmitten der Papierflut verbarg sich eine Kopie des Textes auf der handelsüblichen hellgelben Durchschlagsqualität. Er war nicht weniger erstaune als ich, dieser Vorräte eintragende Mann, denn er hatte den Besitz, der ihm nach dem Tod meiner Mutter und der Auflösung ihres Haushalts in die Hände gefallen war, längst vergessen. Dank sei dem manischen Sammler von bedrucktem und beschriebenem Papier! 

Bernd Jentzsch, 1992 aus Bernd Jentzsch: Flöze. Schriften und Archive 1954–1992, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 1993

Angewandtes Märchen und elegische Miniatur

– Zu den Gedichten Franz Fühmanns und Hanns Cibulkas. –

Neben Uwe Berger, Günther Deicke, Armin Müller, Helmut Preißler und Bernhard Seeger repräsentieren Franz Fühmann (Jahrgang 1922) und Hanns Cibulka (Jahrgang 1920) die mittlere Schriftsteller- und Lyrikergeneration in der DDR.1 Fühmann allerdings, der auch als Erzähler in der DDR sehr bekannt wurde,2 öffentlicher und im Hinblick auf seine Thematik und ihre Sprachverfassung auch symptomatischer für diese Generation als Cibulka, dessen bislang vier schmale Lyrikbände umfassendes Œuvre eher intern und öffentlichkeitsunwirksam am Rande der lyrischen Szenerie der DDR angesiedelt ist. Die Gründe für diese Differenz mögen einerseits in Fühmanns Anschluß an die damals alles beherrschende (Sprach-)Gestalt Johannes R. Bechers zu suchen sein, der Cibulka trotz mancher klassizistischer Reminiszenzen, die sich noch in dem Band Zwei Silben von 1959 finden, doch ferngeblieben ist, während Franz Fühmann 1959 bekennt:

Johannes R. Bechers Verse traten in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in mein Leben; spät, aber bald überwältigend. Mit ihnen geschah mir etwas, was iOKch bisher von Dichtung noch nie erfahren hatte. (…) Er gab seinem Volk Rechenschaft; wie zwang er uns dadurch, uns wenigstens vor uns selber Rechenschaft zu geben, anstatt Zaubersprüche zu murmeln (…) Wie elend schien nun die Flucht in die Magie; wie hohl jenes Beschwören von Verhängnissen; (…) Bechers Gedichte waren ein wirkender Teil (…) der lebendigen Wirklichkeit des Sozialismus. (…) sie waren eine poetische Großmacht, die in unser Leben eingriff und es verändern half.3

Auf diesem Hintergrund ist etwa das 1953 veröffentlichte Gedicht „Dank dir, Sowjetunion“ zu lesen, das Hermlins Lobpreisung

Ich hatte UdSSR,
Wie die Sonne gehört sie jedem
4

vorwegnimmt. Das Gedicht erschien in Fühmanns Band Die Nelke Nikos, den er später einstampfen ließ,5 und wurde nicht in den Sammelband Die Richtung der Märchen aufgenommen.

Einfach dies Herz, nimm es hin
und das schönste Gedicht, das ich je schreiben werde,
und den Händedruck unserer Freundschaft.

O Sowjetunion,
daß es dich gibt, daß du da bist
in der Welt,
(…)
(…)

Du hast uns Deutschland gegeben, Sowjetunion,
du: Deine Menschen, dein Volk,
deine Hirten, deine Gelehrten,
(…)6

Zum anderen ist dieser Einsatz Fühmanns ein Beleg auch für die von Becher vorformulierte Kulturpolitik des neuen Staates, die ihren Niederschlag im Entwurf einer (vulgär-) marxistisch-leninistischen Ästhetik gefunden hat und durchaus verbindlich gemeint war. Eine Ästhetik, die nicht auf Grund neuer Werke entsteht, sondern diese präjudiziert, eine Ästhetik der „Inhaltsliteratur“, der formale Kategorien ziemlich fremd sind, die dem künstlerischen Experiment durch dogmatische Betonung der Begriffe Parteilichkeit/Tendenz nur minimalen Raum läßt:

Das lebenswahre künstlerische Schaffen ist stets in dem Sinne bewußt, als sich der Künstler darüber klar ist, was er macht und wofür er etwas tut, das heißt, daß er den Inhalt, das Ziel und die Tendenz seines Schaffens von der Position seiner Weltanschauung betrachtet.7

Auch diesen ,ästhetischen‘ Forderungen der Kulturpolitik stand Cibulka vorsichtiger gegenüber als Fühmann.
Beide begannen nach 1950 zu publizieren, nur Fühmann veröffentlichte 1942 bereits einige wenige Gedichte in der Zeitschrift des Hamburger Ellermann Verlages Das Gedicht. – Blätter für die Dichtung.
8

Die ,Richtung‘ der Fühmannschen Poesie seit seinem Beginn als Lyriker 1953 ist „die Richtung der Märchen“; und zwar auch da, wo die Gedichte nicht ausgesprochen in diese Richtung hin thematisiert sind, wie etwa das umfangreiche, stark episch betonte Poem „Die Fahrt nach Stalingrad“,9 wo es schon heißt:

(…) Es raunt aus den Märchenbüchern
uralte Weisheit herauf; es tanzen die Nixen
10

Bereits der erste Band Fühmanns, Die Nelke Nikos, enthält mehrere dezidiert ausgeführte Belege für diese programmatische Wendung, darunter das Gedicht „Märchen“ und den fünfteiligen Zyklus „Schneewittchen“. Im „Märchen“ stehen die Verse:

Plötzlich stehst du am Grunde
der Dinge. Wie einfach sie sind!
11

Das Gedicht schließt:

die Helden haben nicht Ruh.
Sie wandern den klaren Tagen,
dem Morgen ohne Abend zu.
Siehst du sie am Saum unsrer Mühen
wie Gewesene und Kommende stehn?
Es ist Winter. Die Rosen blühen.
O welche Märchen werden geschehn!
12

Das Motiv des Grundes, der nach Fühmann von den Märchen formuliert wird, kehrt an anderer Stelle wieder:

Die Richtung der Märchen: tiefer, immer
zum Grund zu, irdischer, näher der Wurzel der Dinge,
ins Wesen.

So beginnt das Gedicht „Die Richtung der Märchen“,13 und im Gedicht „Die Weisheit der Märchen“ heißt es:

Die Weisheit der Märchen: Immer
geht die Reise zum Grund, und immer ist es
dunkel zunächst am Grund
.14

Die Gespanntheit zwischen Gewesenem und Kommendem, Vergangenheit und Zukunft (aber auch: zwischen Muster und gesteuerter Wiederholung des Musters im Gedicht), zwischen der alten Anfangsformel der alten Märchen: „Es war einmal“ und dem beschwörenden Neuansatz: „Es wird sein“,15 zwischen der anfänglichen Dunkelheit (am Grunde) und dem Licht am Ziel,16 bestimmt die dialektische Struktur der Fühmannschen Märchen-Gedichte:

O Frühling des Volkes, o Traum zurück
in die Zeiten, die niemals waren,
in die Zeiten, die ich kommen sehe –
17

Oder:

Immer sind die geringen Dinge die wichtigen.18

Und:

Epilog und Prolog
So sei verflucht, du Zeit der Totentänze,
so sei verflucht, blutiger Karneval!

Das Gedicht schließt mit der Aufforderung:

sorgt, daß der Tag der Lebenden beginnt!19

Dieser Struktur entspricht jene des alten Märchenmusters, das diese Spannung schließlich auflöst, den Konflikt im Sinne einer positiven Öffnung in die sorgenfreie Zukunft freigibt.
Anders als bei Ingeborg Bachmann oder Christa Reinig, anders als bei Härtling, Huchel, Enzensberger oder Bobrowski, wo Märchen- und Sagenmotive, Spruchweisheit und Legendenreminiszenzen eher im Ausschnitt, zitat- und formelhaft, reduziert auf ihren Wort-Laut, weniger inhaltlich bezogen denn als Sprach-Signal gesetzt im Kontext und nicht selten in Umkehrung des evozierten Musters erscheinen, geht Franz Fühmann geradezu den entgegengesetzten Weg in Richtung auf den Inhalt des Musters und seine Wiederholung und Übertragung in eine neuere Wirklichkeit, die zeitlich wie räumlich (im Gegensatz zum Muster) fixiert ist, gleichsam auf metaphorischem Wege eine ideologische Wendung erhält: das Märchen als große Metapher für diese Wirklichkeit. Das Märchen als didaktisch anwendbares Gleichnis, als lyrisches Lehrstück: der Zyklus „Schneewittchen“ beginnt mit dem Vers:

Aber Schneewittchen kann man nicht töten20

um mit der Übertragung ins neue soziologische Modell, der bereits im ersten Satz des Gedichts implizierten Anwendung – „Aber Schneewittchen kann man nicht töten“ – zu schließen:

O du mein Volk, ich weiß es, du kannst nicht sterben!
Du wirst leben, mein Volk, du wirst auferstehen,
alle Märchen werden Wirklichkeit werden,
(…)
und Schneewittchen, vieltausendgestaltig,
gegenwärtig wird sie sein
in meines Volkes Arbeit,
in meines Volkes Glück
21

Solche, wesentlich auf den Inhalt hin bezogene Setzung des Märchenmusters im Gedicht bei Fühmann entspricht seiner Abweisung des Magischen, des Zauberspruchhaften und Beschwörenden,22 das für ihn eine Gefährdung der didaktischen Absicht, der Strategie der einfach-übersichtlichen Rede ist. Vergeblich sucht man nach Einsätzen und Sprach-Signalen wie sie etwa in einem frühen Gedicht Huchels gesetzt sind:

Milch, blaue Milch, Satansmilch du,
im Namen des Vaters vergeh!
23

Vergeblich auch nach jenem Spruch- und Beschwörungsrhythmus, sprachreflexiv, ein poetologisches Programm signalisierend, wie ihn viele Gedichte Bobrowskis formulieren:

Letztes Boot darin ich fahr
keinen Hut mehr auf dem Haar
in vier Eichenbrettern weiß
mit der Handvoll Rautenreis

(…)

und von weitem ruft die Krähe
ich bin wo ich bin: im Sand
mit der Raute in der Hand
24

Auch die Umkehrung des Märchenmusters, der Bruch der Suggestionsebene und die Reduktion auf den Wort-Laut, wie ihn Ingeborg Bachmanns Gedicht „Das Spiel ist aus“ gibt:

Laß dich von listigen Raben, von klebriger Spinnenhand
und der Feder im Strauch nicht betrügen,
iß und trink auch nicht im Schlaraffenland,
es schäumt Schein in den Pfannen und Krügen.
Nur wer an der goldenen Brücke für die Karfunkelfee
das Wort noch weiß, hat gewonnen.
Ich muß dir sagen, es ist mit dem letzten Schnee im Garten zerronnen
.25

fehlt bei Fühmann. Die Geste der resignativen Denunziation („Laß dich nicht“ – „Iß und trink… nicht“ – „Ich muß dir sagen“) die Entlarvung des schönen Scheins, der „schäumt“, die Destruktion der alten Wortbedeutung und des Glaubens daran, wird von Fühmann so selten angestrebt wie die Ironisierung und Infragestellung des alten Märchenmusters. Wo das geschieht, geht er konkret von der Inhaltsstruktur aus und entfaltet ihre Dialektik, wie in den beiden Gedichten „In Frau Trudes Haus“ und „Märchenhäuser“, wo es ihm gelingt, (ohne daß er wie sonst ausdrücklich die utopische Rücksicht „Es wird sein“ – „O welche Märchen werden geschehen“ – anschlägt) die latent faschistische Struktur vieler alter Märchen sichtbar zu machen:

Da ist das Haus für die Schönheitstrunkenen.
Im schönsten Palast der Welt
preisen die Dichter entzückt
die schönste der Königinnen,
deren Schönheit der tote Spiegel selbst singt.
Freilich –
Freilich: ein Jäger bringt eine Schüssel
von Gold, drin rauchen Eingeweide,
und er meldet den Tod eines bäurischen Mädchens,
das schöner als die Königin war.

Häuser aus alten Märchen.
Freilich –
26

Dies der Schluß des Gedichts „Märchenhäuser“. In „Frau Trudes Haus“ heißt es:

Als das Kind in Frau Trudes Haus kam,
da sah es auf der Treppe einen roten Mann
mit einem Henkerbeile,
da klebte Blut daran.
aaaaaMein Kind, was du siehst, sprach Frau Trude,
aaaaawas hast du dir ausgedacht,
aaaaadas war doch der gute Metzger,
aaaaader hat mir einen Braten gebracht.
27

Mit der Orientierung an der Inhaltsstruktur des Modells übernimmt das Fühmannsche Gedicht auch die Erzählstruktur des Musters. Von hier aus erklärt sich die auffällige Prosa-Nähe seiner Lyrik, die Vorliebe für ältere Wörter, die Technik der Langzeile, die seit den frühen Arbeiten eingesetzt wird, beherrschend im Poem „Die Fahrt nach Stalingrad“; eine weit ausholende Dichtung, die ausgesprochene Landschaftsschilderung und Genreszene, Monolog und Dialog, Anekdotisches und erinnerte Episode, Moral-Sequenz und Märchen- wie Legendenton, lyrische Geschichtsschreibung zusammenbringt:

O Blättern in Büchern…
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaDraußen geht Sturm ums Haus,
zerfetztes Grau von Wolken, fast bis an die Erde
hinabgedrückt, treibt vorbei, und manchmal auch
ist dieses monotone Schlürfen: Die Ostarbeiter
und Konzentrationäre werden unter Eskorte
in die Fabriken getrieben. Dann gellt auch ein Schuß; und öfters
sind Schreie und dumpfer Fall.
(…)28

Zuweilen versichert sich sein Vers, daktylisch versetzt, den Binnenreim bevorzugend und Alliterationen häufend, an der Dynamik der alten Nibelungen-Strophe, in Halbverse gebrochen, wie in dem Gedicht „Der Nibelunge Not“, zugleich einen Vers Stephan Hermlins aufnehmend:

Zu Blöcken, schwarzen und roten,
geschichtet, und Schnee darauf:
Verfallend, verfaulend, die Toten,
hier liegen sie zuhauf,
ein ungeheures Verwesen,
von Krähen überschrien;
29

Reine Prosa, versifiziert, bietet das Gedicht „Lob des Ungehorsams“:

Sie waren sieben Geißlein
und durften überall reinschaun,
nur nicht in den Uhrenkasten,
das könnte die Uhr verderben,
hatte die Mutter gesagt
.
30

Die Funktion dieser Versifizierung ist nicht mehr erkennbar und es scheint kein Zufall zu sein, daß das Fühmannsche Gedicht dort, wo es umschlägt in die prosaische Diktion, in die reine Nach-Erzählung (wie in diesem Gedicht etwa), seine poetische Lizenz, selbst seine Anschaulichkeit als angewandtes Märchen einbüßt. Dort, wo er die dialektische Struktur des Märchenmusters in seinen poetischen Ansatz aufnimmt, wenn auch wesentlich inhaltsbezogen, ist es gerade die Anspruchslosigkeit und Direktheit seines Gedichts, die einen Schluß-Gestus wie den der Weisheit der Märchen als angewendetes Märchen noch glaubhaft zuläßt:

Ich verneige mich tief vor der Weisheit des Volkes,
der wir es danken,
daß es im Märchen
dialektisch zugeht.
31

Was sich in der Dichtung Franz Fühmanns – bedingt durch den Rußlandfeldzug, an dem er teilnahm, und die sich anschließende Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion – als Erfahrung der östlichen Landschaft, etwa in der Fahrt nach Stalingrad, niederschlug, heißt bei Cibulka Italien und der mittelmeerische Raum,32 wesentlich direkter und lokalisierbarer allerdings formuliert als in der Mittelmeerdichtung Erich Arendts. Im Gegensatz zur weitausholenden, erzählenden Darstellung der Landschaftsszenerie bei Fühmann und dem sich im Sprechvollzug herstellenden Raum bei Arendt, greift Cibulka eher auf das klangvolle Detail zurück, dem gleichnishafte, stellvertretende Bedeutung und eine gewisse Assoziationsfunktion zugemessen wird. Eine Landschaft, die sich aus Stich-Worten, in der Andeutung, durch einen „Pinselstrich“ realisiert: –

Mit anderen Worten
sehe ich die Landschaft an,

(…)
wenig Striche
genügen
für ihr Profil.
33

– und nicht ohne poetologische Bezüge gesetzt:

Und ich
habe nichts
als das Wort,
diese Landschaft
mit dem siebenfachen
Echo.34die Vögel
bauen sich
in ihrem Lied
ein Nest
Und:
Schwesternwort,
lesbar,
wenn der Dezemberwind
kommt
. (ebd. S. 37)

Landschaft und der Bezug zur Darstellung im Gedicht beschäftigen Cibulka schon früh: „Landschaft über Landschaft / habe ich getrunken“ heißt es in dem Gedicht „Zwei Silben“,35 das dem Band von 1959 den Titel gab. Darin findet sich auch das Gedicht „Unerbittliche Landschaft“ mit den Versen:

Dieser Landschaft
ist der Ruhm versagt.

Der Horizont
ist eine Kette aus Basalt,
fragwürdig glühn im Tal
die gelben Beeren,
die Luft steht drohend
unter den Zypressen
.
36

Die apodiktische Härte des Einsatzes überträgt sich auf die folgenden, syntaktisch übersichtlichen Aussage-Sätze. Die Vergleichskonjunktion ,wie‘ wird durch ein Prädikat ersetzt: „Der Horizont ist eine Kette…“. Die poetische Begründung des Gedicht-Einsatzes wird gleichsam unauffällig, nebenbei gegeben: die gelben Beeren glühn „Fragwürdig“, die Luft steht „unter“ den Zypressen. Auf engstem Raum, in der Miniatur ist die Explositivität, die Hitze einer südlichen Sommerlandschaft formuliert. Das Gedicht nimmt schließend eine programmatische Wendung:

Aber die Kunst
hat ihren Namen
an die Mauern
des Standrechts
geschrieben.

Nicht mehr
jenen dunklen Blick
nach Innen,
Profil mit harten
Strichen,

Stilus!37

Die hier ausgesprochene Abwehr jenes dunklen Blicks „nach Innen“ – in gewisser Weise an Fühmanns Diktum gegen die Magie, gegen die Beschwörungsgestik der Sprache erinnernd – hat nur frühen Stellenwert: die späteren Gedichte Cibulkas zeigen, daß der Blick nach Innen sehr wohl mit dem Prinzip „Stilus“ vereinbar ist. Diese Abwehr (1959) erscheint als Reaktion auf eine Kritik, die ihm attestierte:

Auch trübt des Dichters Schmerz zuweilen den Blick für historische Wahrheiten.38

Auch Cibulka kommt nicht umhin, seinen „Blick für historische Wahrheiten“ zu schärfen und den Ertrag dieser Seh-Schärfung vorzulegen:

LIEBFRAUENDOM ZU MÜNCHEN

(…)
Im Chorgestühl
Bruckners jubelnde Posaunen,
Aber draußen: Jagd,
nach Erotik, Curetage,
und an den Mauern der Synagogen
die uralte Schändung
.39

Oder:

Bescheidenheit, Genosse,
ist kein Hindernis
für deine Größe,

sie wägt die Dinge,
gleicht sie aus
und weiß,
daß selbst der Berg
stets nur ein Teil
der Erde ist
.40

In der „Ode an Peking“ findet sich die Formulierung:

Klar wie ein Tigerfell
änderte er die Dinge
.41

Auch diese Erkenntnis:

Brackwasser ist dunkel
und ohne Grund
.42

Aber schon in diesem Band, die „Ode an Peking“ stammt aus den Zwei Silben, findet er zurück zum Thema: elegisch angeschlagen, verzichtend auf die pseudo-erkenntnistheoretische Geste und die lautstark-bemühte Agitation, heißt es in dem Gedicht „Kindheit“:

(…) Ein jeder Ast
war Abschied.
(…)
Entblättert lag die Landschaft. In unseren
kaum getretenen Pfad fiel Schnee. O weiße Not!
Doch tiefer im Gesetz als wir
verharrten die Gräser. Mein Teil hieß warten
.43

Hier werden Elemente eines verdeckten Sprechens sichtbar: im Rückzug auf ein so (zunächst) a-politisches Motiv wie die ,Landschaft‘ wird eine Reaktion reflektiert, die durchaus von politischer Relevanz ist: „mein Teil hieß warten.“, den unterm Schnee überwinternden Gräsern gleich. Eine Reaktion, ein Sprechen, das sich im Paradigma, zuweilen äußerst verkürzt, niederläßt: so heißt es in dem 1968 erschienenen Band Windrose:

Ich mit dem Heimweh
nach Deutschland
diesem Land von morgen,
wo ich dem Vogel
nicht mehr die Schwinge
neide.

Schneefall.44

Hier genügt bereits ein Wort – neben der Zeitverschiebung: „Deutschland, diesem Land von morgen, wo ich…“ – und diese Verschiebung pointiert aufhebend –:– „Schneefall“, um den vorhergehenden Text zu ironisieren, durchsichtig zu machen: eine elegische Miniatur, im poetologischen Sinn durchaus die zentrale, wenn auch nicht durchgängig erreichte Position der Cibulkaschen Lyrik:

Wo immer
der Baum auch steht,
der Wind
wird ihn erreichen
.45

Die poetologische Reflexion, die dem Gedicht Cibulkas immanent ist, zeigt sich besonders deutlich in der Auseinandersetzung mit und der Wiederaufnahme und Beantwortung von Motiven schon vorliegender Werke: Widmungsgedichte Cibulkas an Heine, Trakl, Mandelstamm, Eluard und Ungaretti;46 Titel-Gedichte wie „Das Gedicht“,47 „Pro Domo“,48 „Selbstgespräch 1967“49 oder „Ballade vom Wort“50 verweisen auf die Auseinandersetzung mit dem Gedicht und der Sprache: eine Reflexion, fast ausschließlich elegisch, im Tonfall eines „späten“ Sprechens vorgetragen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Abwehr jenes „dunklen Blicks nach Innen“ nur ein früher, momentaner Stellenwert zukommt:51 in einer späteren Fassung nimmt Cibulka sie aus dem Gedicht. Diese frühe Abwehr hätte der Dichtung Stephan Hermlins gelten können. Ihre Zurücknahme, in den Gedichtbänden Arioso und Windrose besonders deutlich, liest sich dann auch wie eine Bestätigung des Hermlinschen Gedichtschlusses:

Der Worte Wunden bluten heute
nur nach innen.
Die Zeit der Wunder schwand. Die
Jahre sind vertan
.52

Bei Cibulka heißt das:

Und wenn sich auch
die Strophen schließen,
noch nie
war dieses Herz
so nackt.
Die Jahre fließen.
Die Zeile
bleibt
abstrakt
.53

Was von der Sprache, vom Gesprochenen bleibt ist die ,Blind-Zeile‘,:54

sind ein paar Sprüche
eingehauen
in den Sockel
aus Sandstein
.55

oder:

Eine Tafel
aus gebranntem Lehm,
erloschene Schrift
.56

Aber auch, kontrapunktisch angesetzt, der Weg zurück ins Bild, in „die alten Zeichen“,57 zum „Wort“, das „in der Urne lebt“.58 So in dem Gedicht „Georg Trakl“, wo es heißt:

Später
im Gehölz der Nacht,
hier schnitt uns der Schrei
den Mantel in Stücke,
begegnet er
dem Engel,
verkleidet,
schwarz.

(…)
Schwesternwort,
lesbar,
wenn der Dezemberwind
kommt
.59

Die typografische Anordnung der Gedichte (sie erfolgt erst in dem Band Windrose), orientiert an der von einer symmetrischen Mittelachse ausgehenden, den „inneren Rhythmus“ betonenden Phantasus-Dichtung Arno Holz’ hat nicht nur eine ,übernommene‘, platterdings aufgesetzte Funktion. Gleichsam fixiert auf die Mittelachse, symmetrisch um sie gruppiert, als Einzel-Worte stark betont, formulieren die Verse anschaulich eben jene Spannung zwischen Sprache und Schweigen, die ihre Sprachlichkeit ausmacht. Als mit dem ,Stilus‘ gezeichnete Miniatur, als typografisch verdeutlichte Abbreviatur nähert sich das Gedicht Cibulkas jener Reflexion auf die Sprache, die von der Dichtung Erich Arendts, Paul Celans, Johannes Bobrowskis oder Helmut Heissenbüttels längst thematisiert wurde.

Gregor Laschen, aus Gregor Laschen: Lyrik in der DDR. Anmerkungen zur Sprachverfassung des modernen Gedichts. Athenäum Verlag, 1971

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachruf auf Hanns Cibulka: Mitteldeutsche Zeitung

Zum 10. Todestag des Autors:

Heinz Puknus: Vor Zehn Jahren starb Hanns Cibulka – Gedenkstunde in Gotha
Thüringer Allgemeine, 20.6.2014

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Hans-Dieter Schütt: Wie das Dunkel leuchtet
nd, 19.9.2020

Hans-Dieter Schütt: Der Langsamgeher
Thüringische Landeszeitung, 17.9.2020

Heinz Puknus: Hanns Cibulka zum 100. Geburtstag
Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 71, 2020

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