Hans Galinsky: Wegbereiter moderner amerikanischer Lyrik

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Galinsky: Wegbereiter moderner amerikanischer Lyrik

Galinsky-Wegbereiter moderner amerikanischer Lyrik

WEGE IN DIE DICHTERISCHE WELT EMILY DICKINSONS

I. Emily Dickinson in Deutschland
Folgt man der ,Kammlinie‘ der amerikanischen Lyrik im 19. Jahrhundert, so gabelt sich nach der Jahrhundertmitte der Weg einerseits zu Walt Whitmans Experiment prophetenhaften Ausgreifens in die Welt, andererseits zu Emily Dickinsons Wagnis eines spröden, einsiedlerhaft anmutenden Sich-Sammelns auf sich selbst. Jenes scheint seiner Natur nach dem Leser, zumal dem ausländischen, zugänglicher, dieses ihm verschlossener: a distinguished Precipice / Others must resist, wie Emily Dickinson, der unsere einleitende geologische Metapher also keineswegs unangemessen ist, einmal formuliert.1 Ein vergleichender Blick auf Kenntnis und kritische Schätzung, auf künstlerisches Ringen um Übersetzung und auf wissenschaftliches Bemühen um Erforschung, soweit sie sich auf deutscher Seite den beiden Autoren zugewandt haben, ein Blick vor allem auch auf die deutschen Versuche, das ,Amerikanische‘ beider transatlantischer Gesamtwerke zu erhellen, bestätigt den Eindruck grundverschiedener Zugänglichkeit.
Die Geschichte der bisherigen Rezeption Whitmans in Deutschland liegt, mindestens was ihre Hauptzüge angeht, überschaubar vor uns. Eine längere Reihe von Forschern hat an ihr geschrieben. Eine Zusammenfassung bot erst kürzlich der Altmeister unter den Geschichtsschreibern der deutschen Aufnahme der beiden großen Literaturen des englischen Sprachraums, Lawrence Marsden Price. Kennzeichnenderweise widmet er in The Reception of United States Literature in Germany (1966)2 der Aufnahme der Amhersterin nicht einmal einen einzigen Absatz, geschweige ein Kapitel. Price begnügt sich mit einem knappen Hinweis, der, einen Aspekt unseres Themas keimhaft vorausnehmend, Emily Dickinson und William Carlos Williams unter rezeptionsgeschichtlichem Gesichtspunkt verknüpft:

American anthologies have appeared, several of them devoted to translations of individual American poets in about this sequence: Masters, Dickinson, Faulkner, Doolittle, Frost, William Carlos Williams. It may be that these poems in translation made little impression on the German public as a whole, but they were appreciated by the critics.3

Daß Prices vorsichtige Einschränkung berechtigt ist, merkt man schon, wenn man die deutsche Dickinson-Rezeption an Hand von  B i b 1 i o g r a p h i e n  ermitteln möchte. In Richard Mönnigs verdienstlichem Nachschlagewerk Amerika und England im deutschen, österreichischen und schweizerischen Schrifttum der Jahre 1945–1949 (1951)4 sucht man den Namen von Whitmans neuengländischer Zeitgenossin vergebens. Die zeitlich umfassendere, thematisch engere Zusammenstellung von Richard Mummendey, Die schöne Literatur der Vereinigten Staaten in deutschen Übersetzungen (1961), nennt eine einzige zweisprachige Ausgabe von 1944.5 Gerhard H.W. Zuthers Eine Bibliographie der Aufnahme amerikanischer Literatur in deutschen Zeitschriften 1945–1960 (1965), freilich kein spezielles Verzeichnis von Übersetzungen, vermerkt nur einen Fundort von Dickinson-Übertragungen.6
Alle drei stellen aber damit die tatsächliche Lage in allzu ungünstigem Licht dar. Die Übersetzer haben sich immerhin eifriger, als es den Anschein hat, um die Amhersterin bemüht. Man erkennt dies freilich nur, wenn man nicht ausschließlich selbständigen Ausgaben ausgewählter Gedichte oder Zeitschriftenveröffentlichungen von Übertragungen nachgeht, sondern jede Publikationsart von ausländischer Dichtung in deutscher Sprache einbezieht.
Ein Deutsch-Amerikaner übernimmt im Rahmen einer deutsch-amerikanischen Zeitschrift die natürliche Mittleraufgabe, Gedichte der Neuengländerin wohl als erster auf deutsch wiederzugeben. Er, der sich lediglich durch die Anfangsbuchstaben A. E. kennzeichnet, veröffentlicht in der Chicagoer Zeitschrift Der Westen 1898 Übersetzungen von vier Gedichten.7 Seine Verdeutschungen erscheinen nicht selbständig, sondern dienen in seinem zweiteiligen Aufsatz „Emily Dickinson“ als Beleg für seine Interpretation und Kritik. Streng genommen1läßt sich nicht einmal sagen, ob sich hinter „A. E.“ ein Mann oder eine Frau als Verfasser verbirgt.
In Deutschland selbst tauchen zwei übersetzte Gedichte immerhin schon 1907 auf, noch unter dem Schutz von Ewald Flügels Literaturgeschichte Die nordamerikanische Literatur. Die Auswahl von „Ich bin ein Niemand. Wer bist du?“ und „Ich lerne schon ,Warum?‘, wenn Raum und Zeit vorbei“ wird von dem damals sicher aufrichtigen, ,wilhelminischen‘ Geschmacksurteil gelenkt:

Ihre besten Gedichte haben ein Pathos, das mit dem edelsten Humor verschwistert ist.

Die Übersetzer regen sich stärker erst im dritten und vierten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, nicht zufällig erst nach dem europäischen Krieg, den zum ersten Mal die Vereinigten Staaten entschieden. Der Erforschung des Geistes hinter der Macht verdanken die deutsch-amerikanischen Literaturbeziehungen in den 1920er Jahren ihren ersten Höhepunkt. Diesem Vorgang der wachsenden Ausdehnung und Intensität ordnet sich auch die innerdeutsche Dickinson-Übersetzung zu. Das Rezeptionsmedium der gattungsmäßig angelegten Anthologie einer ausländischen Nationalliteratur bildet wie üblich den ersten dauernden Kontext, innerhalb dessen das Werk der Neuengländerin in übersetzter Form begegnet. Die Sammlung Amerikanische Lyrik (1925), die Toni Harten-Hoencke, die Gattin des nach Deutschland zurückgekehrten Harvarder Germanisten und sich nunmehr der Amerikanistik widmenden Friedrich Schönemann, herausgab, enthält zwei Gedichte Emilys auf deutsch.8 Das war 39 Jahre nach Miss Dickinsons Tod (1886).
Ein zweiter üblicher Zugang ausländischer Lyrik zum deutschen Leser öffnet sich wohl erst 12 Jahre nachher: die Veröffentlichung übersetzter Verse in einer Zeitschrift. Eines der bestunterrichteten und geistig anspruchsvollsten Periodica, die Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen auf literarischem Gebiet besaß, die Europäische Revue, nimmt 1937 drei Gedichte der Amhersterin auf. Hans Hennecke, der sie auch einleitet, bietet sie im Originaltext und in eigener deutscher Wiedergabe. Eine sehr viel seltenere Spielart der Veröffentlichung übersetzter ausländischer Lyrik, der Druck einer Auswahl aus der Dichtung eines Einzelautors in Buchform, bleibt, wahrhaftig ein tröstliches Zeichen in grausiger Zeit, dem vorletzten Kriegsjahr vorbehalten. Im noch besetzten Amsterdam erscheint eine zweisprachige Liebhaberausgabe, Ten Poems of Emily Dickinson. Selected and Translated into German by Rosey Eva Pool. Calligraphed by Susanne Heynemann (1944). Wohl nicht von ungefähr haben also zwischen 1919 und 1945 drei Frauen – neben einem Mann – Emily Dickinson – dabei geholfen, innerhalb des deutschen Übersetzungsschrifttums festen Fuß zu fassen.
Die Besatzungsregimes wechseln. In der amerikanischen Zone des besetzten Deutschlands gewinnt die Fremde aus Neuengland zwar am frühesten, aber immerhin erst nach der Währungsreform der Trizone Stimme in deutscher Sprache. Im August 1948 veröffentlicht Julius Bab, der älteren Generation als Interpret und Literaturkritiker noch gutbekannt, zehn Gedichte in einem Organ amerikanischer Kulturpolitik in Deutschland, der Amerikanischen Rundschau. Zum zweiten Mal bewährt sich der deutsche Amerika-Emigrant als Vermittler: dem unbekannten A. E. in einer Zeitschrift der Deutschen im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist in Julius Bab der Vertriebene der 1930er Jahre in einer Zeitschrift Amerikas im Deutschland des mittleren 20. Jahrhunderts gefolgt. ,,Emily Dickinson. In alabasternen Räumen: Gedichte“ ist die früheste deutsche Auswahlübersetzung, die im deutschen Leser ein erstes Ahnen von der Vielseitigkeit des überseeischen lyrischen Werkes aufkommen läßt. Noch im gleichen Jahr 1948 meldet sich ein binnendeutscher Dickinson-Übersetzer der 1930er Jahre zurück: abermals in der amerikanischen Zone, in München, erscheint die Anthologie Lyrik des Abendlands mit zwei von Henneckes drei Dickinson-Übertragungen. Zwei weitere trägt Paul Friedrich zu Lyrik der Welt (1948) bei. Eine kleine deutsche Spezialsammlung, Kurt Erich Meurers Die Harfe: Nachdichtungen nordamerikanischer Lyrik des 19. Jahrhunderts (1949), schließt die Amhersterin wohl aus demselben Grund wie Whitman, weil „zur modernen Ära“ gehörend, aus.
Erneut in den Umkreis der amerikanischen Kulturpolitik und nicht zufällig wiederum in die ehemalige amerikanische Besatzungszone weisen die frühesten Spuren der Neuengländerin in der deutschen Übersetzungsliteratur der 1950er Jahre. Julius Babs Anthologie Amerikas neuere Lyrik (Bad Nauheim, 1953) übernimmt – mit teilweisen Verbesserungen – sämtliche der zehn Übersetzungen, die Bab zur Amerikanischen Rundschau beigesteuert hatte; vier Gedichte, darunter das Titelgedicht jener älteren Veröffentlichung, ,,Sicher in alabasternen Räumen“, erhalten Überschriften, zwei noch nicht publizierte Proben aus Emilys Lyrik kommen hinzu. Im gleichen Jahr 1953 treten zwei neue Momente in die Übersetzungsgeschichte Emily Dickinsons ein: sie wird dem deutschen Zeitungsleser nahegebracht, freilich dem Leser einer amerikanischen Zeitung in Deutschland, der Neuen Zeitung, und als Mittler fungiert ein deutscher Lyriker der älteren Generation, Georg von der Vring (1890–1968), der am Ende der 1920er Jahre mit Soldat Suhren (1927), einem Kriegsroman vom Künstler in Uniform, erste Beachtung gefunden hatte. Der Ausflug in das Massenmedium ,Zeitung‘ beschränkt sich allerdings auf ein einziges Gedicht, „Vor Nacht“. Daß die Anziehungskraft der spröden Neuengländerin auf den deutschen Dichter keineswegs erlahmte, sollten die nächsten Jahre beweisen. Noch 1953 wird sein Sammelband Englisch Horn. Angelsächsische Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart gedruckt; er enthält zwei weitere Proben aus der Welt der Amherster Lyrikerin. Mit Köln als Veröffentlichungsort tritt zum erstenmal eine Stadt außerhalb der ehemaligen amerikanischen Zone in die deutsche Verlagsgeschichte der übersetzten Emily Dickinson ein. 1952 weitet sich der verlegerische Spielraum nach dem Südosten des deutschen Sprachraums in Mitteleuropa. Die Lyra des Orpheus (Wien) druckt Babs „Wenn die Rotkehlchen“ nach; Kurt Rüdigers „Sommers Begräbnis“ (= Des Enzians Blätter fransen) erscheint ebenfalls hier und später abermals in Amerikanisches Literaturbrevier (Wien, 1954).
Die Anthologie verdeutschter ausländischer Versdichtung erweist sich weiterhin als gastlichstes Dach, unter dem die Fremde aus Übersee in deutscher Sprachgestalt leben kann. Hans Henneckes zweisprachiger Sammelband Gedichte von Shakespeare bis Ezra Pound (1955) vereinigt alle drei Übertragungen von 1937 – zwei von ihnen hatten ja inzwischen in Lyrik des Abendlands (11948; 31953) überdauert – mit drei weiteren Proben und einer kurzen Einführung. Friedrich übernimmt für eine Anthologie, die den binationalen, angelsächsischen Auswahlgesichtspunkt Henneckes durch einen internationalen, religiösen ersetzt – Psalter und Harfe. Lyrik der Christenheit (1955) – seine wohl erste Verdeutschung von Miss Dickinsons „I never saw a Moor“.
Gleichzeitig beweist die deutsche Dickinson-Übertragung, daß sie nunmehr auch außerhalb der amerikanisch unterstützten Zeitschriftenliteratur auf Drucklegung rechnen kann. Freilich geschieht auch dies, wie die Aufnahme einer zweiten Übertragung Rüdigers, ,,Herz, das zur Nachtzeit heimwärts kehrt“, in Orpheus. Blätter für Dichtung, Karlsruhe, 1955, bezeugt, wohl nicht zufällig in der amerikanischen ,Zone‘ von ehedem. Der Beobachter der deutschen Rezeption amerikanischer Literatur während der ersten beiden Jahrzehnte nach 1945 hat Anlaß, diesen ,zonalen‘ Gesichtspunkt nicht völlig zu übersehen. Auch das Provisorium der Besatzungszonen hat auf einige Zeit bestimmte literarische – und nicht nur literarische – Empfangsbereitschaften und -hemmungen hinterlassen. Nicht dieser mittelbare, sondern wie schon zweimal vorher der unmittelbare amerikanische Einfluß auf die Geschicke Emily Dickinsons in deutscher Übersetzung macht sich 1956 von frischem bemerkbar. Die Zeitschrift Perspektiven, die uns in der Rezeptionsgeschichte von William Carlos Williams wiederbegegnen wird, läßt einen bedeutenden amerikanischen Interpreten seiner neuengländischen Landsmännin John Crowe Ransom, in deutscher Übersetzung zu Wort kommen. Die Textbelege, zehn Gedichte, werden in der Übertragung Roswiths von Freydorf geboten. Hier – dies sei vorgreifend gesagt – verknüpfen sich die deutsche Rezeptionsgeschichte des Fräuleins aus Amherst und die des Arztes aus Rutherford doppelt: eben nicht nur durch das gemeinsame Veröffentlichungsorgan Perspektiven, sondern auch durch Mitarbeit W. Hasenclevers am gleichen Heft. Drei Jahre später, 1959, betont er in der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Anthologie Junge amerikanische Literatur die Wirkung von Williams.
In der Zwischenzeit biegt die deutsche Übersetzungsgeschichte zu einem schon 1944 erreichten Punkt zurück. Der Versuch, Dickinson-Übertragungen als kleines selbständiges Buch herauszubringen, wird zum zweiten Mal unternommen, und zwar wieder von einer Frau. Kurz vor der Veröffentlichung einer französischen zweisprachigen Ausgabe (1957) wagt Maria Mathi den ersten größeren – mit einer längeren Einführung verbundenen – deutschen Auswahlband aus Miss Dickinsons Briefen und Gedichten unter dem Titel Der Engel in Grau (1956). Die Briefe sind deutsch wiedergegeben, die Gedichte zweisprachig gedruckt. Aber eine jüngere Lebensform der Neuengländerin in deutscher Übersetzung, die internationale Anthologie, wird keineswegs aufgegeben. Nach ,abendländische‘, ,angelsächsische‘ und ,christliche Lyrik‘ erscheint 1956 ,Frauenlyrik‘ als gastlicher Sammelbegriff. Die beiden Übertragungen aus Emilys Versdichtung, die Georg von der Vring in Englisch Horn (1953) vorgelegt hatte, stellt er jetzt mit vier weiteren zusammen und gliedert sie alle einer neuen Anthologie, Unsterblich schöne Schwestern. Frauenlyrik aus drei Jahrtausenden, ein.
Die zum zweitenmal errungene Position, der selbständige deutschsprachige Auswahlband aus der Lyrik der Neuengländerin, wird 1959 befestigt. Abermals zieht die Fremde eine Frau als Übersetzerin an. Lola Gruenthal veröffentlicht 36 Proben als Emily Dickinson, Gedichte. Ebenfalls setzt sich die Linie der internationalen, thematisch weitgespannten Anthologie fort. Paul Friedrichs Einzelbeitrag zum Übersetzungsband Lyrik der Christenheit hat sein genauso sparsames Seitenstück in einer Sammlung, deren Titel den religiösen Auswahlgrundsatz mit dem schon 1948 praktizierten ,abendländischen‘ verschmilzt. Religiöse Lyrik des Abendlandes (1958) bringt wieder nur ein Gedicht, diesmal in der Übertragung Kurt Erich Meurers. In diesem „Ullstein-Buch 210“ beginnt Emily Dickinsons Leben im deutschen ,Paperback‘, im keineswegs zu verachtenden Schutz einer preiswerten Reihe. Dies trifft sich umso glücklicher, als kurz darauf eine andere Lebensform der Amhersterin in Deutschland an ihrem Ende anlangt: die Schutzfrist amerikanischer kulturpolitischer Förderung läuft aus. Die Mainzer Übersetzung eines amerikanischen literarhistorischen Standardwerkes, der Literary History of the United States, als Literaturgeschichte der Vereinigten Staaten (1959) schließt Übersetzungen von einer Briefstelle und 12 Gedichten bzw. Zeilen aus ihnen und deren Originaltext ein, der dem einschlägigen Kapitel des amerikanischen Werkes (21953) beigegeben war.
Von nun an vergeht bis 1965 beinahe kein Jahr, ohne daß nicht ein Deutscher völlig aus eigener Kraft an der Einbürgerung des überseeischen Gastes in die deutsche Übersetzungsdichtung weitergearbeitet hätte. Karl Berisch steuert zwei Übertragungen, „Abend“ und „Die Blätter tönten mir ins Ohr“, zu Reinhardt Jasperts Lyrik der Welt. Dichtungen des Auslandes (1960) bei. Den Schritt von einer ,Lyrik des Abendlands‘ zu einer ,Lyrik der Welt‘ hat damit Emily Dickinson im Rahmen des deutschen Übersetzungsschrifttums erneut vollzogen. Die Wertung des Originals, die sich in beiden Einordnungsprinzipien, vor allem aber im zweiten ausspricht, wird freilich den deutschen Leser nicht völlig überzeugen. Sie ruht nämlich auf einer viel zu schmalen textlichen Grundlage. Solche Schmalheit wäre nicht hinderlich, wenn dem Leser Emily Dickinson schon vorher aus einer wirklich umfassenden deutschen Auswahl oder gar aus einer deutschen Gesamtausgabe bekannt geworden wäre. Aber gerade dieser Umfang des durch Übersetzung Bekannten wächst in den 1960er Jahren nur langsam. Einen beträchtlichen Anteil an solcher Weitung der Leserkenntnis und der Vertiefung des Leserverständnisses hat Paul Celan (geb. 1920). Mit ihm versetzt sich zum ersten Mal nach Georg von der Vring ein deutscher Lyriker, diesmal ein Lyriker der jüngeren Generation, nachbildend in die Welt der Amhersterin. „Emily Dickinson: Acht Gedichte“, eine Auswahl, die Die Neue Rundschau 1961 abdruckt, bildet den bisherigen Höhepunkt in Deutschlands sprachkünstlerischer Auseinandersetzung mit Neuenglands größter Dichterin. Für Celan mag dieser Versuch einer ,deutschen‘ Emily Dickinson als damals wohl noch unbewußte Vorbereitung auf ein klassisches Ziel deutschen Übersetzerehrgeizes, Shakespeares Sonette, gedient haben. Auf „Emily Dickinson: Acht Gedichte“ folgten nämlich sechs Jahre darauf William Shakespeare: Einundzwanzig Sonette. Deutsch von Paul Celan als selbständige Veröffentlichung, wenn auch als Band einer bekannten Reihe, der Insel-Bücherei.
Dem einen, von Celan markierten Höhepunkt der Bemühungen, die Lyrik der Amerikanerin für die deutsche Sprache zu gewinnen, entspricht im gleichen Jahr 1961 ein anderer. Er liegt in der Schweiz. Der für moderne Dichtung besonders aufgeschlossene Züricher Verlag Die Arche veröffentlicht aus dem Nachlaß des Maler-Dichters Robert E. Konrad (geb. 1926), den eine Naturkatastrophe mit 25 Jahren aus dem Leben gerissen hatte, den Sammelband Dichtung und Bild. Er enthält „Emily Dickinson: Auswahl aus zwölf Übertragungen“ und unter den „Bildern im Text“ die verkleinerte Abbildung des Holzschnittes „Emily Dickinson“; die rechte mit der linken Seite vertauscht, erscheint dieselbe Abbildung auf dem Umschlag des Buches. Das Lesepublikum erfährt also erst 1961, daß Konrad schon zwischen Ende 1948 und Herbst 1949 zwölf Gedichte der Amhersterin übersetzt und in seiner Zeitschrift Essence hat drucken wollen.

Nun, ich habe mir einen Plan zurechtgelegt, den ich mit allen Mitteln durchzusetzen gedenke: Ich drucke und binde und vertreibe meine und fremde Gedichte selbst… Bis im Herbst werde ich die Übersetzung von ungefähr zwölf Gedichten der Amerikanerin Emily Dickinson beendet haben, die ich als zweites vorsehe…

schrieb er am Neujahrstag 1949 an seinen Bekannten Albert Bettex, den späteren Herausgeber des Sammelbandes. In merkwürdiger Weise berühren sich hier die Geschicke von Miss Dickinson und Dr. Williams erneut: inmitten des deutschsprachigen Übersetzungsschrifttums. Ein 23jähriger Züricher entdeckte für sich die Fremde, innerlich so Nahe aus Massachusetts, brachte ab Dezember 1950 eine kurzlebige Zeitschrift heraus und kam mit 25 Jahren um; ein 24jähriger Karlsruher, Rainer Maria Gerhardt (geb. 1927), stieß rund zwei Jahre nach Konrads Begegnung mit Emily Dickinson auf den fremden Arzt aus New Jersey, war ebenfalls Begründer einer Zeitschrift von nur kurzer Dauer und starb mit 27 Jahren von eigener Hand. Junge Menschen aus der Südwestecke des deutschen Sprachraums, Lyriker unter dem Eindruck der frühen Nachkriegsjahre, gehören zur zweiten Generation der spontanen Vermittler beider amerikanischer Versdichter.
Die fünf Gedichte, die Bettex ausgewählt hat, hat er zusammen mit den Originalen abgedruckt. „I was the slightest in the house“, „I hide myself within my flower“, „A wife at daybreak I shall be“, „Bring me the sunset in a cup“ und „Safe in their alabaster chambers“ verraten – mit Ausnahme des letzten Gedichtes –, wie persönlich die Auswahl ist, die Konrad aus Emily Dickinsons Lyrik getroffen hat. In dem Jahr, das der Publikation des Nachlaßbandes folgt, greift Georg von der Vring erneut in den deutschen Einbürgerungsvorgang der überseeischen Autorin ein. In Angelsächsische Lyrik aus sechs Jahrhunderten (1962) legt er drei weitere Übertragungen vor.
München bewährt die Gastlichkeit seiner Verleger für Emily und ihre deutschsprachigen Dolmetscher aufs neue, wenn es als vierten unter den Dichtern des deutschen Sprachraums Konrads Landsmann, den St. Gallener Hans Rudolf Hilty (geb. 1925), als Wegbereiter einer Wegbereiterin, ja zweier Wegbereiter einlädt. Seine Anthologie documenta poetica/englisch/amerikanisch (1962) beherbergt nämlich Emily Dickinson und Williams unter einem Dach. Von der Lyrik der Neuengländerin nimmt er zwei Übertragungen „Ich war die Geringste im Haus“ und das so konkret wie märchenhafte Meeresgedicht „Ich brach füh auf, mit meinem Hund“, samt den Originaltexten auf. Die eine der beiden Verdeutschungen greift auf Konrad zurück, die andere hat Franz Peter Künzel geschaffen. Für Hilty, den Generationsgefährten Konrads, ,dokumentieren‘ also die Verse der Patriziertochter aus Amherst genau so authentisch wie die des ,first native-born‘ aus Rutherford den Weg der abendländischen Dichtung in die Moderne.
Diesem durch Hilty vermittelten Anstoß aus dem Ausland, aber aus gleichem Sprachraum ging ein Jahr zuvor ein Anstoß aus fremdsprachigem, britischem Ausland voraus und wieder leitet ihn das Münchener Verlagsleben weiter. Auf dem Umweg über die Eindeutschung von Marcus Cunliffes The Literature of the United States (1954; Amerikanische Literaturgeschichte, 1961) kommen zwölf Gedichte oder wenigstens Einzelverse aus ihnen, die als Belege der literarhistorischen Darlegung dienen, originalsprachlich und deutsch in die Hände des deutschen Lesers.
Der schon wiederholt angewandte Zuordnungsgesichtspunkt der ,religiösen Lyrik‘ und der mindestens bereits einmal genutzte der ,Frauenlyrik‘ bleibt in den 1960er Jahren in Kraft. Wipfel des Menschen. Religiöse Lyrik der Welt nimmt 1964 drei Gedichte der Neuengländerin auf, die Kurt Rüdiger – zusätzlich zu den beiden 1952 und 1955 übersetzten – verdeutscht hatte. Derselbe Übersetzer, der mitunter die Verhaltenheit des Originals ins Gefühlige auflöst, ist in der Sammlung Das Spinnjahr, Frauenlyrik der Welt (1965) vertreten. Das Nebeneinander von Rüdiger und Celan macht mit fast komischer Deutlichkeit klar, welche verschiedenen Künstlertemperamente auf Emily Dickinsons Lyrik ansprechen und mit welcher sprachlichen Angemessenheit dem Anruf des Originals geantwortet wird. Ein eingehender kritischer Vergleich deutscher Übersetzerleistungen gehört nicht in eine Teilstudie, für welche die Interpretation von Miss Dickinsons Werk im Mittelpunkt steht und seine Rezeptionsgeschichte nur einer ersten Orientierung dienen will. Außerdem liegt eine solche kritisch vergleichende Analyse bereits in der Untersuchung Sabine Reitmayers vor.
Erst wenn man jene acht Übertragungen Paul Celans oder jene insgesamt zwölf Julius Babs, ja selbst wenn man die sechsunddreißig und fünfzig Übertragungen Lola Gruenthals und Maria Mathis gegen das originale Gesamtwerk von fast 1.800 Gedichten stellt, spürt man bei aller Genugtuung über die gewachsene Übersetzerlust ein Mißverhältnis: es klafft zwischen übersetztem Bruchteil und noch zu übersetzendem fast Ganzem. Das Mißverhältnis wird noch ärger, wenn man die Einverleibung Emily Dickinsons mit der Walt Whitmans in die deutsche Sprache quantitativ, aber auch qualitativ vergleicht. Aufs Ganze von vier Jahrzehnten gesehen, ist der Umfang deutscher Übersetzerarbeit an einem so lockenden wie durch Knappheit und Mehrdeutigkeit zunächst abweisenden, dann aber zu immer neuer Werbung herausfordernden Werk nicht erheblich.
Denselben Eindruck einer gewissen Stetigkeit, aber eines ziemlich späten Einsetzens, einer erst allmählich zunehmenden Intensität und eines im ganzen gering gebliebenen Ausmaßes vermitteln solche deutschen Sammelwerke, die weder Übersetzungen, noch Originale und Übersetzungen, sondern Nachdrucke der amerikanischen Originaltexte bieten. Sie sind meistens für den deutschen Schul- und Hochschulgebrauch gedacht. Eine Art Vorsignal haben solche Dickinson-Nachdrucke im vereinzelt gebliebenen Zitieren zweier Originaltexte, des Gedichtes „The soul selects her own society“ im „Amerikanischen Brief“ der Monatsschrift Die Literatur (1925) und der mit „Each life converges to some centre“ beginnenden Verse in Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie (1928). Nicht nur Poe, sondern auch die sich geheimnisvoll abschließende Patrizierstochter aus Amherst reizt zu psychologischer Deutung, und als Ansatz dient ihr lyrisches Werk. Es erscheint auch einem amerikanischen Germanisten, „der von Kind auf in Amerika zu Hause ist“, so wesentlich für „die amerikanische Dichtung der Gegenwart“, daß er in seinem kleinen Buch gleichen Namens (1930) vier Originalproben zur Veranschaulichung auswählt. In dieser vermittelnden Rolle, die die amerikanische Germanistik vor dem Zweiten Weltkrieg spielt, sollte sie von der Amerikanistik der Vereinigten Staaten erst nach 1945 abgelöst werden.
Den literarkritisch oder psychologisch interessierten Verbreitern von Teilen des Originalwerkes folgen die pädagogisch orientierten langsam, aber stetig. Hans Zehrers English and American Poetry (o. J.) enthält als eine der frühen Schulanthologien nach 1945 immerhin vier,9 Josef Raiths American Poetry, I. The Eighteenth and Nineteenth Centuries (1949) sogar neunzehn ihrer Versschöpfungen; selbst noch das kleine Heft Three Centuries of American Verse (1961?) des gleichen Herausgebers schließt ihrer sechs ein.10 The Word Sublime. Poetry of the English-Speaking Communities (1962) nimmt ebenfalls sechs Gedichte auf. Im gleichen Jahr 1966 öffnen sich sowohl die Schulausgabe Book of English Verse als auch die Neuauflage einer bekannten Hochschulanthologie unter leicht verändertem Titel, British and American Classical Poems, der Lyrik der Amhersterin.11 Aber ihnen allen war der avantgardistische Münchener Kurt Wolff Verlag weit vorausgeeilt. Der 1923 bei ihm, dem Verleger Werfels und Kafkas, veröffentlichte Sammelband American Poets: An Anthology of Contemporary Verse, herausgegeben von der New Yorker Lyrikerin Leonora Speyer, bezog ihre Landsmännin aus Neuengland ein. Den gleichen Kunstverstand besaß ein Jahrzehnt später der Hamburger Albatross Verlag. The Albatross Book of Living Verse (1933), vom unermüdlichen Anthologisten Louis Untermeyer zusammengestellt, berücksichtigte Miss Dickinsons Werk mit acht Proben.12 Aber in diesen beiden Sammelwerken zehrte der deutsche Leser vom Weitblick amerikanischer, nicht einheimischer Herausgeber. Ihre Empfangsbereitschaft war im Grunde so zurückhaltend wie die der frühen deutschen Übersetzer.
Ähnlich abwartend verhielten sich die  F o r s c h e r  und  K r i t i k e r. Nur eine Dissertation aus dem deutschen Sprachraum, Elisabeth Granichstaedten-Czervas Bildersprache bei Emily Dickinson (Wien, 1940) taucht bis 1955 in den einschlägigen Bibliographien auf. Soviel hatte bis 1953 auch die junge Amerikanistik der Türkei anzubieten!13 Noch zwischen 1956 und 1965 wagte sich keine der bibliographierten Hochschulschriften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz an irgend einen weiteren Aspekt des Gesamtwerkes. Es entspricht in gewisser Weise der wegebahnenden Leistung der Schulanthologisten, daß sich auch in Forschung und Kritik die ersten Annäherungen an das Schaffen dieser scheinbar so fernen Amerikanerin aus dem oberen Connecticut-Tal gerade dort vollzogen, wo dem Unterricht gedient werden möchte. Hans Combecher legte in Muse in America feinsinnige Interpretationen von „To make a Prairie“, „Indian Summer“, „I never lost as Much“ and „I never saw a Moor“ vor, Franz H. Link trug seine verständnisvolle Auslegung von „Vier Gedichten Emily Dickinsons“ zur Neuphilologenzeitschrift Die Neueren Sprachen (1954) bei. An der gleichen Traditionsstätte des Erfahrungsaustausches zwischen Schule und Universität erschien 1963 Teut Rieses schon in der ,Einführung‘ erwähnter Beitrag „Emily Dickinson und der Sprachgeist amerikanischer Lyrik“. Ebenfalls 1963 steuerte der gleiche Verfasser im umfassenden Rahmen des „Gestaltungsprinzips der Konkretion in der neueren amerikanischen Lyrik“ Nachdenkliches zu Weltsicht und Sprachkunst der Neuengländerin bei.14
Innerhalb der deutschen Literaturgeschichtsschreibung hatte sich die Aufmerksamkeit für Miss Dickinsons Dichtung verhältnismäßig früh geregt. Ewald Flügels Die nordamerikanische Literatur (1907) widmet ihr zwei Seiten und „hebt sie als ,ein Talent sehr hohen Ranges‘ hervor“, ein Urteil, das „für die Literaturgeschichtsschreibung jener Zeit sehr ungewöhnlich ist“. Die Aufmerksamkeit bleibt stetig und läßt sich über Fischer und Schirmer bis zu Lüdeke und Ursula Brumm verfolgen.
Die spärliche wissenschaftliche Rezensionstätigkeit kann in den ersten zehn Nachkriegsjahren immerhin eine hervorstechende Besprechung verbuchen: Ruth Schirmer-Imhoffs Kritik der Neuausgabe (1951) von Mabel Loomis Todds Letters of Emily Dickinson (11894).15
Unter den  n i c h t – f a c h g e b u n d e n e n  Z e i t s c h r i f t e n  leistet wieder das deutsch-amerikanische Organ Der Westen von Chicago aus Vermittlerdienste. Sein schon als Erstübersetzer erwähnter Beiträger. A. E. ist wohl der erste Interpret und Kritiker, der Emily Dickinson mit der Droste vergleicht. In der deutschen Heimat informiert Die Literatur im Januar 1925 ihre Leser kurz „über die amerikanische Dickinson-Begeisterung des Jahres 1924 und über Madame Bianchis The Life and Letters of Emily Dickinson des gleichen Jahres. Solche Informationstätigkeit überlebt den Zweiten Weltkrieg. Fast genau zwei Jahre nach seinem Ende, im April 1947, taucht die Fremde aus Übersee wieder auf. In jener Zeit des geistigen Heißhungers druckt eine Neugründung, die „Kulturzeitschrift“ Prisma, schon in ihrem ersten Jahrgang eine kurze Würdigung, „Emily Dickinson“, von Joseph Frank ab. In den späten 1950er Jahren ist Merkur, auch hier wie schon früher bei Henry James, F.S. Fitzgerald, T.S. Eliot, amerikanischer space fiction und den Beatniks sich als Vermittler zwischen Neuer und Alter Welt bewährend, wohl eines der wenigen literarischen Organe, die sich um die Einbürgerung der Neuengländerin bemühten. Kurt Oppens’ ,,Emily Dickinson: Überlieferung und Prophetie“ (1960) verdient in diesem Zusammenhang rühmende Hervorhebung. Erheblich summarischer fällt ein Beitrag von Werner Vordtriede zu Neue Deutsche Hefte (1959) aus; sein Titel nutzt erneut, freilich schlagworthaft, eine Vergleichsmöglichkeit, die schon Der Westen um die Jahrhundertwende erkannt und fünfzig Jahre später eine knappe biographische Notiz in Lyrik des Abendlands wiederaufgenommen hatte. Kurzbeiträge zu Welt und Wort (1959) und zu Die Bücherkommentare (1959) beschränken sich auf Rezensionen von Ausgaben übersetzter Gedichte.16 So gibt es, aufs ganze gesehen, gegenüber der festen wissenschaftlichen Überlieferung französischer und italienischer Dickinson-lnterpretation und -Kritik, wie sie etwa Jean Catel, André Maurois, Emilio und Giuditta Cecchi, Glauco Cambon und Sergio Baldi vertreten,17 auf deutscher Seite noch manches nachzuholen.
Daß mir in den Breiten des deutschen literarischen Bildungsbewußtseins noch in den frühen 1960er Jahren bei einem geübten Übersetzer britischer und amerikanischer Prosakunst die Vorstellung begegnete, Emily Dickinson sei eine Art Grandma Moses der amerikanischen Lyrik, sei nicht als Kuriosum vermerkt, sondern als Anzeichen, wie wenig die gediegenen Dickinson-Abschnitte deutscher und ausländischer, ins Deutsche übersetzter Geschichten der amerikanischen Literatur bisher echter Bildungsbesitz geworden sind. Das ,Ländlich-Sittliche‘, der Kontinent der Naturtalente und Naturburschen: auch dieser wohlbekannte Aspekt des deutschen und nicht nur des deutschen Amerikabildes hat die Geschicke der bedeutendsten amerikanischen Lyrikerin bei uns, mehr oder weniger verschwiegen, mitbestimmt.
Zu solchen ernüchternden Ergebnissen eines ersten, zugegebenermaßen lückenhaften Rundblicks paßt es, daß unter den zahlreichen Studien zur deutschen Aufnahme amerikanischer Dichtung, etwa der Werke Irvings, Coopers, Emersons, Longfellows, Poes, Melvilles oder Whitmans, die entsprechende Untersuchung über „Emily Dickinson in Deutschland“ fehlt.18
Der Ansporn, den die amerikanische Dickinson-Forschung der deutschen hätte geben können und manchmal tatsächlich gegeben hat, wäre wohl stetiger gewesen, wenn sie selbst der -freilich späten und schrittweisen – Veröffentlichung des handschriftlichen Nachlasses gegenüber eine einheitlichere Haltung eingenommen hätte. Von Mark Van Dorens „one of the great poets of the world“19 bis zum Urteil ihres neuengländischen Landsmannes Austin Warren, „an… uneven village poet“,20 reicht noch in unserer Zeit die Skala kritischer Äußerungen. So erstaunt es nicht, daß weder Charles Feidelsons Symbolism and American Literature (1953) dieser Meisterin bild- und symbolkräftiger Sprache gedenkt noch ein repräsentativer amerikanischer Forschungsbericht wie Floyd Stovalls Eight American Authors (1956) Miss Dickinson zu jenen ,acht Autoren‘ zählt. „… and with this decision one is driven to concur, with some regret in the case of Dickinson“ gesteht ein kenntnisreicher Literaturwissenschaftler wie Lewis Leary noch 1958.21 Was ihr nach dem Urteil vieler Amerikanisten ihres Landes an erstklassigem künstlerischem Rang abgeht, gleicht sie nach der Meinung eines hervorragenden amerikanischen Slavisten und Stilwissenschaftlers, Roman Jakobson, durch lebendige Wirkung auf die heutige Nachwelt aus:

Literary studies with poetics as their focal portion, consist like linguistics of two sets of problems: synchrony and diachrony. The synchronic description envisages not only the literary production of any given stage but also that part of the literary tradition which for the stage in question has remained vital or has been revived. Thus, for instance, Shakespeare on the one hand and Donne, Marvell, Keats, and Emily Dickinson on the other are experienced by the present English poetic world, whereas the works of James Thomson and Longfellow, for the time being, do not belong to viable artistic values.22

Daß solche lebendige Wirkung gerade auch auf die Dichter des heutigen Amerika überspringt, bezeugen Aiken und Tate wie Wilder und Brinnin, besonders aber Richard Wilbur und Adrienne Rich.
Auf ähnliche Schwankungen der Meinungsbildung stößt man auch bei britischen Forschern und Kritikern. Von Andrew Langs abschätzigem Urteil am Ende des 19. Jahrhunderts lassen sie sich bis zu Geoffrey Moores und Dennis Wellands hellsichtiger, abwägender Haltung in den fünfziger und sechziger Jahren unseres Jahrhunderts verfolgen.23 Die von europäischen Betrachtern amerikanischer Dichtung nicht ungern ergriffene Hand britischer Kritik kann diesmal also wenig Hilfe gewähren.
Die Situation, einerlei ob man sie vom deutschen, amerikanischen oder britischen Standpunkt ansieht, hat für uns indes ihr Gutes: der begangenen Wege in die lyrische Welt dieser ,umstrittenen‘ Amerikanerin sind zwar schon viele, aber ausgetreten ist noch keiner, und an weglosem Gelände scheint es auch nicht zu mangeln. Dazu sind die Vorgänger und Weggefährten, Literaturgeschichtler und -kritiker wie George F. Whicher, F.O. Matthiessen, Henry W. Wells, Stanley T. Williams, Richard Chase, Thomas H. Johnson, Charles R. Anderson, Theodora Ward, Clark Griffith, Albert J. Gelpi, David T. Porter, David Higgins,24 Dichter-Kritiker wie Marianne Moore, Allen Tate, R.P. Blackmur, Yvor Winters, Hart Crane, Archibald MacLeish, Louise Bogan, John Ciardi, Malcolm Brinnin, Richard Wilbur, Elizabeth Jennings,25 Soziologen wie Max Lerner,26 mannigfaltig und anregend genug. Unser Weg wird ein dem Philologen eigener sein: ein schlichtes Interpretieren einiger ausgewählter Sprachkunstwerke, ein Fragen nach ihrer stellvertretenden Gültigkeit für ein umfassendes Gesamtschaffen, ein Tasten nach ihrem Aussagewert über Amerika und vielleicht nicht nur über Amerika, sondern über die conditio humana und damit auch  u n s e r  Menschsein.

 

II. Technik

Die erste Textprobe stammt aus dem Jahr 1862 oder seiner Nachbarschaft27 und gilt Emily Dickinsons künstlerischer Auseinandersetzung mit einer Grundmacht des 19. Jahrhunderts, der Technik.

I like to see it lap the Miles –
And lick the Valleys up –
And stop to feed itself at Tanks –
And then – prodigious step

Around a Pile of Mountains –
And supercilious peer
In Shanties – by the sides of Roads –
And then a Quarry pare

To fit it’s sides
And crawl between
Complaining all the while
In horrid – hooting stanza –
Then chase itself down Hill –

And neigh like Boanerges –
Then – prompter than a Star
Stop – docile and omnipotent
At it’s own stable door
28

Gehen wir bei der Gedichtsauslegung vom Auffälligsten aus! Was sich einem sofort einprägt, ist die Umsetzung eines technischen Vorgangs in einen tierischen, eine Umsetzung, die fast stetig durchgehalten wird; die in der ersten Zeile mit  l a p  t h e  M i l e s  beginnt und in der letzten mit  s t a b l e  d o o r  endet. Die Lokomotive wird von der – sicher durch ,the iron horse‘ der scherzhaften Umgangssprache angeregten29 – Phantasie auf die vorausgehende Stufe des Verkehrs, die Stufe des Pferdes, zurückversetzt und damit vertraut und harmlosgemacht. Das ,Dampffroß‘, der ,Kilometerfresser‘, die ,Pferdestärken‘ (horse power) zeigen denselben Verbildlichungsprozeß im deutschen halbpoetischen oder ironischen Stil und in der internationalen Fachsprache.
Die ,Vertierung‘ der Maschine beherrscht die erste Strophe, in der zweiten setzt die Vermenschlichung ein: das hochmütige Hineinschauen des Reichen in die Hütten der Armen, das Zurechtschneiden eines Geländehindernisses, als ob es sich um die Garderobensorgen einer Frau handelte. Vermenschlichung und Vertierung gehen am Anfang der dritten Strophe ineinander über; To fit it’s sides kann sich nämlich auf beides beziehen: den Leib der Frau, die Flanke des Pferdes. Die dritte Zeile der dritten Strophe drückt in Complaining noch einmal das Vermenschlichte der Maschine aus. Von der fünften Zeile der gleichen Strophe an drängt sich das Tierhafte, Pferdhafte, erneut vor.
Nun beginnt das Bildhafte in zweiter Potenz: der pferdhaften Metapher neigh wird der biblische Vergleich like Boanerges mitgegeben:

And he goeth up into a mountain, and calleth unto him whom he would: and they came  u n t o  him.
And he ordained twelve, that they should be with him, and that he might send them forth to preach,
And to have power to heal sicknesses, and to cast out devils:
And Simon he surnamed Peter;
And James the  s o n  of Zebedee, and John the brother of James; and he surnamed them Boanerges, which is, The sons of thunder:
30

Der Vergleich erinnert zugleich an die großmäulige Feldherrngestalt in Bunyans allegorischer Erzählung The Holy War (1682). Dem biblischen Vergleich von literarischer Anspielungskraft folgt, von The sons of thunder vorbereitet, der kosmische Vergleich prompter than a Star. Dieser Eilritt der Phantasie von der Technik zur Bibel, dann – bei Miss Dickinsons Kenntnis von The Pilgrim’s Progress nicht unmöglich – zu Bunyans religiöser Erzählkunst, von dort zum Walten des Naturgesetzes im Kosmos kommt zum gemächlichen Ende beim Bildhaften wieder in erster Potenz: vor der Stalltür des Lokomotiventiers.
Die Mannigfaltigkeit der Bildphantasie und das Tempo des Bilderwechsels sind die beiden engverwandten Züge, die sich dem Hörer oder Leser dieser Verse zuerst einprägen. Sie scheinen das Schillernde am Wesen der Maschine und ihre Geschwindigkeit auszusagen, ein Schillern zwischen der anheimelnden Ähnlichkeit mit dem vertrauten Haustier, der gar nicht anheimelnden Ähnlichkeit mit jenem ,Donnersohn‘, der bei Bunyan außerdem noch die Stadt und die Feste Mansoul, ,Menschseele‘, bedrängt, und schließlich einem unheimlichen Zug an dieser Erscheinung der Maschine: ihrer Naturgesetzlichkeit, die sie als Menschenwerk mit dem Kosmos verbindet, die den menschlichen ,Schöpfer‘ der Maschine dem göttlichen Schöpfer des geordneten Weltalls ähnlich macht, ja eine Gesetzlichkeit, die an ,Promptheit‘ die des Kosmos übertrifft: prompter than a Star.
Doch das Wesen der Maschine wird nicht nur im Bilde ausgesagt, sondern dazu im Paradox, das komisch und unheimlich zugleich ist:

Then – prompter than a Star
Stop – docile and omnipotent

Star/Stop: Hier folgt, nur durch leichten Einschnitt am Zeilenende gebremst, Nicht-Zusammengehöriges aufeinander; Sterne ziehen ihre Bahn und halten nicht inne. Das Paradoxe in der Bildschicht des Gedichtes verstärkt sich in den Schichten des Klanges und des Aufbaus. Star und Stop werden durch Alliteration aneinander gebunden; die Stellung von Star am Ende der Zeile, von Stop am Anfang der nächsten Zeile, also das diagonale Gegenüber im Aufbau der Strophe, betont erneut den Bezug der beiden Glieder des Paradoxon aufeinander.
Diesem ersten Paradox folgt sofort ein zweites: docile and omnipotent. Dem ersten lag die Frage zugrunde: Wie kann die Maschine, ein Menschenwerk, ,prompter‘ sein als ein Stern, als ein Gotteswerk? Das zweite Paradox zehrt von einer unheimlichen Ahnung: die Maschine ist ,gelehrig‘, fügt sich ihrem menschlichen Erbauer. Aber schlummert nicht in ihr eine ,Allmacht‘, die den Menschen überwältigen könnte? Die Maschine  ,d i e n t‘  dem Menschen – so lautet die eine berühmte Formel unserer Zivilisation; ,Arbeiter gesucht zum  B e d i e n e n  einer Maschine‘ – so heißt eine andere Formel in unserer deutschen Sprache, und was sich in ihr verrät, sieht dem omnipotent unseres Gedichtes schon erheblich ähnlicher.
Das Paradox hat eine verstandes-, aber auch eine stimmungsmäßige Seite, und diese letztere gehört dem umfassenden Bereich des Komischen an. Der Stimmungsgehalt des Komischen lebt indes nicht nur vom Paradox der vierten Strophe. Komischen Einschlag trägt schon die zweite:

And supercilious peer
In Shanties – by the sides of Roads –

Das Komische und zugleich leicht Unheimliche, das dem Paradox der vierten Strophe anhaftet, bricht bereits in der dritten durch:

Complaining all the while
In horrid – hooting stanza –

Das Tuten der Lokomotive gleicht in seiner sich wiederholenden, durch Pausen markierten Regelmäßigkeit dem Klangleib der Dichtung, ihrem strophischen Aufbau (stanza). Aber diese Geordnetheit ist horrid, eben nicht anmutig wie in der Poesie. Prompter than a Star, horrid stanza: unheimliche Übertrumpfung der Naturordnung dort, unheimliche Verkehrung der Kunstordnung, der Dichtung, hier.
Es liegt etwas Schneidendes in solcher Mischung von Komik und Unheimlichkeit. Auf die gleiche disharmonische Gefühlswirkung ist die Klangform dieses Gedichtes abgestimmt. Die Dissonanzen am Ende der jeweils zweiten Zeile in der ersten, zweiten und vierten Strophe, ferner der dritten und fünften Zeile in der dritten Strophe sind unüberhörbar: up:step, peer:pare, Star:door, while:Hill. Hier herrscht nicht reiner Reim, sondern „suspended rhyme“;31 ungleichem Vokal folgt gleicher Konsonant oder Vokal (wie z.B. der retroflexe r-Vokal in peer:pare und Star:door). Dieses Hintereinander von klanglicher Gleichheit und minimaler Ungleichheit löst das Gefühl des fehlenden  v o l l e n  Gleichen aus. So wenig wie der Reim hat der Rhythmus Glättendes, Verbindliches an sich. Das Überwiegen einsilbiger Wörter, die manchmal ganze, häufig fast ganze Zeilen füllen, wie z.B.

I like to see it lap the Miles –
………………………………………
To fit it’s sides

aaaaaaaaaa– – –

And lick the Valleys up –
And stop to feed itself at Tanks –
………………………………………

In Shanties – by the sides of Roads –
And then a Quarry pare
………………………………………

And crawl between
………………………………………

Then chase itself down Hill –
………………………………………

Then – prompter than a Star
………………………………………

At it’s own stable door –

verleiht dem Rhythmus etwas Stampfendes, Staccato-, nicht Legatohaftes.
Der Satzbau gibt sich seinerseits alles andere als elegant. Ohne ,elegant variation‘ wird ein einziges Satzgefüge durch sämtliche 17 Zeilen durchgeführt, kunstlos hauptgegliedert durch einfache Reihung, die lediglich zwischen and, and then bzw. then wechselt. So tritt zum Disharmonischen, das aus dem Schillern der Bildwelt, den Paradoxa, dem Stimmungsgehalt und der Klangform spricht, das scheinbar Primitive der Syntax.
Der Strophenbau trägt ebenfalls zu dem Eindruck fehlender Harmonie bei.32 Die Ordnung des Vierzeilers, die zwei Strophen lang herrscht, wird in der dritten durch einen Fünfzeiler unterbrochen, jedoch in der vierten Strophe wiederhergestellt.33 Die silbische Füllung setzt in der ersten Strophe als Common Meter,34 als regelmäßiger Wechsel von Acht- und Sechssilbler ein, verkürzt sich im ersten Zeilenpaar der zweiten Strophe zum Wechsel von Sieben- und Sechssilbler, gewinnt im zweiten Zeilenpaar den anfänglichen vollen Umfang zurück, schrumpft abermals, und zwar beträchtlicher, am Eingang zur dritten Strophe, deren erste beide Zeilen nur noch Viersilbler sind, wächst wieder zum Sechs-, sodann zum Siebensilbler, um in dieser dritten Strophe mit einem Sechssilbler auszuklingen. Die vierte Strophe zeigt dasselbe Muster der silbischen Füllung wie die zweite: dem Wechsel von Sieben- mit Sechssilbler folgt das Grundmuster von Eights and Sixes.35
Solche Störung der ,Ordnung‘, wie wir sie in der Zeilenzahl der Strophe und in der silbischen Füllung der Zeile wahrnahmen, erfolgt auch im Versmaß, am ausgeprägtesten in der Schlußstrophe. Der steigende, jambische Rhythmus, der bis zur zweitvorletzten Zeile fast die gesamte Sprechbewegung durchformt hatte, setzt am Eingang der vorletzten plötzlich aus:

Then – prompter than a Star
S t o p – d o c i l e  and omnipotent

Hatte sich bisher der dichterische Rhythmus dem natürlichen (Prosa-)rhythmus angeschmiegt, so hebt er sich jetzt von ihm scharf, durch die Zäsur noch verschärft, ab. Schwebende Betonung bei dem Vortrag dieser vorletzten Zeile kann zwar den Eindruck einer Störung des rhythmischen Grundmusters dämpfen, aber nicht beseitigen.
Jedoch gerade an dieser Stelle wird offenbar, daß die ,Störung‘ sinnvoll ist. Die unerwartete rhythmische Folge Ẋ//Ẋ/ẊX Star//Stop-docile, d.h. der Hochtonhiat am Beginn der vorletzten Zeile, mit dem „Zeilenhiat“ Star//Stop als Vorsignal, bringt dem Hörer den Wortinhalt ,stop‘ voll zum Bewußtsein. Der Fluß der jambischen Taktart, den kein schwerer syntaktischer Einschnitt gebremst hat, kommt gerade bei dem Wort stop abrupt zum Stehen, so wie die Fahrt des Zuges auf der letzten Station mit einem Ruck zu Ende ist. Ähnlich konnte dem Hörer oder Vorleser schon vorher der Wortinhalt von crawl voll bewußt werden. Die kurzen Silben To fit it’s (sides) am Anfang der 1. Zeile der 3. Strophe im Gegensatz zu den langen Silben and crawl (between) zu Beginn der folgenden Zeile. Ihr sichert das verlangsamte, ,dahinkriechende‘ Lesen von and crawl trotz eines fehlenden Taktes die übliche Zeilenzeitdauer.
Von solcher symbolischen Funktion der Durchbrechung des metrischen und des strophischen Schemas fällt vielleicht Licht auf den so abwechslungsarmen Satzbau des Gedichtes. Möglicherweise versinnbildet auch er. Das durchgängige, nur durch Reihung, verbundene Partizip-Gruppe und finalen Infinitiv leicht gegliederte syntaktische Gefüge könnte die bloß von kürzeren Aufenthalten unterbrochene Fahrt des Zuges zur Endstation symbolisieren.36 Was auf den ersten Blick disharmonisch oder primitiv erschien, gehorcht in Wirklichkeit dem Drang zum symbolischen Ausdruck.
Der Eindruck der Disharmonie im Versmaß dämpft sich, sobald man ihre symbolische Bedeutsamkeit begreift. Besteht er zu recht voll weiter, wo er sich auf Bildersprache, Paradoxa, ,suspended rhyme‘, Strophenbau und silbische Füllung der Zeile stützen konnte? Tatsächlich erfährt er auch hier eine Dämpfung, zwar nicht durch die symbolisierende Kraft der Sprache, sondern durch die Perspektive des Sprechenden. I like to see it…: das erste Wort in diesem Gedicht hat ein Ich, und dieser Standort wird im ganzen kleinen Werk nicht aufgegeben. Hier spricht das Ich eines Menschen, das dieses in der Anonymität des ,es‘ (it, it’s) belassene Erzeugnis der Technik „gern“ sieht, ein Ich, das sich imstande fühlt, Disharmonien auszuhalten oder gar, von ihnen ,angezogen‘, ihre „Nähe zu suchen“.37
So gestaltet sich in diesen wenigen, kurzen Zeilen eine Begegnung von Ich und Technik eine Begegnung, die sich nicht als ,Mitfahren‘, sondern als ,Sehen‘, auf Abstand, vollzieht. Freilich ist es ein Sehen, das den äußeren, mechanischen Vorgang nach innen, in die Bilder eines belebten, ja beseelten tierischen Vorgangs verwandelt. Weder  ü b e r s i e h t  es das Schillernde, ja Unheimliche am Wesen dieser Maschine noch verschweigt es ihre Faszination. Der Akt der sprachkünstlerischen Formung scheint der formenden Zweiunddreißigjährigen das Vertrauen zu geben, diese neue, spannungsreiche Welt unter Kontrolle halten zu können. Vielleicht mehr als er ahnte, hatte Volney Streamer, ein Anthologist der Jahrhundertwende, recht, wenn er, einer der ersten, drei Gedichte von Emily Dickinson in einen Sammelband aufnahm und ihm den Titel gab: Voices of Doubt and Trust.38

 

III. Natur: ein früheres Textbeispiel
Das zweite Textbeispiel entstand etwa vier Jahre später, vielleicht im November

1866.39 Es führt von Miss Dickinsons Erleben der Technik zu ihrer Erfahrung der Natur.

The Sky is low – the Clouds are mean.
A Travelling Flake of Snow
Across a Barn or through a Rut
Debates if it will go –

A Narrow Wind complains all Day
How some one treated him
Nature, like Us is sometimes caught
Without her Diadem
.40

Besonders auffällig ist diesmal die Knappheit des Ganzen: es umfaßt nur acht Zeilen. Daß auch die vorausgehende Textprobe aus nicht mehr als 17 Versen bestand, also ebenfalls schon knapp war, fiel dort weniger auf, weil ein in sich geschlossener Vorgang, die Fahrt eines Zuges bis zur Endstation, gestaltet wurde. Am jetzigen Gedicht prägt sich die Kürze wohl auch deshalb ein, weil ihm dieses leichte erzählerische Moment fehlt, weil kein Vorgang zu seinem natürlichen Ende gelangt.
Zwei hörbare Erscheinungsformen der Knappheit sind immerhin beiden Gebilden gemeinsam: die metrische Gliederung überschreitet nie vier Takte; sie wechselt – im zweiten Gedicht regelmäßiger als im ersten – zwischen Vier- und Dreitaktern. Die Takte in sich sind ebenfalls knapp: nur zweisilbige Füllung mit steigendem Rhythmus, der übrigens an der gleichen Stelle wie im Lokomotivengedicht, am Eingang der vorletzten Zeile, unterbrochen wird. Der Grund dafür – über ihn wird später zu sprechen sein – ist freilich ein anderer als im Gedicht von 1862.
W i e  bündig die Gedrungenheit des künstlerischen Ausdrucks werden kann, merkt man erst dann, wenn man über Taktart, Versart und Strophenform hinaushört und beobachtet, wie sich die Aussagekraft der Sprache jeweils auf zwei, manchmal sogar auf drei Ebenen bewegt. The Sky is low –: low wirkt sachbeschreibend und gefühlserregend zugleich; the Clouds are mean: mean kann beschreibend sein und „auf mittlerer Höhe dahinziehend“ bedeuten; es kann außerdem wertenden Einschlag haben und „gewöhnlich“ oder „armselig“, „schäbig“ meinen, Nuancen, die durch die Assoziation von low/mean nahegelegt werden.

A Travelling Flake of Snow
Across a Barn or through a Rut
Debates…

Der Ansatz ist wirklichkeitsbeschreibend und reicht – in Emily Dickinsons dichterischer Syntax nicht selten – auf Kosten der ,normalen‘ Wort- bzw. Phrasenstellung bis Rut. Aber die Schneeflocke, die mit der Aussicht auf zwei Wege, Across a Barn or through a Rut, ,travels‘, entfaltet sich aus der klar gesehenen, vom Hörer oder Leser leicht nachvollziehbaren Wirklichkeit zum Sinnbild: das winzige Leben des Einzelmenschen eine ,Reise‘, vielleicht endend in einer Lebens-,Spur‘, in einem Lebens-,Geleise‘, das er gar nicht einmal selbst gezogen hat und aus dem es kein Heraus mehr gibt. Wohl nicht zufällig klingt Rut am Ende der 3. Zeile der 1. Strophe an entsprechender Stelle, am Ende der 3. Zeile der 2. Strophe, im Halbreim caught mit seinen Bedeutungsnuancen ,ertappt‘, ,gefangen‘ wieder an.

Debates if it will go –

Nun liegt der Ansatz nicht mehr in der Wirklichkeitsbeschreibung: Jetzt erscheint ein Stück Natur vermenschlicht, ja intellektualisiert; die Schneeflocke ,debattiert‘ mit sich selbst, ob sie ,gehen‘, ,vergehen‘ ,wird‘ oder ,will‘. Der zweifache Doppelsinn ist sicher nicht Zufall. Hier wird über das metaphysische Problem des Vergehens ,debattiert‘, nicht etwa über das ,Ob‘ oder ,Ob nicht‘ des Vergehens, sondern nur über zwei Arten des Vergehens. Debatte in einer Lage, in der es im Grunde gar nicht mehr auf den ,Willen‘, auf die Entscheidung des Debattierenden ankommt, sondern eine ganz andere Macht über den Zeitpunkt des Vergehens bestimmt! Das Menschheitssymbolische der drei Zeilen erhält damit einen kräftigen ironischen Beigeschmack, der an eine bekannte Variation des gleichen Themas in den Märchen von Hans Andersen erinnert: der Zinnsoldat im Rinnstein, die Schneeflocke in der Wagenspur.
Solches vielschichtige Wirken der Sprache, als Beschreibung, Gefühlsausdruck, Doppelsinn, Symbol, ermöglicht Knappheit. ,Economy of expression‘ prägt sich auch in der Syntax aus, speziell in der Satzgruppenfügung. Sämtliche fünf Sätze, die die acht Verse bilden, stehen unverbunden hintereinander. Sparen am Bindewort zwischen Hauptsätzen oder Satzgefügen ermöglicht also ebenfalls Knappheit.
Knapp ist schließlich der Aufbau des kleinen Ganzen. Er gehorcht einem logischen Schema – völlig im Einklang mit dem Geist einer ,Debatte‘. Aus vier Specifica, die in den ersten vier Sätzen gegeben werden, wird ein allgemeiner Schluß gezogen, wobei der Übergang zur conclusio durch Taktumstellung (ẊX statt XẊ) hörbar gemacht wird:

Nature, like Us is sometimes caught
Without her Diadem.

Wie vorher ein Stück Natur, die Schneeflocke, als mit sich debattierend vermenschlicht wurde, wie ein Narrow Wind sich wegen schlechter Behandlung durch some one beklagte, mithin wieder vermenschlichende Phantasie an der Arbeit is so faßt der schlußfolgernde verallgemeinernde Zweizeiler Natur und Menschenwelten eines; ein kurzes like Us stellt die Verbindung zwischen ihnen her.
Knappheit von Zeilenzahl, Takt- und Versart, Strophenform, Syntax und Aufbauschema war das erste Merkmal, das sich uns einprägte. Die Schlichtheit der Sprache dürfte das zweite sein. Alle Worte dieses Gedichtes, mit Ausnahme von debate und Diadem, gehören der Gemeinsprache an; barn und rut bringen einen gewissen bäuerlichen Einschlag mit sich. Einfacher als mit if it will go kann man im Englischen das Problem der Vergänglichkeit wohl kaum ausdrücken. Wendungen wie is low, are mean treiben die Schlichtheit im verbalen Bereich bis zur Kopula. How some one treated him und is sometimes caught riechen förmlich nach der Umgangssprache der sozialen Tageswirklichkeit.
Einer Dichtung mit den Kennzeichen der Knappheit und Schlichtheit geht es um Wesentliches. Sie spricht in der Haltung des Enthüllens, des Scheidenkönnens zwischen Schein und Sein. Wir kennen moderne Spielarten solchen Enthüllens: die kühle, haarscharf-präzise Ironie in der frühen Lyrik T.S. Eliots, die Sarkasmen von E.E. Cummings, den unterdrückten Zorn des 45. Canto von Ezra Pounds Pisaner Gesängen, die elegant-gelehrte Kritik der Gegenwart in „E.P. Ode pour l’Élection de son Sépulchre“ in Pounds Hugh Selwyn Mauberley. Gerade weil diese Ode mit dem gleichen Bildmotiv des „diadem“ endet:

He passed from men’s memory in l’an trentiesme
De son eage; the case presents
No adjunct to the Muses’ diadem
41

hilft sie die Eigenart von Emily Dickinson’s Gedichtsschluß verdeutlichen. Sie versteht selbst noch das Enthüllen mit Anmut vorzunehmen:

Nature, like Us is sometimes caught
Without her Diadem.

Das ist mit leisem, schelmischem Lächeln gesagt. Diesem Enthüllen ist durch like Us und sometimes, vielleicht auch durch die übertreibende Großschreibung von us die Spitze genommen. Bedrückend mutet am Ende des ersten Vierzeilers das Sinnbild an: die Schneeflocke am Ende ihrer ,Reise‘ in der Wagenspur angelangt, mit wachem Verstand noch eine Sekunde vor dem Vergehen – like Us, wie es echohaft für uns nach dem Lesen oder Hören des ganzen Gedichtes vom Ende des zweiten Vierzeilers in den ersten zurückhallt. Aber gerade dieses Ende schafft auch die tröstliche Erleichterung: das Lächeln über die Natur und die von ihr versinnbildete Menschenwelt der „Wir alle“.

 

IV. Natur: ein späteres Beispiel
Vergleichen wir, wie Natur etwa 13 Jahre später, um 1879 herum, von der fast Fünfzigjährigen erlebt und gestaltet wird!

A Route of Evanescence
With a revolving Wheel –
A Resonance of Emerald –
A Rush of Cochineal –
And every Blossom on the Bush
Adjusts it’s tumbled Head –
The mail from Tunis, probably,
An easy Morning’s Ride
42

Wie Technik und Natur – eine Lokomotive und eine Schneeflocke – sprachkünstlerische Form wurden, haben wir bereits aus den beiden vorangegangenen Textproben erfahren. Einige Züge von Emily Dickinsons dichterischer Welt sind uns inzwischen vertraut geworden, so daß wir sie oder ihre Abwandlungen in diesem neuen Gedicht wiedererkennen werden. Rasch merkt man z.B. die wiederkehrende Knappheit der Aussage: der Gedichtsumfang enthält abermals nur acht Zeilen, die Zeilenlänge nur Vier- und Dreitakter. In der Syntax – mit Ausnahme eines einzigen ,normalen‘ Satzes – hat sich die Kürze durch das Fehlen jedes Prädikatverbs gesteigert. Uns ebenfalls bekannt ist der umgangssprachliche Ton, wie er in an easy Morning’s Ride oder The mail from Tunis, probably mitschwingt. Zwei weitere Züge begegnen genau so wie die Gedrungenheit der Syntax in  g e s t e i g e r t e m  Maß. Zu ihnen gehört die scheinbare Harschheit der Klangform. Der Reimlosigkeit der Eingangszeile folgt reiner Reim in der zweiten und vierten Zeile, während die dritte, fünfte und siebente die Reimlosigkeit der ersten wieder aufnehmen. Vom auslautenden d der dritten Zeile (Emerald) führt allerdings eine schwache Klangbrücke zum suspended rhyme der sechsten und achten Zeile, die ebenfalls mit d auslauten (Head:Ride). Aber schon dieses Verteilungsmuster von Reimlosigkeit, reinem und suspended rhyme ist für den Hörer ein erstes Zeichen, daß hier ein bestimmter, freilich gar nicht konventioneller Formwille den Klangleib dieses Gedichtes baut. Die Zeichen mehren sich, wenn man wahrnimmt, wie sich auch ein klangliches Bindemittel der Zeilenbinnenräume, die Alliteration von Zeile zu Zeile, die schon im Lokomotivengedicht auftauchte, nunmehr verstärkt. Route:revolving:resonance:Rush helfen die ersten vier Zeilen miteinander verweben; mit demselben Anlaut sorgt Ride als letztes Wort des Gedichtes für den klanglichen Zusammenhalt des Ganzen. Inzwischen haben tumbled und Tunis, mail und Morning’s zur Verflechtung der sechsten mit der siebenten, der siebenten mit der Schlußzeile beigetragen. Rush als erste Hebung des vierten und Bush als letzte Hebung des fünften Verses benutzen wie schon das Eisenbahngedicht suspended rhyme als Binnenreim, geben ihm aber strukturelle Funktion: er wirkt wie eine Achse zwischen den beiden Zeilen, den innersten Zeilen des Ganzen, ja, wenn man die zweitstrophige Fassung einer anderen von den insgesamt fünf überlieferten Reinschriften unseres Gedichtes zugrundelegt, zwischen den beiden – vierzeiligen – Strophen. Während Rush und Bush als ,kleine Achse‘ zwei Zeilen bzw. zwei Vierzeiler binden, läuft als ,große Achse‘ die Diagonale von Route am Anfang der Eingangszeile zu alliterierendem Ride am Ende der Schlußzeile. So enthüllt sich das Fehlen herkömmlicher Reimweise als eigentümlich sinnvolle Klangverwendung zu vielfältigem strukturellem Zweck.
Noch mehr als die – scheinbare – Primitivität der Klangform hat sich das Tempo des Bilderwechsels gesteigert, so sehr gesteigert, daß die Bilderfolge beim ersten Hören oder Lesen zusammenhanglos anmutet. Hier hilft der Titel weiter, den Emily Dickinson dem Gedicht gab, als sie es in Abschriften vermutlich zwischen Sommer 1879 und April 1883 einigen Freunden zuschickte.43 In den Begleitbriefen nennt sie es a Humming Bird, also Kolibri, jenen auch in Amerika beheimateten „sehr kleinen, bunten Vogel mit langem schlankem Schnabel und schmalen Flügeln, die schnell vibrieren und beim Fliegen ein summendes Geräusch verursachen“. Diese Definition aus Webster’s New World Dictionary of the American Language44 dient als willkommener Gegensatz zur Art des Gedichtes, einen Kolibri zu vergegenwärtigen. Von diesem ,definierten‘ Stück natürlicher Wirklichkeit erfahren wir nämlich in Miss Dickinsons Versen durch unmittelbare Beschreibung nichts. Das vorangegangene Naturgedicht von ca. 1866 nannte noch a Travelling Flake of Snow. Dreizehn Jahre später wird die sinnfällige Erscheinung nicht mehr benannt, ebensowenig, wie im Maschinengedicht von ca. 1862 die Lokomotive benannt wurde. Mit dem Blick auf unsere eigene Literatur, besonders auf ihre neueren Tiergedichte, erinnert man sich, daß Rilkes Panthergedicht45 – abgesehen von seinem Titel – genau das gleiche Verfahren des Nicht-Benennens einschlägt, wie übrigens auch die Verflechtung von Abstraktum und Konkretum (und umgekehrt) zu  e i n e r  Phrase ein kennzeichnender Stilzug beider Lyriker ist. A Route of Evanescence hat sein Seitenstück in „Tanz von Kraft“,46 „Gehöft von Gefühl“,47 so wie umgekehrt A Rush of Cochineal einen Verwandten in „der Gipfel reine Verweigerung“48 besitzt. Das Bild, die Bilderfolge sind an die Stelle der Bezeichnung, der Angabe von Merkmalen getreten. In Bildern wird versucht, das Wesen des Gegenstandes, hier des Kolibri, auszusagen. Das Ich als Gefühlsbeteiligter, das noch am Anfang des Maschinengedichtes mit I like to see it die Perspektive festlegte, ist im späten Naturgedicht ausgeschieden. In ihm ist es nur noch unausgesprochen als Sitz der Bildphantasie und in der vorletzten Zeile im dämpfenden probably zugegen. Explizit herrscht das Gegenständliche, das Objektive. Sprachliches Anzeichen dafür sind das Vorwalten des Nominalen im Ganzen und die Perspektive der dritten, abstandhaltenden Person im einzigen grammatisch vollständigen Satz And every Blossom on the Bush / Adjusts it’s tumbled Head. Selbst ein vergleichendes like Us, das sich gegen Ende des Schneeflockengedichtes einstellte, bleibt jetzt aus. Die menschliche Symbolik des Naturvorganges ist unausgesprochen, nicht ausgesprochen da.
Das Sich-Sammeln auf den Ausdruck eines Tierwesens, auf einen von jeder Sentimentalität freien Ausdruck vollzieht sich in Bildern, aber innerhalb dieser Bilder wieder verschieden je nach dem Grad der Symbolmächtigkeit.

A Route of Evanescence

– wir erinnern uns an eine Spielart dieser Metapher, die ebenfalls beides festhält: das Motiv des ,Weges‘ oder der ,Reise‘ und das Problem des ,Dahinschwindens‘, der Vergänglichkeit:

A Travelling Flake of Snow

Debates if it will
go

Seitdem ist die Sparsamkeit des Ausdrucks beträchtlich gewachsen, indem der Vorgang völlig ins Dingliche – ins Konkrete (Route), ins Abstrakte (Evanescence) – umgesetzt und jede Vermenschlichung, die in Debates lag, aufgegeben ist. Jedoch nicht aufgegeben, sondern nur noch bündiger geworden ist das Symbolische jenes Naturphänomens, des pfeilschnell vorüberfliegenden Kolibri. Daß die Eingangszeile sinnbildlich gemeint ist, wird dem Hörer oder Leser durch den Kontext, die zweite Zeile, die auf den ersten Blick nur den Eindruck der Flügelbewegung auszudrücken sucht, signalisiert:

With a revolving Wheel –

Das sich drehende Rad als Sinnbild der Flüchtigkeit des Irdischen ist herkömmlich und deshalb leichter zu begreifen als der sinnbildliche Gehalt der ersten Zeile. Das lineare Symbol des raschen Vogelflugs wird also gestützt durch das zyklische Symbol des sich drehenden Rades.
Nachdem die beiden ersten Verse das Symbolische der Bilderwelt nur kurz berührt haben – aus dem Ganzen des Gedichtes heraus möchte man sagen: nur kolibriartig angeflogen haben –, beschränken sich die beiden folgenden Verse darauf, ausschließlich Bild und nicht zugleich Sinnbild zu sein. A Resonance of Emerald bezeugt ,economy of expression‘ von einer neuen Seite: Gehörs- und Gesichtseindruck, Klang und Farbe, verschmelzen zu  e i n e r  Phrase. Hier liegt Synästhesie vor, wie sie in der abendländischen Romantik und im Symbolismus nicht selten ist. Das Phänomen des ,Widerhalls‘ wird übrigens nicht nur für unseren Verstand, als abstrakter Wortinhalt vergegenwärtigt, sondern auch für unser Ohr, als unmittelbarer Gehörseindruck, als Klang. Davon wird sehr bald in anderem Zusammenhang zu sprechen sein. Die vierte Zeile ergänzt die Synästhesie von Klang und Farbe durch die von Bewegung und Farbe: A Rush of Cochineal ,Ein Heranstürmen des Scharlachfarbenen‘, eine Sehweise, die das motorische Farbempfinden eines Van Gogh vorwegnimmt. A Resonance of Emerald gewinnt, vom fünften und sechsten Vers aus betrachtet, einen neuen Aspekt. Es beginnt nämlich innerhalb der Bildsphäre eine Methode der dichterischen Wesensaussage, die in der fünften und sechsten Zeile wiederkehrt: die Schnelligkeit des Kolibri wird nicht als Qualität des Gegenstandes, sondern durch seine Nachwirkung ausgesagt. Der Vogel selbst ist schon längst vorbeigeflogen; man merkt sein Dasein nur noch an den Folgen, dem Sich-Wiederaufrichten der Blüten. Heute, im Zeitalter des hochfliegenden, dem Auge entzogenen Düsenflugzeuges, läßt sich diese eigentümliche Darstellungsweise des schon nicht mehr Sichtbaren, aber immer noch Hörbaren mühelos nachvollziehen. Das Vorbeischwirren des Kolibri erklingt in den zahlreichen wort- oder silbenanlautenden r des ersten Vierzeilers, während es im zweiten nachhallt und im letzten Wort Ride ausklingt. Der Klang der Laute hat also nicht nur strukturelle (vgl. S. 71), sondern auch lautsymbolische Funktion.
Das Erlebnis der Schnelligkeit, das aus dieser Gestaltung spricht, ist Geist vom Geist der technischen Epoche. Das Kolibri-Gedicht trifft sich auch in diesem Punkt mit dem Lokomotivengedicht.
Daß es noch etwas Weiteres mit ihm gemeinsam hat, und zwar das überraschende, Schwerverständliche je eines Bildes, bringt uns die vorletzte Zeile zu Bewußtsein. Das literarisch Anspielungsreiche der Maschinengedichtszeile And neigh like Boanerges – wiederholt sich in

The mail from Tunis, probably,
An easy Morning’s Ride –.

Der Ton ist unmißverständlich: ein lächelnd vorgebrachter Einfall aus dem Zaubermärchen, in dem ja Entfernungen keine Rolle spielen. Das brave Dampfroß, das ,vor seiner Stalltür stehenbleibt‘, die ,Natur‘, die ,gleich uns manchmal ohne Diadem ertappt wird‘, die zauberhaft schnelle Postkutsche – mit dem intellektuellen Zusatz probably –: alle drei Gedichtsausgänge lassen spüren, daß Miss Dickinson den Schalk im Nacken sitzen hat. Ein Gedicht, das im Bildbereich der Reise meditierend-sinnbildlich begann, endet im gleichen Bildbereich der Reise, eine Gleichheit, auf die uns bereits die diagonale Stellung von Route und Ride sowie ihre r-Alliteration aufmerksam machten, und dieses Ende in der gleichen Bildsphäre ist komisch-phantastisch. So ist uns zwar der Ton des letzten Zeilenpaares klargeworden, ihr literarischer Anspielungsreichtum dagegen ist es noch nicht. Die Quelle, auf die diesmal angespielt wird, ist nicht das Neue Testament und/oder Bunyan, sondern wahrscheinlich Shakespeare. Im Gespräch Antonios, des Usurpators, der seinen Bruder Prospero vom Thron gestoßen, mit Sebastian, dem aus dem Schiffbruch geretteten Bruder des Königs von Neapel, also in einer Szene von The Tempest, heißt es:

She that is queen of Tunis, she that dwells
Ten leagues beyond man’s life; she that from Naples
Can have no note, unless the sun were post
49

Die komische Phantastik dieser Stelle muß Emily Dickinson so wahlverwandt gewesen sein, daß ihre Erinnerung sie bewahrte. So rollte anscheinend aus Shakespeares Sturm die Kutsche, zwar keine Sonnenkutsche, und auch nicht von Neapel nach Tunis, sondern von Tunis nach Amherst, Massachusetts, Emilys Heimat und Wohnsitz. Die komische, exotische Phantastik und das Motiv der Schnelligkeit waren wohl die Berührungsstellen, die einen Übergang aus The Tempest in das Gedicht vom Kolibri ermöglichten.
Ein Stück lebendiger Natur entfaltet sich in seinem Wesen realiter als sinnlicher Augenblickseindruck von Geräusch, Farbe und Bewegung, aber zugleich auch symbolisch: als Sinnbild menschlicher flugschneller Vergänglichkeit. Das metaphysische Gewicht des Symbols empfängt sein Gegengewicht in der Komik des Gedichtsschlusses.
Wie das Komische, wiederum in der Spielart des Schalkhaften, selbst in der religiösen Dichtung Emily Dickinsons seinen Platz hat, wie dieser Bereich ihrer Lyrik auch auf einen ganz anderen Ton abgestimmt sein kann, möchten die nächsten Textproben zeigen.

 

V. Gott
Warum unser Weg in Miss Dickinsons dichterische Welt das Verhältnis des Menschen zu Gott und das der Frau zum Mann gerade in dieser Aufeinanderfolge aufsucht, wird sich aus den ausgewählten Beispielen von selbst ergeben. Ein Werk unbekannten Datums eröffnet unsere Reihe der religiösen Gedichte.

Lightly stepped a yellow star
To it’s lofty place
Loosed the Moon her silver hat
From her lustral Face
All of Evening softly lit
As an Astral Hall
Father I observed to Heaven
You are punctual
50

Das Phantastische in Gestalt einer märchenhaften Vermenschlichung, das in früheren Gedichten die Lokomotive und die Schneeflocke erfaßte, ergreift jetzt Mond und Sterne, den Kosmos. Der Ausgang des Achtzeilers dagegen ist wiederum auf das Komische abgestimmt; nur schlägt das lyrische Ich diesmal den vertraulich-scherzhaften Ton selbst dem ,Vater‘, Gottvater, gegenüber an. Das Scherzhafte des Stimmungsgehaltes könnte sein klangliches Seitenstück im Reim Hall: punctual haben, wenn dieser Reim gespielt dilettantisch und nicht – wie bei Emily Dickinsons sonstiger Vorliebe für ihren Heimatdialekt wahrscheinlicher51 – regionalsprachlich echt wäre. Nur im ersten Fall würde solcher vermeintliche Dilettantismus mit dem reinen Reim der zweiten und vierten Zeile sowie mit der klanglichen Virtuosität kontrastieren, mit der das gleiche l-Motiv in den ersten fünf Zeilen alliterierend, in den ersten vier sogar im jeweils gleichen Takt (1 Lightly, 2 lofty; 1 Loosed, 2 lustral) durchgespielt wird, bis es endkonsonantisch im Diagonalreim der fünften und sechsten Zeile – All:Hall – ausklingt. Immerhin erscheint die uns heute vertraute zweisilbige Aussprache52 schon in einer handschriftlichen Variante des Lokomotivengedichtes und zwar gerade im Zusammenhang mit dem Motiv des Sternenaufgangs: Then – punctual as a Star.53 Es spricht also doch einiges für die Annahme eines Reimscherzes als eines klanglichen Ausdrucks jener vertraulich-scherzhaften Anrede an Gottvater, den Schöpfer des Kosmos und Inganghalter der großen, pünktlichen Weltenuhr.
Aber das Religiöse, das in diesem kleinen Gebilde nur wie ein Hauch über das märchenhaft-phantastisch und scherzhaft-komisch entwickelte Thema der kosmischen Natur gebreitet ist, begegnet in den Gedichten, in denen es herrschend wird, auch in sehr anderen Stimmungslagen. Ein Beispiel dafür bieten die folgenden Verse „ungefähr“54 aus dem Jahr 1862:

Prayer is the little implement
Through which Men reach
Where Presence – is denied them.
They fling their Speech

By means of it – in God’s Ear –
If then He hear –
This sums the Apparatus
Comprised in Prayer
55

Das Übergehen vom reinen Reim – reach:Speech, Ear:hear – zur Dissonanz hear:Prayer, die man, je nach dem Vorhanden- oder Nicht-Vorhandensein eines auslautenden retroflexen r in Miss Dickinsons Aussprache, als suspended oder vowel rhyme auffassen darf,56 ist diesmal bestimmt nicht scherzhaft gemeint, sondern spöttisch. Der Wechsel der Reimform ist Klangsymbol für die geistige Dissonanz im Verhältnis eines Menschen zu Gott, nicht zu Gott an sich, sondern zu einer überlieferten, alttestamentlich-puritanischen und damit neuengländisch-heimatlichen Vorstellung von Gott. Die Verwendung der traditionellen Lehnübersetzung in God’s Ear weist deutlich in diese Richtung.
Der Abstand zu solchem herkömmlichen Gottesbild drückt sich schon in der Perspektive, mit T.S. Eliot zu sprechen: in der voice of poetry,57 aus. Der scherzhaft-vertraulichen Anrede:

Father I observed to Heaven
You are punctual –

freilich einer – der Vergangenheitseinstellung des ganzen Gedichts entsprechend –  b e r i c h t e t e n  Anrede, steht jetzt die distanzierte Perspektive der 3. Person gegenüber; das grammatische Tempus, „die einfache Präsens-Form“, überläßt es dem Leser oder Hörer, ob er die dichterische Aussage als auf einen religiösen „Zustand in der Gegenwart“ bezogen, also zeitkritisch, oder als „zeitlose“ Gültigkeit beanspruchend,58 also – sehr viel bitterer – als allgemein-menschlich, auffassen will.
Die Dissonanz erfaßt übrigens nicht nur Gehalt und Klang des Gedichtes, sondern auch eine Seite des Stils, die Wortschicht. Dem germanischen, einsilbigen Wortschatz der Umgangssprache – Through which Men reach / … / They fling their Speech / By means of it – in God’s Ear / If then He hear – / – antwortet das romanische, überwiegend mehrsilbige Vokabular des technischen Gerätebaus und der Verstandestätigkeit – implement, Apparatus; sums, Comprised –. Mit schneidender Präzision ist damit die zeitgenössische geistige Landschaft gezeichnet, in der um 1862 der Zweifel am Erhörtwerden des Gebets, If then He hear, der Zweifel an der überlieferten Art des Christentums, lebt: Es ist die Landschaft der Technik und des Rationalismus.
Ebenfalls romanische theologische Begriffsworte wie Prayer und Presence sind teils durch wort-, teils durch silbenanlautendes p gerade mit dem technisch-rationalen Vokabular verknüpft. Mit Recht hat Hans Marchand bei der Charakterisierung der initial symbols p als directly imitative of the parting of the lips in the rendering of some vocal sounds gekennzeichnet.59 Die oft auch das ,stumme‘ Beten begleitende Lippenbewegung – für unser Gedicht ist Beten speech – hat ihr unmittelbares Lautsymbol in diesem motivhaft wiederkehrenden Konsonanten der beiden Vierzeiler. An Marchands Hinweis auf die emotionally expressive Qualität des Lautes: Initial … / p / .. often express[es] scorn, contempt, disapproval, disgusts60 erinnert man sich bei der Begegnung mit dem Werk einer so klangempfindlichen Autorin wie Emily Dickinson ebenfalls mit Nutzen.
Prayer, das letzte Wort des Gedichtes, war auch schon das erste. Mit dieser kreisförmigen Anlage kehrt die Aussage an ihren Anfang zurück; sie führt also nicht über ihn hinaus. So verstärkt sich der spöttische Ton des Ganzen durch die dichterischen Mittel der Wortwahl, der Klangsymbolik und des Aufbaus.
An Bündigkeit nimmt es das Prayer-Gedicht mit den Schneeflocken-, Kolibri- und Sternenaufgangsversen auf; die syntaktische und zugleich die gedichtsstrukturelle Funktion der Sprachlautklänge beherrscht es genau so virtuos wie das Sternenpoem mit seinem l-Laut am Anfang und Ende (Lightly – punctual) und wie die Kolibrizeilen mit ihrer Route/Ride-Diagonalachse. Aber von allen diesen lyrischen Gebilden setzt es sich durch zweierlei ab: durch eine Perspektive der Distanz, die noch objektiver wirkt als im Schneeflocken- und im Kolibri-Gedicht – an die Stelle eines like Us oder eines probably ist ein unpersönlich-allgemeines Men getreten –, ferner durch eine Bitterkeit des Tones, seinen Schmerz der Seele, der sich als Spott in Zucht zu halten sucht.
Etwa drei Jahre später, „um 1865 herum“,61 wurde folgendes Gedicht geschrieben, dessen Ich-Blickwinkel, hier durch Zeilen- und Strophenanapher verstärkt, gerade nicht an unser vorausgehendes, sondern an unser allererstes Beispiel, die Lokomotiven-Verse, erinnert:

I never saw a Moor –
I never saw the Sea –
Yet know I how the Heather looks
And what a Billow be.

I never spoke with God
Nor visited in Heaven –
Yet certain am I of the spot
As if the Checks were given
62

Es ist schwierig, den Ton dieses kleinen Ganzen zu beschreiben. Er scheint zwischen dem Scherzhaft-Vertraulichen des Abendstern-Gedichtes mit seinem Father … / You are punctual und dem Spöttischen der Prayer-Zeilen zu liegen. Etwas Schnippisches, doch zugleich Koboldhaftes schwingt in den echt umgangssprachlichen Formulierungen

I never spoke with God
Nor visited in Heaven –

mit. Es übertönt jedoch nicht die Stimme der inneren Gewißheit von Gottes Dasein. Dieser Gott ist ein verborgener Gott, darin dem Deus absconditus der Mystik ähnelnd. I never spoke with God mutet im ersten Augenblick wie eine Ablehnung des Gebets, wie eine Übereinstimmung mit dem vorangegangenen Gedicht an. Aber jenes  e n d e t e  a b l e h n e n d, dieses  e n d e t  p o s i t i v, mit der Gewißheit des Glaubens. Ob es ein privater oder auf die christliche Offenbarung gegründeter Glaube ist, spielt für die formgewordene geistige Welt dieser acht Zeilen keine ersichtliche Rolle.
Im Rückblick auf Technik und Natur in Emily Dickinsons bisher zitiertem Werk wird einem bewußt, wie sich in unserem knappen Achtzeiler Technik und Natur der Religion zuordnen. Aus der Technik, aus dem Eisenbahnzeitalter, stammt das Bild für die religiöse Gewißheit, die Situation an der Endstation, wo man dem Schaffner die Fahrkarten, umgangssprachlich checks genannt,63 abgibt. Aus der Natur stammen die beiden ersten Stufen – Land und Meer – einer Klimax, die das einleitende Verspaar aufbaut, Stufen, die das folgende Paar, dem logischen Schema ,pars pro toto‘ gehorchend, zu ,Heidekraut‘ und ,Woge‘ konkretisiert. Die Technik als neuer Bildbereich des religiösen Lebens, die moderne Eisenbahnfahrt statt der alten Pilgerfahrt – an diesem Punkt der Bildphantasie erinnert Emily Dickinsons Gedicht an das Motiv der Eisenbahnfahrt, das, freilich sarkastisch getönt, in einer allegorischen Erzählung ihres Landsmanns Hawthorne, in The Celestial Railroad, schon 1843 auftauchte. Die Sammlung Mosses from an Old Manse, in die sie 1846 aufgenommen wurde, befand sich nachweislich im Besitz von Emilys Bruder Austin.64 G.F. Whichers Ansicht: „Emily Dickinson’s familiarity with the leading American authors of her time may be taken for granted, except when we have her word to the contrary“65 darf zu der Annahme ermuntern, auch Hawthornes The Celestial Railroad sei ihr wahrscheinlich bekannt gewesen. Aber bei einem Menschen, dessen Offenheit für die heraufziehende Welt der Technik schon aus dem Lokomotivengedicht sprach, bedarf es nicht eines Einflusses der Lektüre, um motivliche Ähnlichkeit zu begründen. Immerhin ist es unter dem umfassenden Gesichtspunkt des ,New England Mind‘66 aufschlußreich, an einer scheinbaren Kleinigkeit zu beobachten, wie rasch ein Erzähler und eine Lyrikerin aus dem gleichen kolonialen Patriziat von Massachusetts Erscheinungen der Technik und des modernen Verkehrs als Allegorie oder als Vergleich spiritualisieren.
Diesem Achtzeiler der Glaubenssicherheit einer ca. 35jährigen sei ein anderer gegenübergestellt, den die 54jährige – 1884 – schrieb.

The going from a world we know
aaTo one a wonder still
Is like the child’s adversity
aaWhose vista is a hill,
Behind the hill is sorcery
aaAnd everything unknown,
But will the secret compensate
aaFor climbing it alone?
67

Diesseits und Jenseits, ein uraltes religiöses Problem des Menschen, bietet sich dar in der Vergleichssprache der kindlichen Märchenphantasie, und in ihr lebt eine Landschaft Behind the hill, lockend und schreckend zugleich wie jene Mühlenlandschaft „Hinterm Berg“, die für den deutschen Leser aus der Erinnerung an das zunächst ähnlich anmutende und doch unähnliche Mörike-Gedicht vom Feuerreiter emporsteigt.68
Aber diese Sprache enthält neben dem Märchen und vom Gedichtsaufbau her betrachtet, vor ihm einen zweiten Vergleichspunkt; nur verhüllt schimmert er durch die Syntax und den Wortschatz der beiden ersten Verse hindurch.

The going from a world we know
aaTo one a wonder still

wirkt wie eine Anspielung auf (The Pilgrim’s) Progress from this World to that which is to come. Die Welt des puritanischen Allegoristen und die Welt des Zaubermärchens, Bunyans dem Neuen Testament entlehnter Boanerges und die Lokomotive als vermenschlichtes Tier – jene eigentümliche Verschmelzung beider Bereiche, die uns zum erstenmal in einem ,technologischen‘ Gedicht der 1860er Jahre begegnete, stellt sich in einem ,religiösen‘ der Spätzeit erneut ein – Zeichen der Dauer im Wechsel eines künstlerischen Phantasieschaffens.
Die religiöse Problematik erscheint unmittelbar, in syntaktischer Gestalt, als Frage, und der Ton des dichterischen Ganzen entbehrt diesmal jedes Scherzes, jeder Schnippischkeit, jedes Spottes. Das Allein-Bestehen-Müssen des Todes, jenes climbing it [the hill] alone, und der Zweifel an einer Entschädigung für dieses Alleinsein im Sterben sind mit einer Klarheit und Knappheit ausgedrückt, die so einprägsam ist wie der stimmungshaltige dumpfe Nachhall des [o“]-Diphthongs an aufbauwichtigen Stellen des kleinen Werkes, am Anfang und Ende der Eingangszeile (going-know), am Ende des feststellenden Gedichtsteils (vv. 1–6), am Ende des fragenden Gegen-Teils, der mit But hart einsetzt und mit alone langsam ausschwingt.

Yet certain am I of the spot
But will the secret compensate
aaaa…………………..?

Der Unterschied der seelischen Lage, in der jeweils die letzten beiden Zweizeiler des vorigen und des jetzigen Gedichtes anheben, spricht für sich selbst.
Wenn unser inneres Ohr auf die vier Proben aus der religiösen Lyrik Emily Dickinsons zurückhorcht, könnte es scheinen, als ob ihr religiöses Erleben und Gestalten eine Kurve von Scherz zu Spott, hinauf zu persönlicher Glaubenssicherheit und wieder hinunter zum Zweifel durchliefe. Wieweit diesem auf lediglich vier Gedichte gegründeten ersten Eindruck etwas stellvertretend Gültiges zukommt, wird später zu beantworten sein. Vorher sei der Interpretationsteil durch Proben aus ihrer Liebeslyrik abgerundet!

 

VI. Liebe: zwei Proben aus der Lyrik der Jüngeren
Aus der Fülle der möglichen Beispiele werden drei ausgewählt. Zwei von ihnen, die wahrscheinlich in demselben Jahr 1862 entstanden,69 mögen die Variationsbreite der Perspektive und der Haltung veranschaulichen, das dritte, das ca. 22 Jahre später,70 also im gleichen Jahr wie The going from a world we know, verfaßt wurde, soll die Verschmelzung der Liebeslyrik mit der religiösen bezeugen.

Mine – by the Right of the White Election!
Mine – by the Royal Seal!
Mine – by the Sign in the Scarlet prison –
Bars – cannot conceal!

Mine – here – in Vision – and in Veto!
Mine – by the Grave’s Repeal –
Titled – Confirmed –
Delirious Charter!
Mine – long as Ages steal!
71

Absichtlich sei sofort ein zweites Gedicht der damals wohl 32jährigen Autorin danebengestellt:

A Charm invests a face
Imperfectly beheld –
The Lady dare not lift her Vail
For fear it be dispelled –

But peers beyond her mesh –
And wishes – and denies –
Lest Interview – annul a want
That Image – satisfies
72

Der Wechsel der Perspektive ist eindeutig. Im ersten Gedicht herrscht der Blickwinkel der 1. Person singularis. Geradezu herausfordernd steht ihr Possessivpronomen am Anfang des Eingangs- und des Schlußverses, dazu weitere viermal am Versanfang. Der Stilzug der Anapher dient also der Hervorhebung der Ich- (bzw. Mein-)Perspektive. Das zweite Gedicht dagegen spricht vom Standpunkt der 3. Person. Das Leidenschaftliche, ja Besitzstolze oder Besitzgierige paßt zur Ich-, das Sachliche zur Es- oder Sie-Perspektive.
Der Unterschied des Versmaßes schmiegt sich der Verschiedenheit des Gefühlsgehaltes an. Im ersten Beispiel bringen der Wechsel der Taktfüllung – teils fallend-dreisilbig, teils fallend-zweisilbig – sowie die Pause mitten im Takt Erregung in den Fluß der Zeile, die in sieben Fällen sofort nach der ersten Tonsilbe gestaut wird, um dann in beschleunigter Strömung dahinzujagen. Im andern Beispiel läuft ein- und dieselbe Taktfüllungsweise, die steigend-zweisilbige, durch den ganzen Achtzeiler. Hier herrscht Ordnung, schematische Ordnung; hier kontrolliert ein abstandhaltender Beobachterstandpunkt die Gefühlssituation.
Der Unterschied läßt sich vom Metron in die Stilschicht verfolgen. Dort das emphatische Mittel der Anapher, hier der Stilzug der Kürze, sei es als Partizipialkonstruktion – a face / Imperfectly beheld –, als Konjunktionslosigkeit – for fear it be dispelled – oder als Verzicht auf den Artikel – Lest Interview – annul a want / That Image – satisfies –. Die Vorliebe für das lateinisch-romanische Vokabular – invests, imperfectly, dispelled, Interview, Image, satisfies –, das in annul leichten juristischen Einschlag besitzt oder den verdeckten etymologischen Wortsinn von Interview ,Zwischensicht‘, ,von Aug zu Aug‘, wiederbelebt, sorgt für Sachlichkeit. Aber diese harte, sachliche Oberfläche, die einen Stilzug von T.S. Eliots Jugendlyrik vorwegnimmt, wird zweimal durchstoßen: A Charm … / For fear it be dispelled – / … her mesh– / Einerlei, wie ironisch ausgesagt, die Welt des Zaubers, auf die ,Charm‘ in seinem älteren Sinn von ,object having occult power‘73 und dispelled als spielerische Wortmischung von dispel und spell, n. hinweisen, dazu die Nachbarwelt der Symbole, die durch das Symbol vom schützenden, aber auch einfangenden ,Netz‘ (mesh) vertreten ist, sie warten beide unter der Oberfläche der beobachtbaren, sozialen Wirklichkeit im Verhältnis der Geschlechter.74 Im vorausgehenden Gedicht dagegen bricht die Welt unter der Oberfläche nicht nur zweimal, sondern völlig durch: ein Symbol jagt das andere, und ihre Nähe zu Sinnbildern aus der Geheimen Offenbarung wird in the White Election, the Royal Seal, the Sign in the Scarlet Prison wahrscheinlich: erstes Zeichen jener Verschmelzung erotischer und religiöser Motive, die sich in der dritten Gedichtsprobe mit aller Deutlichkeit ausprägen wird.
Gerade dort, wo der Stil der beiden miteinander verglichenen lyrischen Texte von derselben Fachsprache, der juristischen, zehrt, läßt sich ihre Verschiedenheit besonders klar erkennen. Dem ersten Text dient das Rechtswesen, speziell das Vertragsrecht, als Bilder- und Symbolquelle, dem zweiten als Bereitsteller eines abstrakten Terminus (annul). Die Bildsphäre des Vertragsrechtes, die fast das ganze erste Gedicht, von seal bis Charter, durchzieht, ist wie bei jedem metaphorischen Sprechen Verhüllung und Enthüllung zugleich. Der Sachbereich, der verhüllt und enthüllt wird, ist eine Liebe, die sich im Augenblick der Verwandlung zur ehelichen Liebe erlebt. Das unausgesprochene tertium comparationis bildet der Vertragscharakter der Ehe. Die Zeile Mine – by the Grave’s Repeal – entschlüsselt die Kernsituation des sprechenden Ich: die Besitzergreifung des Geliebten, erst nachdem ,das Grab‘ den bisherigen Vertrag, die bisher bestehende Ehe, ,widerrufen‘, ,aufgehoben‘ hat. Die Bilderkette aus dem Vertragsrecht erweist sich als angemessener Ausdruck einer religiösen Auffassung von der Ehe, die nur der Tod auflösen kann. Das ,Mein‘-Werden des Geliebten ist ,hier‘, in diesem irdischen Leben, ,Vision‘, ist in der Gegenwart geschaute Zukunft, ewig währende Zukunft (long as Ages steal). Nicht zufällig erscheinen also in unserem Text Bilder, die an die Geheime Offenbarung des Sehers von Patmos anklingen. Die beiden Texten gemeinsame Situation eines  s c h a u e n d e n  Ich, freilich dort eines inspirierten, hier eines privaten, hebt sich ab von der Haltung einer  b e o b a c h t e n d e n  Sie.
So werden Perspektive, Klang und Stil der beiden Wortkunstwerke von zwei unterschiedlichen Erlebnisweisen der Liebe durchformt: einer visionären Besitzerklärung des Geliebten, einer sachlichen Beobachtung einer ,wünschenden‘ ,Dame‘.
Den zwei Proben aus der Liebeslyrik der etwa Zweiunddreißigjährigen sei ein Achtzeiler aus ihren fünfziger Jahren an die Seite gestellt!

 

VII. Liebe: ein Achtzeiler aus der Dichtung der Älteren

The Auctioneer of Parting
His „Going, going, gone“
Shouts even from the Crucifix,
And brings his Hammer down –
He only sells the Wilderness,
The prices of Despair
Range from a single human Heart
To Two – not any more
75

Die visionäre Bilderwelt aus der Perspektive des Ich mit seinem den Geliebten zum Besitz erklärenden Schrei Mine – sie lebte im ersten Gedicht; die Welt der sinnlich beobachtbaren Wirklichkeit aus der Perspektive der 3. Person – sie erfüllte das zweite Gedicht; die eigentümliche Kreuzung von Elementen beider lyrischer Haltungen, die Entstehung einer allegorischen Bilderwelt aus der Perspektive der 3. Person, – sie vollzieht sich in unserem letzten Gedichtsbeispiel. In ihm herrscht kein Blickpunkt des Ich, kein triumphal einsetzendes Mine; ihm fehlen aber auch die sinnlich beobachtbare Gestalt der Lady und das durch sie herangespiegelte ,Bild‘ (Image) des Partners beyond her mesh, freilich ein Bild, das genau so vage bleibt wie das Antlitz des Geliebten im ersten Gedicht. Unser letztes Beispiel kennt zwar wieder ein Paar; doch ist weder der eine Partner sprechendes Ich oder beobachtete Sie noch lebt der andere Partner als Image dieser Sie. Die beiden Teile dieses menschlichen Paares erscheinen nur noch als a single human Heart und als Two (human Hearts), also als ganz übliche Synekdocheen für liebende Menschen. Aber sie fungieren in einem sehr unüblichen Zusammenhang: als Markierungen eines ,Spielraums‘ von ,Preisen‘, als Mindest- und Höchstpreis. Menschlich Edelstes, das Lieben-Können, ist im Bilde herabgedrückt auf die Stufe von Waren: ein Herz als Mindest-, zwei Herzen als Höchstpreis für eine Konsequenz unerfüllter Liebe, für ,Verzweiflung‘. So wird in diesem Gedicht Innerlichstes objektiviert mittels eines Bildes aus grob materieller, wirtschaftlicher Sphäre.
The prices of Despair sind als Schlußbild in einen größeren bildlichen Zusammenhang eingelassen. Er wirkt zunächst und immer wieder, jedoch nie ununterbrochen, als durchaus real:

The Auctioneer…
His „Going, going, gone“
Shouts… from…
And brings his Hammer down –
He… sells…

Daß der Zusammenhang, eine ganze kleine beobachtete und beschriebene Szene, tatsächlich bildlich ist, merkt man sofort daran, daß genauso wie in den letzten drei Zeilen Innerliches, die Gefühlslage der ,Trennung‘ oder des ,Abschieds‘ (Parting), nach außen gewandt, vergegenständlicht wird. Das künstlerische Mittel solcher Objektivierung ist das gleiche wie in jenen Zeilen: das Bild, hier sogar die Bilderfolge, aus dem wirtschaftlichen Bereich. Die Mindest- und Höchstpreise ,der Verzweiflung‘ konkretisieren sich zum Preisspielraum auf einer ,Versteigerung‘ der ,Trennung‘. Der Vers

The Auctioneer of Parting

mit seiner Verkopplung von Wirtschaftlich-Materiellem und Emotional-Seelischem folgt genau dem Baumuster, das wir in

The prices of Despair

entdeckten. Der syntaktische Parallelismus und damit die symmetrische Aufteilung des Zeilenraumes in verbildlichendes und verbildlichtes Element unterstreichen die Gleichheit der dichterischen Methode, der Allegorie. Liebe nicht als Stimme der Liebenden im visionhaft geschauten, eschatologischen Augenblick des Ehevertrags im neuen Reiche der Ewigkeit, Liebe auch nicht als von außen beobachtete ,wünschende Dame‘ in dieser wirklichen Diesseitswelt der Geschlechter, sondern als Allegorie von ,Trennung‘ und ,Verzweiflung‘ stellt sich in diesem dritten Gedicht dar. So alt die Allegory of Love76 in den abendländischen Literaturen ist, so neu dürfte die Gestalt des öffentlichen ,Versteigerers der Trennung‘ in ihr sein.
Die dichterische Methode ist jedoch nicht ausschließlich allegorisch.

The Auctioneer of Parting
His „Going, going, gone“ Shouts…
And brings his Hammer down –

führt das Trennungsmotiv, ein Kernmotiv der Liebeslyrik, zwar allegorisch ein, transponiert es aber ins Symbolische. Der reale Vorgang des Versteigerns mit seinem ,Zum ersten, zum zweiten, zum dritten- und letztenmal‘ versinnbildet mit Hilfe des grammatischen Zeit- und Aspektssystems, des progressiven Aspekts in der Gegenwart („Going, going“), des effektiven in der Vergangenheit („… gone“), die Phasen der Trennung.
Bis hierhin ließ sich der Formensprache unseres Gedichtes ohne Schwierigkeit folgen. Die Probleme beginnen mit der dritten Zeile und setzen sich in der fünften fort:

The Auctioneer of Parting
Shouts even from the Crucifix,
He only sells the Wilderness

Daß die allegorische Figur des ,Versteigerers der Trennung‘ seine Auktionsformel ,selbst vom Kreuz‘ herab ausschreit, umreißt eine Szene, die dem deutschen Expressionismus, etwa eines George Grosz, oder dem französischen Surrealismus näher scheint als der amerikanischen Lyrik der frühen 1880er Jahre. Was hat eine solche Szene in einem Gedicht zu suchen, dessen Motive der ,Trennung‘ und der ,Verzweiflung‘ auf die Tradition der Liebeslyrik und nicht der religiösen deuten?
Das Gedicht selbst scheint keine Mittel bereitzustellen, um die Frage von sich aus zu beantworten. Nun hat man mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß viele von Emily Dickinsons Kurzgedichten nur relative Ganzheiten darstellten und sich besser als Glieder umfassender Gedichtszyklen oder als Variationen über das gleiche Thema, als Bemühungen um seine vollkommene Form, verstehen ließen. Beide Auffassungen, von denen sich die erste wohl an den Sonettenkränzen mancher Lyriker, also an Zyklen ähnlich knapper lyrischer Werke, gebildet hat, verweisen den Ausleger auch unseres Achtzeilers zunächst auf andere Gedichte der Autorin, in denen Wörter des Bedeutungsfeldes ,Trennung‘, vielleicht sogar parting selbst, in religiösem Kontext, speziell im Kontext mit Christus und seiner Kreuzigung, begegnen.
Tatsächlich taucht ,Trennung‘ oder ,Abschied‘, und zwar jedesmal mit Parting bezeichnet, als lyrisches Motiv mindestens viermal auf. Genau oder ungefähr datierbar sind freilich nur zwei Stellen; die anderen zwei, darunter Emily Dickinsons bekanntestes ,Abschieds‘-Gedicht wie überhaupt eine ihrer berühmtesten Schöpfungen, haben sich bisher zeitlich nicht festlegen lassen.
Äußerlich betrachtet, haben die datierbaren den Zug gemeinsam, daß sie ,Gelegenheitsgedichte‘ sind: ihre Verfasserin schickte sie Menschen aus ihrem Freundeskreis statt einer mündlichen Verabschiedung zu. Aus diesem Grunde hat Jay Leyda ebenfalls für unser Gedicht die ,Möglichkeit‘ in Anspruch genommen, einer Freundin – vor einer Europareise – gesandt worden zu sein.77 Selbstverständlich ist auch hier der Anlaß zur Übersendung nicht mit dem Anlaß zum Schreiben des Gedichtes, vor allem nicht mit den Ursachen seiner Entstehung gleichzusetzen. Das Trennungsmotiv in diesen Gedichten braucht also keineswegs wegen solcher ,freundschaftlichen‘ Anlässe zur Übersendung nur im Sinne der  F r e u n d e s l i e b e  verstanden zu werden.
In einem Achtzeiler von ca. 1865, beginnend mit We’ll pass without the parting,78 klingt dieses Motiv wie in unserem The Auctioneer of Parting am Ende der Eingangszeile und ebenfalls zusammen mit dem – als Schluß komponierten – Todesmotiv auf; aber dieser Tod ist der Tod von Menschen, nicht der des Schmerzensmannes von Golgatha. Der Verknüpfung von parting und Those that died ist die von parting und night in einem Gedicht unbekannten Zeitpunkts, das paradox mit

Some say goodnight – at night –
I say goodnight by day –
79

einsetzt, eng benachbart. Auch das lexikale Nebeneinander von Parting und Going stellt sich schon hier ein, freilich ohne die symbolische Vertiefung, die diese anspielungsreiche Assoziation im Auktionator-Gedicht erfährt. In einem Vierzeiler aus dem Herbst 1884, also aus demselben Jahr, in dem oder nahe dem unser problemreicher Achtzeiler entstand, erscheint zwar Parting im gleichen Nexus mit A Heart;80 aber die Übereinstimmung bleibt äußerlich. Das Motiv der ,Trennung‘ ist nämlich hier auf den Ton reluctantly, nicht auf Despair abgestimmt.
In einen religiösen, und zwar in einen christlichen Kontext tritt Parting erst in folgenden meisterlichen Versen ein, wobei es durch Taktumstellung am Versanfang besonders ins Ohr fällt:

My life closed twice before its close;
It yet remains to see
If Immortality unveil
A third event to me,

So huge, so hopeless to conceive
As these that twice befel.
Parting is all we know of heaven,
And all we need of hell
.81

Wohl nicht zufällig zeichnet sich dieses Kerngeflecht der Motive ,Tod, Himmel und Hölle, alles, Trennung‘, letztere synonym durch deprive vertreten, in einem „um 1884“82 datierbaren Achtzeiler ab; er mutet wie eine Vorstudie zu freilich nur einem Aspekt des Meisterwerkes an:

So give me back to Death –
The Death I never feared
Except that it deprived of thee –
And now, by Life deprived,
In my own Grave I breathe
And estimate it’s size –
It’s size is all that Hell can guess –
And all that Heaven was –

Doch keines dieser entfernter oder näher motivverwandten Gedichte enthält jenen eigentümlichen Nexus von Parting mit Christus und seiner Kreuzigung, geschweige mit der allegorischen Gestalt des Versteigerers und seinem Ausschreien vom Kreuz herab.
Wohl schließt der Nexus von Tod und Nacht, der uns in den Some say goodnight-Versen begegnete, einmal auch Jesus ein:

Dying! Dying in the night!



And „Jesus“! Where is
Jesus gone?
They said that Jesus – always came
83

Die Vorstellung vom ,weggegangenen Jesus‘ entspricht nicht der anspielungsreichen Assoziation von gone mit from the cruxifix, wenn auch das Motiv des Getrenntseins mitschwingt, freilich ohne wörtlichen Ausdruck mittels Parting oder eines Synonyms.
Näher an unseren Ausgangspunkt scheinen die mehr als zehn Gedichte zu führen, in denen der gekreuzigte Christus ausgesprochen oder unausgesprochen vor dem Auge des Hörers oder Lesers erscheint. Die Forschung hat längst herausgestellt, welche zentrale Bedeutung diesem Motiv und seinen Abwandlungen in Emily Dickinsons Liebeslyrik zukommt.84 Den inneren Zusammenhang zwischen dem Motiv des Parting und Shouts … from the Cruxifix erhellt ein frühes vierstrophiges Gedicht aus der Zeit „um 1862“, das nicht nur Calvary und Crucify sehr persönlich auf das eigene Leben bezieht, sondern auch auf den Aufschrei des sich von Gott verlassen fühlenden Gekreuzigten anspielt:

I should have been too saved – I see –
Too rescued – Fear too dim to me
That I could spell the Prayer
I knew so perfect – yesterday –
That Scalding One – Sabacthini –
Recited fluent – here
85

Parting als Gottverlassenheit, als Trennung Gottes vom gepeinigten Gottmenschen gedeutet, wirft aber auch Licht auf jenes Shouts. Es wirkt wie eine Anspielung auf das ,,Jesus cried with a loud voice“ der Matthäus- und Markus-Passion, das dem Eli, Eli, lama sabachthani kurz vorausgeht.86
Selbst eine scheinbare Kleinigkeit unseres schwierigen Textes, die merkwürdige Schallumrahmung der Dickinsonschen Kreuzigungsszene, der ,Hammer‘ und die formelhafte Versteigerersprache, gewinnt bei solchem vergleichenden Blick auf den Kreis der „Gedichte mit dem Kreuzigungsmotiv“ ein wenig an Klarheit. Diese Schallumrahmung durchläuft nämlich zwei Vorstufen.

The Morning after Wo –
’Tis frequently the Way –
Surpasses all that rose before –
For utter Jubilee –

As Nature did not care –
And piled her Blossoms on –
And further to parade a Joy
Her victim stared upon –

The Birds declaim their Tunes –
Pronouncing every word
Like
Hammers – Did they know they  f e l l
Like  L i t a n i e s  of Lead –

On here and there – a  c r e a t u r e –
They’d modify the Glee
To fit some
Crucifixal Clef –
Some Key of Calvary
87

Wo (= Woe), noch nicht Despair, Hammers noch Vergleich (Like Hammers), noch nicht notwendiger Teil eines allegorischen Vorgangs ,Versteigerung‘, Litanies of Lead formelhafte, bedrückende Wiederholung, aber wiederum ein herbeigezogener Vergleich, der, für das Gedichtsganze völlig unnötig, die katholische Glaubenswelt heranspiegelt, noch nicht wie HisGoing, going, gone“ eine organisch aus dem Vorgang herauswachsende Formelhaftigkeit von dramatischer Spannung und sinnbildlicher Bedeutung, a creature gewiß schon die menschliche Kontrastfigur zu den ,Vögeln‘ als Repräsentanten einer Nature, die did not care, jedoch noch nicht mehr als eine blasse Analogie von menschlichem und gottmenschlichem Leiden andeutend, To fit some Crucifixal Clef musikalisch-metaphorische Stütze dieser Analogie, der eigenen Stützkraft mißtrauend und in der Variation Some Key of Calvary Hilfe suchend, noch nicht das Kreuz selbst als Ort einer ,Auktion‘.
Immerhin hat sich dieses schwache Gebilde nicht nur als Vorstufe für die sonderbare ,Schallkulisse‘, sondern auch für manche andere Züge unseres fragwürdigen Liebesgedichts von der Versteigerung auf Golgatha erwiesen.
Der einen Vorstufe folgt oder – die ungefähre Datierbarkeit beider ,um 1862‘ läßt keine Entscheidung zu – geht eine andere voraus:

It makes no difference abroad –
The Seasons – fit – the same –
The Mornings blossom into Noons –
And split their Pods of Flame –

Wild flowers – kindle in the Woods –
The Brooks slam – all the Day –
No Black bird bates bis Banjo –
For passing Calvary –

Auto da Fe – and Judgment –
Are nothing to the Bee –
His separation from His Rose –
To Him – sums Misery
88

Daß die Schallumrahmung des Kreuzigungsmotivs an Dichte gewonnen hat, ist unzweifelhaft. Aber ihre Kernstelle

No Black bird bates his Banjo –
For passing Calvary –

hat trotz beträchtlicher klanglicher (alliterierender) und rhythmischer Kunstfertigkeit etwas Gezwungenes an sich: dem Nexus der Banjo-Metapher mit Kalvaria fehlt der notwendige Zusammenhang nach innen wie nach außen. Er reicht nicht über zwei Zeilen hinaus; ein ganzes Gedicht zu organisieren, wie es die Versteigerungs-Allegorie vermochte, geht über seine dichterische Kraft.
Im Unterschied zur anderen Vorstufe – und damit den Auktionator-Versen näher rückend – wird das Trennungsmotiv diesmal unmittelbar, durch separation, nicht nur mittelbar, durch seine Gefühlswirkung, erkennbar. Separation entspricht Parting; Misery freilich weist eher auf Wo zurück als auf Despair voraus. Das Trennungsmotiv wird in dreifacher Variation durchgespielt: tierisch-pflanzlich (the Bee – His Rose), also natürlich, gottmenschlich (Calvary), menschlich-religiös (Auto da Fe – and judgment). Die Reihenfolge der beiden letzten Spielarten ist bereits dieselbe wie in The Auctioneer of Parting. Auch darin reicht die zweite Vorstufe näher an unseren schwierigen Text heran als die erste.
Die Figurenkonstellation dagegen bleibt auf der zweiten Vorstufe dieselbe wie auf der ersten. Der mitgefühllosen, naiv-frohen Natur stehen Gottmensch und Mensch gemeinsam gegenüber. Von dieser dreieckigen Gruppierung, der die dreistrophige Anlage der zweiten Vorstufe sehr viel enger korrespondiert als die vierstrophige der ersten, behalten unsere Auktionator-Verse auf den ersten Blick nur noch Gottmensch und Mensch: the Crucifix und a single human Heart To Two. Die Beziehung zwischen beiden unter dem übergreifenden Gesichtspunkt der ,Trennung‘ oder des ,Abschiedes‘ und des Leidens an ihnen war auf der ersten Vorstufe herkömmlich, d.h. analogisch. Die zweite Stufe ließ sie unausgesprochen. Aus der Reihenfolge ,gottmenschliche Variation‘ der ,Trennung‘ zuerst, ,menschliche Variation‘ an zweiter Stelle auf eine Wertungsskala zu schließen wäre voreilig. Die Versteigerungs-Allegorie jedoch scheint gerade auf solche Wertung abzuzielen:

He only sells the Wilderness,
The prices of Despair
Range from a single human Heart
To Two…

Diese Vermutung entzündet sich an only.
So treibt ein genau vergleichender motivanalytischer Rundblick89 an diesem Punkt drei neue Fragen hervor: Läßt sich der Wandel von der nur analogischen Beziehung gottmenschlichen und menschlichen Leidens an Parting oder separation zu einer wertenden Beziehung innerhalb der anderen „Gedichte mit dem Kreuzigungsmotiv“ feststellen? Welchen Sinn hat Wilderness in unserem Auktionator-Achtzeiler? Ist die Auktionatorgestalt, die ,vom Kreuz herab laut schreit‘, mit Christus identisch oder steht sie als dritte Figur so wie in den Gedichten der ersten und der zweiten Vorstufe dem Gottmenschen und dem Menschen gegenüber, die Rolle jener uninteressierten ,Natur‘ fortsetzend:

As Nature did not care
It makes no difference abroad
The seasons – fit – the same –

Tatsächlich bringt der Zeitraum ,um 1862‘, dem die meisten lyrischen Variationen des Kreuzigungsmotivs angehören, eine hervor, die gottmenschliches und menschliches Leiden nicht mehr analogisch, sondern wertvergleichend betrachtet:

One Crucifixion is recorded – only –
How many be
Is not affirmed of Mathematics –
Or History –

One Calvary – exhibited to Stranger –
As many be
As Persons – or Peninsulas –
Gethsemane –

Is but a Province – in the Being’s Centre –
Judea –
For Journey – or Crusade’s Achieving –
Too near –

Our Lord – indeed – made Compound Witness –
And yet –
There’s newer – nearer Crucifixion
Than That
90

Selbst in einem kleinen Zug, der spöttischen Verwendung von only, ähnelt dieses harsche, bis ans Blasphemische grenzende Werk der über zwanzig Jahre späteren Versteigerungs-Allegorie. Es bedarf nicht des  W o r t e s  Despair, wie es im Nexus mit Calvary und the Cross, ein andermal mit Calvary und Just We two in motivverwandten Strophen ,um 1862‘ und ,um 1863‘ vorkommt,91 um die Ähnlichkeit der Gefühlshaltung mit The Auctioneer of Parting zu bezeugen. Daß the Being’s Centre dem a human Heart der Auktionatorstrophen entspricht, dürfte einleuchten. Sogar der profane Öffentlichkeitscharakter der Kreuzigung ist beiden Werken gemeinsam. Man kann exhibited to Stranger mit Rücksicht auf die – bei einer Juristentochter und in der kongregationalistischen Covenant-Theologie bewanderten Neuengländerin nicht befremdlichen – Metaphern aus dem Rechtsleben ,recorded‘ als ,aktenkundig gemacht‘ und

Our Lord – indeed – made Compound Witness

gleichfalls juristisch auslegen als „a piece of witness, etc. officially presented…“.92 Man kann exhibited aber auch als Bild aus dem Vergnügungsleben, als „presented to public view for entertainment“, ja als „show“ dargeboten interpretieren.93 Einerlei, welche Deutung man bevorzugt, die Kreuzigung Christi unter dem Bilde einer ,exhibition‘ liegt nicht mehr weit ab von der ebenfalls öffentlichen allegorischen Szene der ,Versteigerung‘ ,vom Kreuz herab‘.
So hat sich unser problemreicher Achtzeiler allmählich als Kristallisationspunkt vieler Motive enthüllt, die in anderen, teilweise früheren Versschöpfungen isoliert oder erst locker miteinander verbunden vorkommen. Die Zunahme an Beziehungsreichtum ist fraglos.
Doch keiner der Verse, die zur inneren Entstehungsgeschichte dieses späten Liebesgedichtes gehören, enthält das Wort Wilderness. Im ersten Augenblick fühlt man sich versucht, es echt amerikanisch als „an area of uncleared, uncultivated, unsettled… land“ aufzufassen. In dieser Bedeutung ist es im Dictionary of American English von 1638 bis 1851 belegt und auch heute noch, nicht zuletzt in geistesgeschichtlichen Forschungen zur Kolonialzeit, lebendig.94 Im engeren Sinne „In the Atlantic colonies, used to distinguish unsettled areas from settled ones“ läßt es sich von 1666 bis 1770 nachweisen.95 Die allegorische Struktur unseres Gedichts, vor allem die schon beobachtete symmetrische Aufteilung gewisser Zeilen in ein ,reales‘ und ein ,allegorisches‘ Element warnen uns davor, der Zeile

He only sells the Wilderness

einen ausschließlichen Bezug zum ,realen‘, geschichtlichen Amerika zuzubilligen. Ein Blick auf die Bedeutungsentwicklung von wilderness lehrt, daß es spätestens seit dem 14. Jahrhundert „in religious use applied to the present world as contrasted with heaven or the future life“ existiert und vom 17. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert „esp, in former religious use“ den Sinn „Belonging to the present world or life“ ausdrückt.96 Für die erstere, kontrasthaltige Bedeutung zitiert OED u.a. den Anfang von Bunyans The Pilgrim’s Progress: „As I walk’d through the wilderness of the world“, für die zweite Richard Baxters Saint’s Everlasting Rest. Bei Emily Dickinsons religiöser Erziehung ist es nicht verwunderlich, aber für unsere Textauslegung immerhin hilfreich, daß sie in einem Brief vom 27. März 1853 Pilgrim’s Progress und Baxter, allerdings nicht Saint’s Everlasting Rest, sondern Baxter upon the will erwähnt.97 Mindestens mit dem Sinn, in dem Bunyan „wilderness“ verwendet, war sie mithin vertraut. Bunyan hat schon einmal, bei der Interpretation der Lokomotiven-Strophen und ihres Boanerges-Vergleichs, unseren Weg gekreuzt. Er zeigt sich auch jetzt wieder als Helfer. Dies trifft nicht nur auf Wilderness, sondern auch auf Despair unseres Auktionator-Gedichtes zu. Despair begegnete zwar schon in früheren Versen im Nexus mit Calvary und Cross bzw. mit Calvary und We two, aber im Kontext mit Wilderness und merkwürdigerweise auch mit Parting taucht es nur in unserer Versteigerungs-Allegorie und in Bunyans The Pilgrim’s Progress auf. Dort erscheint das Motiv ,Verzweiflung‘ bekanntlich in zweifacher Personifikation: als verzweifelter Mensch im ,Käfig‘ und als ,Riese‘ im ,Schloß‘.98 In jener puritanischen Version der ,Nachfolge Christi‘ ist der äußerliche Zusammenhang von Wilderness und parting eng, der innere sehr locker; Wilderness hat außerdem hier den speziellen Sinn von „an area of uncleared, uncultivated, unsettled… land“ im Gegensatz zum besiedelten Gebiet, repräsentiert durch die ,Stadt‘:

… for now they (Christian and Faithful) went through a  W i l d e r n e s s  … Then, said Evangelist, How hath it fared with you, my friends, since the time of our last  p a r t i n g?99

Der Nexus von Wilderness mit Despair (in beiden Gestalten) ist zwar innerlich enger, aber äußerlich sehr viel lockerer. Alle drei Wörter treten in keinem Satz oder Satzgefüge zusammen.
Man wird also diesem lexikalen Seitenstück nur insofern eine Bedeutung für die Auslegung unserer Versteigerer-Strophe beizumessen haben, als es der Erfassung des bildlichen Sinnes von Wilderness dient. Hier fällt ein gewisses Licht von der größten allegorischen Erzählung des puritanischen Mutterlandes aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf eines der großen allegorischen Gedichte des überseeischen Puritanismus aus einer Zeit der Krise der „latter-day Calvinist orthodoxy“.100 Erst die schon lange von der Forschung geforderten, aber bisher nur teilweise in Angriff genommenen Untersuchungen zum theologischen Wortschatz in Emily Dickinsons Lyrik werden befriedigend aufhellen können, wieweit Wilderness in unserer Auktions-Allegorie Bunyan verpflichtet ist, wieweit es in einer Bunyan umgreifenden, von ihm besonders geförderten Tradition der wilderness-Metapher in der religiösen Dichtung des anglo-amerikanischen Kulturkreises steht.101
Die im OED verzeichneten, Bunyan einschließenden Spuren dieser Überlieferung helfen uns auch bis zu einem gewissen Grade, das Wesen des Auctioneer of Parting zu deuten. An diesem Punkt geht unsere Textauslegung von ihrer zweiten zu ihrer dritten Schwierigkeit, zu einem Versuch auch ihrer Überwindung, über. Da ,e‘, d.h. der Auktionator der Trennung oder des Abschieds, ,nur die Wildnis‘, das diesseitige, nicht das zukünftige Leben, ,verkauft‘, könnte er mit dem Tod gleichzusetzen sein. In dieselbe Richtung weist der bereits (S. 85) beobachtete Nexus von Death und mit part sinnverwandtem deprive in dem Gedicht „So give me back to Death“, das in zeitlicher Nachbarschaft unserer Auktionator-Verse, vielleicht ,Mitte März 1884‘, kurz nach dem Tode von Emily Dickinsons letztem Seelenfreund und geliebtem Menschen, dem Richter Otis P. Lord, geschrieben ist.102 Das bei ihr nicht seltene Spiel mit der Etymologie der Worte ergreift gerade im Zusammenhang mit Lords Tod auch das Wortpart. In einem Brief folgt dem Satz

I hardly dare to know that I have lost another friend, but anguish finds it out,

einem Satz, den man genauso gut als jambischen Dreizeiler schreiben könnte, der Vierzeiler:

Each that we lose takes part of us;
A crescent still abides,
Which like the moon, some turbid night,
Is summoned by the tides
103

takes part of us im Sinn von ,takes leave of us‘ könnte aber auch, auf die Polarität von Trennung und Dauer anspielend, zugleich ein ,hat teil an uns‘ ausdrücken; denn der  ü b l i c h e  Sinn der Phrase take part legt in der  ü b l i c h e n  Wortfolge ,take part in‘ diese letztere Bedeutung nahe.
Wie anspielungsreich part in einem Tod und Liebe vereinenden Gedicht sein  k a n n, bezeugen diese Verse im Gedenken an Otis Lord. Solche mögliche Assoziationsbreite, ja -tiefe stellt sich beim Lesen oder Hören gerade auch unseres Auktionator-Gedichtes ein, das ebenfalls Tod und Liebe bindet. Nur ist diesmal nicht die Etymologie von part, das Schillern seiner Bedeutung zwischen ,Teil‘ als ,Geteiltem‘ und ,Teil‘ als ,Anteil‘, der Ansatzpunkt für solche Gedankenverbindungen; den Ansatz bildet das Bibelwort der Passionsberichte:

And they crucified him, and  p a r t e d  his garments, casting lots: that it might be fulfilled which was spoken by the prophet, They  p a r t e d  my garments among them, and upon my vesture did they cast lots.104

Nicht Parting, sondern erst sein Nexus mit dem Vers

Shouts even from the Crucifix

löst diese Assoziation mit dem parted der Passionsberichte aus. Sie hilft nicht, zusammen mit dem schon (S. 85) zitierten

So give me back to Death –
The Death I never feared
Except that it  d e p r i v e d  of thee –

und mit dem Vierzeiler Each that we  l o s e  t a k e s  p a r t  of us unser Gedicht dem Kreis der Elegien auf Otis Lord zuordnen. Wohl aber hilft diese Assoziation die Entstehung der Auktionator-Figur aus den Passionsberichten wahrscheinlich zu machen und die schon früher (S. 91) berührte Möglichkeit zu stützen, daß the Auctioneer of Parting als Tod zu deuten sei. Die laute, öffentliche Szene unter dem Kreuz, die das Los werfenden Soldaten, die damit, äußerlich ,gerecht‘, die ,Teilung‘ der Kleider der ,höheren‘ Macht des würfellenkenden Zufalls überlassen – diese Szene scheint über die beiden anderen schon früher (S. 87–88) erkannten Vorstufen hinaus die nächste Vorstufe zur Auktions-Situation darzustellen. Der mit dem Hammer den ,Zuschlag‘ erteilende Auktionator, laute, öffentliche ,höhere‘ Macht bei der ,Teilung‘ des Lebens – so ließe sich der ,Tod‘ auf Golgatha verstehen. Er ,teilt‘, ,trennt‘ selbst noch den Gottmenschen vom Leben. Aber wie der würfellenkende Zufall ist auch der Tod eine auf das diesseitige Leben begrenzte Macht, beschränkt auf die ,Teilung‘ diesseitiger Güter wie der Zufall bei der „Teilung der Kleider“ des Herrn. Der ironische Gegensatz der Adverbien euen und only in fast unmittelbar aufeinanderfolgenden, fast die Mitte des Achtzeilers bildenden Versen und an symmetrischen Taktstellen wie

Shouts  e v e n  from the Crucifix
And brings his Hammer down –
H e  o n l y  sells the Wilderness

beleuchtet so grell wie knapp Ausmaß und Grenze einer Macht, die sich als Tod deuten ließe.
Die Vermutung, parted der Kleiderteilungsszene der Passion schwinge im Auctioneer of Parting mit, darf sich auf mehrere Analoga in Emily Dickinsons Verhältnis zum Bibelwort gerade der Passionsberichte berufen; Einzelheiten aus ihnen hat sie wörtlich oder synonym variiert in den Text verschiedener Gedichte verwoben. Vers 35 des 27. Kapitels des Matthäus-Evangeliums enthält, wie bereits zitiert, den Passus „… parted his garments“. Ein Vers aus seiner unmittelbaren Nähe, Vers 39, „And they that  p a s s e d  by reviled him“ klingt, aus der menschlichen in die tierische Sphäre transponiert, nach in einer scheinbaren Kleinigkeit:

No Black bird bates his Banjo –
For  p a s s i n g  Calvary –

Aus dem tierischen wieder in den menschlichen, ja in den eigenpersönlichen Kontext zurückverwandelt, hallt der gleiche Bibelvers wider in:

And though I may not guess the kind –
Correctly – yet to me
A piercing Comfort it affords
In  p a s s i n g  Calvary –
To note the fashions – of the Cross
105

Vers 46 desselben Kapitels des Matthäus-Evangeliums

And about the ninth hour Jesus cried with a loud voice, saying, Eli, Eli, lama sabachthani? that is to say, My God, my God, why hast thou forsaken me?

erscheint mit seiner aramäischen Kernstelle so gut wie wörtlich in den schon anderwärts zitierten Zeilen (S. 86):

… the Prayer
I knew so perfect – yesterday –
That Scalding One –
Sabacthini
Recited fluent – here –

Ja nicht nur in anderen Gedichten, sondern sogar in unserem Gedicht von der Versteigerung tritt das Bibelwort der Passion in den profanen Text ein, und zwar nicht nur vermutlich, wie im Fall von parted:Parting, sondern sehr wahrscheinlich. Shouts even from the Crucifix mutet teils wie eine synonyme Variation, teils wie eine wörtliche Wiedergabe von Vers 46 „Jesus  c r i e d  w i t h  a  l o u d  v o i c e“ bzw. Vers 50 „Jesus, when he  h a d  c r i e d  w i t h  a  l o u d  v o i c e“ und von Vers 40 „If thou be the Son of God, comedown  f r o m  t h e  c r o s s“ an.
Jedoch gerade diese Wahrscheinlichkeit, daß auch Shouts even from the Crucifix unter die Echostellen der biblischen Passions berichte im Werk Emily Dickinsons zu rechnen sei, läßt Zweifel aufsteigen, ob unsere versuchsweise Gleichsetzung der Auktionator-Gestalt mit dem Tod (S. 91, 93) zu Recht bestehe. Weist die Ähnlichkeit dieser dritten Zeile unseres Gedichtes mit den angeführten Bibelstellen nicht eher auf den gekreuzigten Christus als den „Auktionator“?
Bei dem Versuch einer Antwort auf diese Frage wird zu prüfen sein, ob die lyrische Aussage He only sells the Wilderness nicht nur, wie bisher angenommen, auf den Tod, sondern auch, und vielleicht mit tieferem Recht, auf den Gottessohn am Kreuz zutreffe. Hier ließe sich so argumentieren: Auctioneer und sells sind Ausdrücke, die dem kommerziellen Bereich angehören. Auch die christliche Theologie, und zwar gerade dort, wo sie als Christologie das Kreuzesopfer auf Golgatha zu begreifen sucht, verwendet seit Jahrhunderten einen Terminus, dessen ursprünglicher Sinn in diesem kommerziellen Bereich zu Hause ist: redimere, redemptio, redemptor mundi – redeem, redemption, redeemer of the world – ,zurückkaufen‘, ,Rückkauf‘, ,Rückkäufer der Welt‘. Der übertragene, theologische Sinn wird im Englischen als ,deliver from sin and damnation‘,106 im Deutschen als ,erlösen‘ wiedergegeben. Emily Dickinsons Lyrik ist, wie schon beobachtet werden konnte, solches etymologisches Bewußtsein keineswegs fremd. Um die Welt ,von der Sünde und der Verdammnis zurückzukaufen‘, um ,God’s grace‘ zurückzukaufen, ,verkauft‘ der gekreuzigte Gottessohn the Wilderness, ,das irdische Leben‘.
Soweit haftet unserer Deutung von Emily Dickinsons  m ö g l i c h e r  Auffassung und Gestaltung der Passion nichts theologisch Gewagtes an. Gewagter dagegen wäre die Gleichsetzung des Kreuzigungsvorganges mit einer ,Versteigerung‘, die Gleichsetzung des Gottmenschen mit einem Auktionator. Vollzieht man sie, dann erscheint Christus als der Gottmensch, der das ,irdische Leben‘ gegen Höchstgebot, gegen Gottvaters Höchstgebot der ,Gnade‘ versteigert. Diese Auslegung verstößt nicht gegen eine Bedeutungsschattierung von ,parting‘:

The action of going away or setting, departure; also fig. (euphem.) Decease,  d e a t h. Arch.107

Sie verstößt aber auch nicht gegen die bekannte Art, wie Emily Dickinson Gott oder die drei Personen in Gott metaphorisch benennt. Eine Seite dieser Metaphorik ist nämlich ausgesprochen kommerziell. So begegnet Gott z.B. unter dem Namen eines ,Bankiers‘, „Heaven“ als „Exchequer“.108 Eine wahrscheinlich kommerziell-rechtliche Metapher, die vom ,Zeugen bei der Beilegung einer Streitsache gegen Entschädigung‘,109 taucht sogar in einem Kreuzigungsgedicht auf, dessen letztes Zeilenpaar uns unter dem Gesichtspunkt der Verschmelzung der religiösen mit der Liebeslyrik schon früher beschäftigt hat:

Our Lord – indeed – made Compound Witness –
And yet –
There’s newer, nearer Crucifixion
Than That –

Die Möglichkeit, daß unter der kommerziellen Figur des Auctioneer Christus zu verstehen sei, darf man also nicht von vornherein ausschließen. Welche Deutung den Vorzug verdient – der Auktionator als Tod oder als Christus –, ist an dieser Stelle des Interpretationsvorganges noch nicht entscheidbar. Sollte die Entscheidung vielleicht davon abhängen, welche von beiden Auslegungen sinnvoller mit den vier, vor allem den drei letzten Versen unseres Achtzeilers zu vereinen ist?

He only sells the Wilderness
The prices of Despair
Range from a single human Heart
To Two – not any more –

Wir hatten bisher (vgl. S. 93) auf Grund der symmetrischen Taktstellen

Shouts even from the Crucifix

He only sells the Wilderness

angenommen, daß sich only auf the Wilderness bezöge. Freilich muß man sich angesichts der vielen syntaktischen Freiheiten, die sich Emily Dickinson zu künstlerischem Zweck erlaubt, auch mit den syntaktischen Beziehungen He only und only sells rechnen, unter Umständen sogar mit einer beabsichtigten ,structural ambiguity‘, allerdings nicht in dem Maße, wie sie die Kurzlyrik von E.E. Cummings pointiert verwendet.110
Wir hatten außerdem, gestützt auf die Wahrscheinlichkeit des only… the Wilderness-Bezuges und eine vergleichende Motivanalyse, angenommen, daß das Verhältnis des menschlichen zum gottmenschlichen Leiden unter dem Parting wertvergleichend und nicht nur analogisch sei. Das Leiden des liebenden ,menschlichen Herzens‘ stelle eine ,neuere, näherliegende Kreuzigung‘ dar (S. 89).
Faßt man dieser Annahme entsprechend die letzten drei Verse unseres Gedichtes als Steigerung des viertletzten auf, dann würde man The prices of Despair, ,das, was Verzweiflung kostet‘ oder, auf die Versteigerungsallegorie bezogen, ,das, was für Verzweiflung geboten wird‘, als Steigerung über the Wilderness hinaus verstehen dürfen. Christus ,verkauft‘ gegen das Höchstgebot ,Gnade für die Menschheit‘ sein ,irdisches Leben‘. Für ,Verzweiflung‘ dagegen liegen ,die Preise‘ zwischen einem oder ,zwei Menschenherzen‘, d.h. insofern höher, als das Menschenherz, ein Synonym für die Menschenseele, unsterblich ist.
Vielleicht ist es mehr als Zufall, daß die Seele in einem Gedicht Emily Dickinsons als mutineer erscheint,111 wortbildungsmäßig also genauso wie Auctioneer als Suffixation mittels –eer. Christus als Auctioneer, die Seele als mutineer – die Pole einer für Miss Dickinsons Gesamtwerk zentralen Spannung, Christus und die Seele, wären sinnvoll durch das gleiche Suffix zusammengehalten. So würde die Gleichheit der Wortbildungsweise um ein weniges die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß der Auktionator mit dem Gekreuzigten identisch sei.
Hält man an der Gleichsetzung von Auktionator und Tod fest, büßen die letzten drei Verse zwar nicht die Steigerung ,zeitliches zu ewigem Leben‘ ein, wohl aber die Steigerung ,gottmenschliches zu menschlichem Leiden unter dem Parting‘. Diese zweite Steigerung scheint, gerade weil sie sich in anderen Gedichten Emily Dickinsons nachweisen läßt, bezeichnender für ihre lyrische Welt und den Platz von Religion und Liebe in ihr.
So entfaltet der Achtzeiler vom Auctioneer of Parting seinen tieferen Sinn und die eigenere Art seiner Autorin, wenn dieser Versteigerer nicht als Tod, sondern als der gekreuzigte Gottmensch gedeutet wird. Jedoch ein Rest von Unklarheit bleibt am Ende eines langen Interpretationsweges zurück. Unser Gedicht steht damit nicht allein unter den lyrischen Werken seiner Verfasserin.
Es wurde als abschließendes Beispiel gewählt, um auch  d i e  prices of Despair zu verdeutlichen, die auf solchem philologischem Weg in die dichterische Welt Emily Dickinsons trotz aller Vorarbeit der Forschung auch heute noch zu zahlen sind. Dagegen bedarf es keiner Verdeutlichung, um zu erkennen, wie eng sich unter dem Kreuz von Golgatha die religiöse und die Liebeslyrik, dort, wo sie die Trennung vom Geliebten durch den Tod ausspricht, miteinander verflechten.
Diese letzte Probe aus einem lyrischen Überfluß begreift bei aller ihrer eigenartigen Problematik viele Züge ein, die im Rückblick auf die vorausgehenden Interpretationsbeispiele sofort vertraut wirken.
Ein Merkmal unseres Auctioneer of Parting, die Knappheit des Ausdruckes, verbindet ihn mit allen Textproben, einerlei, ob sie aus Technik-, Natur-, Religions- oder Liebesdichtung gewählt waren. Freilich schaltet und waltet die ,economy of expression‘, deren Höhepunkt das Kolibrigedicht von ca. 1879 bildete, diesmal auf Kosten der Klarheit. Daß mit der Knappheit die Schlichtheit der Sprache Hand in Hand geht, ist ein Kennzeichen nicht nur dieses späten Liebesgedichtes, sondern sehr vieler anderer Versschöpfungen, von The Sky is low – the Clouds are mean bis zum ersten Zeilenpaar von The going from a world we know. Mit solcher Schlichtheit verträgt sich in unserem Gedicht vom Auktionator die bildliche, bis zu Symbol und allegorischer Szene gesteigerte Aussageweise, und auch diese Neigung zum Bild begegnete uns vorher schon oft. Der Sinn der Bilder weist jetzt wie damals immer wieder in metaphysische und religiöse Bereiche. Zeugnisse dafür waren die Lokomotive docile and omnipotent, die Frage nach menschlicher technischer Leistung und göttlicher Allmacht andeutend, die Schneeflocke in der Wagenspur und der Flug des Kolibri als ,Reiseweg‘ der Vergänglichkeit, das Geheimnis des Jenseits ,hinterm Berg‘; letztes Zeugnis ist der Auktionator, der ,vom Kreuz herab ausschreit‘.
Es waren im ganzen nur zehn Gedichte, deren Auslegung versucht wurde, zehn aus einer Fülle von fast 1.800. Damit stellt sich unausweichlich die Frage, wieweit sich diese bescheidene Auswahl zutrauen darf, stellvertretend für das Ganze zu sprechen. Die Antwort fällt dem nächsten Abschnitt zu.

 

VIII. Der Repräsentanzwert der Interpretationsbeispiele für das Gesamtwerk
Anders als bei Einzelwerken Whitmans läßt sich der Repräsentanzwert der Einzelgedichte Emily Dickinsons nicht zunächst für den kleineren Zusammenhang der jeweiligen Gedichtsammlung, sodann für den größeren des Gesamtwerkes ermitteln. Ihre Lyrik ist zu ihren Lebzeiten weder in Einzelsammlungen noch als Gesamtveröffentlichung erschienen.. Von diesem ungeheuer vielgliedrigen Werk sind nicht mehr als sieben Gedichte während Emily Dickinsons Leben gedruckt worden.112 Fast 600, also etwa ein Drittel waren viele englische Lyrik des elisabethanischen Zeitalters und die meiste amerikanische der Kolonialzeit in handlicher Form Freunden und Bekannten zugeschickt worden. Miss Dickinson hatte sich eine private Leserschaft, keine öffentliche, geschaffen. Zunächst gegen, dann sehr bald mit dem Willen der Verfasserin kamen aus der Forschung längst bekannten Gründen, die hier nicht wiederholt zu werden brauchen, laufende Veröffentlichungen dieses fruchtbaren lyrischen Schaffens nicht zustande. Zu großen Bündeln geordnet, die gelocht waren und wie kleine Bände zusammenhielten,113 wurde der größte Teil ihrer Dichtung erst nach ihrem Tode vorgefunden. „Fast 200“ Gedichte fanden sich sozusagen im Rohzustande mit Bleistift auf „Briefumschläge, alte Briefe, Packpapier oder Zeitungsränder“ niedergeschrieben.114 So gelangte das Werk von Amerikas größter Lyrikerin auf uns. The Poems of Emily Dickinson Including variant readings critically compared with all known manuscripts, die kritische Gesamtausgabe ihrer Lyrik, erschien erst 1955.
Unsere Auswahl hatte sechs Gedichte aus den Jahren von ca. 1862 bis ca. 1866, davon allein vier um 1862 entstandene, ferner drei aus der Zeit von 1879 bis 1884 zu eingehenderer Interpretation herangezogen. Eine Dichtung, die scherzhafte über den Abendstern, war unbekannten Datums. Diese Auslese ist insofern stellvertretend-gültig, als 1862 das weitaus fruchtbarste Schaffensjahr ist und die Spanne 1859 bis 1865 zu Emily Dickinsons fruchtbarster Periode überhaupt gehört. Vor 1858 sind uns lediglich fünf Gedichte erhalten.115 Die Schaffenskraft dauert auch nach 1865 bis zum Todesjahr 1886 stetig weiter, obwohl die Produktion der beiden letzten Jahre dem Umfang, nicht dem künstlerischen Rang nach, gering ist.
Das Frühwerk, das 1850 einzusetzen und vier Jahre später bereits wieder zu versiegen scheint.116 war mithin in unserer Auswahl nicht vertreten. So spärlich es ist (bzw. überliefert ist), zeigt es immerhin schon eine Verschmelzung von zwei Merkmalen, die in das Hauptwerk übergehen sollte: die Verschmelzung des Komischen, besonders des Scherzhaft-Drolligen, mit dem Metaphysischen und vor allem mit dem Religiösen. Das Eintreten alt- und neutestamentlicher Motive in die Dichtung, das sich an den Textproben vom Lokomotiven-Gedicht bis zur Allegorie der Versteigerung auf Golgatha beobachten ließ, vollzieht sich bereits in dieser Frühperiode des Schaffens. Speziell ein Motivkreis, der aus Emily Dickinsons Werk nie mehr verschwinden sollte, bildet sich schon damals: Paradiesesunschuld und Sündenfall.117 Auch die großen Themen von Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit, Liebe, Natur beginnen sich in dieser kleinen lyrischen Welt eines jungen Mädchens zwischen 20 und 24 Jahren keimhaft zu regen. Formal zeichnet sich die Neigung zum längeren, mehrstrophigen Gedicht erheblich kräftiger ab als zum kürzeren, zweistrophigen. Das gedrungene lyrische Gebilde aus zwei Vierzeilern, die Lieblingsform des späteren Schaffens, ist überhaupt noch nicht vertreten.
Aus den beiden Tatsachen, daß nur fünf datierbare Gedichte zwischen 1850 und 1854 vorliegen und das nächste datierbare auf ca. 1858 weist, kann man natürlich nicht zwingend schließen, Emily Dickinsons Jugendlyrik spreche selten und sei in den vier Zwischenjahren völlig verstummt. Wahrscheinlicher ist, daß Selbstkritik die Anfängerin dazu veranlaßte, den größten Teil ihrer frühen Dichtung zu vernichten. Den Fortgang des Schaffens, der zwischen 1858 und 1861 nachweisbar ist und seinen entscheidenden Antrieb „einer nicht eindeutig zu bestimmenden Krise, wahrscheinlich der unerwiderten Liebe zu einem bisher unbekannten Freund“, verdankt, kennzeichnen ein allmähliches Zurücktreten der Naturlyrik „sentimentaler“ Art118 und ein zum Teil geradezu „vulkanhaftes“ Ausbrechen leidenschaftlicher, oft erotischer Gefühlsbewegung, aber gleichzeitig ihre Bändigung durch künstlerische Formung. Die ,economy of expression‘ ist an der Arbeit und gestaltet den Achtzeiler ohne strophische Gliederung, besonders aber das Vierzeiler-Paar zu adäquaten Ausdrucksmitteln. Insofern können mindestens zwei von den vier Textproben, die wir aus der Zeit „um 1862“ ausgewählt haben, Prayer is the little implement und A Charm invests a face, eine Formtendenz auch schon dieser Übergangsphase von 1858 bis 1861 mitvertreten. Ihr steht unser allererstes Interpretationsbeispiel, das ebenfalls auf ca. 1862 festlegbare Lokomotiven-Gedicht, mit einem anderen Formzug nahe. Entsprechend der direkten Aussprache der Gefühle in dieser Schaffensphase herrscht die Ich-Perspektive vor. I like to see it lap the Miles – fügt sich diesem lyrischen Typus ein. In diesen Jahren, besonders 1861, entstehen Liebesgedichte von einer persönlichen „Unmittelbarkeit“ – wie z.B. Wild Nights – Wild Nights!,119 deren „Intensität“ unser wahrscheinlich etwas späterer Auswahltext Mineby the Right of the White Election! (,,um 1862“) trotz aller seiner Leidenschaftlichkeit nicht mehr völlig zureichend spiegelt. Gültiger wieder vertreten unsere Beispiele ein auffälliges Klangmerkmal dieser Übergangsstufe mit, in dem sich wie im Vierzeiler-Paar die Suche nach der angemessenen Formensprache verrät: im Experimentieren mit dem Nebeneinander harmonischer und disharmonischer Reimtypen.
Die anschließende Phase von 1862 bis 1865 zeigt Emily Dickinson quantitativ und qualitativ auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Die innige Nähe ihrer Liebeslyrik zu ihrer religiösen Dichtung, das Verschmelzen beider Erlebniswelten in vielen ihrer Gedichte, die Meisterschaft der neuen, experimentell gewonnenen Form des Achtzeilers oder des Vierzeiler-Paares, klanglich gebunden durch Alliteration, motivliche Wiederkehr von Lauten, vor allem aber durch sinnvollen Wechsel der Reimarten, dazu die sachliche Aussageweise aus der Er-, Sie- oder Es-Perspektive, die um so gespannter auf die unverkennbare Eigenart der Dichterstimme hinhören läßt,120 die Schnelligkeit der aufeinanderfolgenden Bilder und Symbole – alle diese Züge sind nicht die einzigen, aber wesentlichen Kennzeichen einer solchen schöpferischen Periode. Unsere Auswahl trug gerade ihr besonders gut Rechnung. Doch die Mannigfaltigkeit der Stimmungen – im Verhältnis der Liebenden zum Geliebten, im Verhältnis der Menschenseele zu Gott – kam in der schmalen Auslese nur unzulänglich zur Geltung. Was sind vier „um 1862“ datierbare Gedichte gegen die 366, die in jenem Jahr wie eine Sturmflut aus dieser jungen Frau von 32 Jahren herausbrachen oder über sie hereinbrachen, da Dichten ja nicht immer der Kontrolle des einzelnen Menschen überlassen ist, sondern Stimme Gottes wie der Dämonen werden kann.
Die biographischen Bedingungen eines derart elementaren Schaffensvorganges sind von der Dickinson-Forschung noch nicht völlig, aber hinreichend geklärt und gegen romantische Spekulationen abgehoben worden. Der vorliegenden Studie kommt es nicht darauf an, die Ergebnisse dieses mühsamen und nötigen Klärungsprozesses zusammenzufassen. Vielmehr zielt sie darauf ab, die Stellung unserer bescheidenen zehn Textproben so klar wie möglich im Muster des Gesamtwerkes zu erkennen. Deshalb ist sie nicht blind dafür, daß das Teilmuster jener vier Höhepunktsjahre von den fünf hierhergehörigen Interpretationsbeispielen in den folgenden Punkten nur unvollkommen oder gar nicht gespiegelt wird: in dem Hin- und Hergerissenwerden zwischen Liebessehnsucht und Verzicht, in dem unheimlichen Sich-Hineinsteigern in eine Ehegemeinschaft, die realiter nicht bestand, in der Variationsbreite der sakramentalen und eschatologischen Züge der Sprache dieser Liebes- und Ehelyrik, in dem Ineinander von erschüttertem liebenden und erschüttertem gläubigen Menschen, also in dem Ausmaß der Krise eines Menschen zwischen Jugend und Lebensmitte, in der Tapferkeit, mit der diese Krise gemeistert wurde.
Selbst innerhalb des Einzelmotivs ,Gebet‘ ist die Haltung der spöttischen Skepsis, die Prayer is the little implement veranschaulichte, keineswegs die einzige, geschweige die typische. Neben ihr steht etwa zu gleicher Zeit, „early 1862“,121 folgende:

At least – to pray – is left – is left –
Oh Jesus – in the Air
I know not which thy chamber is –
I’m knocking – everywhere –
Thou settest Earthquake in the South –
And Maelstrom, in the Sea –
Say, Jesus Christ of Nazareth –
Hast thou no Arm for Me?
122

Auch diese Haltung des ,Anklopfens‘ im Vertrauen auf das Heilandswort, daß den Anklopfenden ,aufgetan werde‘, ist in der religiösen Lyrik jener schöpferischen Phase vorhanden und begrenzt die stellvertretende Gültigkeit unseres interpretierten Prayer-Gedichtes.
Das Schaffen, das nach 1865 folgt und bis 1886 anhält, mag bei dem jetzigen Stand der Forschung einheitlicher scheinen als es vielleicht in Wirklichkeit ist. Das Einheitliche dürfte in folgenden Zügen liegen: die religiöse Lyrik und die Naturdichtung gehen oft ineinander über, ,Natur‘ scheint manchmal pantheistische Merkmale zu tragen; die Gestaltungsweise verschmilzt Beschreibung und Symbol, der unmittelbare Gefühlsausdruck tritt nachdrücklich zurück; wo die Aufhöhung des Konkret-Beschreibbaren in das Sinnbildliche nicht gelingt, wird die Aussage abstrakt; die Sparsamkeit des Ausdrucks wirkt virtuos; neben dem Vierzeiler-Paar gedeiht der noch bündigere einfache Vierzeiler, der oft epigrammatisches Gepräge annimmt; die Skala der Stimmungen reicht nach wie vor von der Komik bis zur Verzweiflung; die innere Heiterkeit, die vorher selten war, nimmt langsam, doch keineswegs stetig zu.
Mißt man an dieser knappen, sehr vereinfachenden Typisierung123 unsere vier Interpretationsbeispiele, das Schneeflockengedicht von ca. 1866, die Kolibriverse von etwa 1879, die Zeilen vom Geheimnis hinterm Berg, die Allegorie von der Auktion auf Golgatha, beides Werke aus dem Jahr 1884 oder seiner Nachbarschaft, so wird man erkennen, daß sie weithin repräsentativ sind. Eine formale Entwicklung, die steigende Bedeutung des einfachen Vierzeilers, spiegelte sich allerdings nicht in den ausgewählten Proben. Auch zwei thematische Tendenzen der späteren Zeit, das wachsende Interesse an naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Fragen sowie das gelegentliche Gestalten nationaler Gefühle,124 wurden von unseren vier Zeugnissen nicht vertreten.
Aufs Ganze des lyrischen Werkes gesehen, haben unsere zehn Textauslegungen und die wenigen hilfsweise herangezogenen Proben mehr seine Mannigfaltigkeit als seine Einheit betont. Gewiß ist die wesentliche Grundlage dieser Einheit, eine Frömmigkeit eigener, im Widerstand gegen den Spätpuritanismus entwickelter Prägung, deutlich geworden. Doch reicht solche Einsicht nicht aus, um so überzeugt wie Stanley T. Williams die Einheit des Werkes in Emily Dickinsons „Fortschreiten in einem sich vertiefenden spirituellen Leben“ sehen und es als ein Seitenstück zu Dantes Vita Nuova auffassen zu können.125 Genauso wenig genügt diese Einsicht, um so beharrlich wie Clark Griffith das Gesamtwerk der Amhersterin als im Kern tragisch zu verstehen.

 

IX. Werk und Umwelt
Sicher fördert es das Verstehen und Nacherleben der ausgewählten Gedichte wie des Gesamtwerkes, wenn man das Schaffen der Autorin aus ihrer zeitlichen und räumlichen Umwelt, von der intimsten, familiären bis zur umfassendsten, amerikanisch-abendländischen, deutet. Die amerikanische Dickinson-Forschung hat sich dieser Aufgabe mit der angelsächsischen Völkern eigenen Liebe zum Biographischen gewidmet.126
Auf die Gefahr hin, allzu sehr zu vereinfachen, sei hier eine knappe Zusammenfassung einiger, freilich nicht unbestritten gebliebener Ergebnisse solcher Untersuchungen des Zusammenhanges zwischen Werk und Leben gewagt:127 Nach außen ein Kleinstadtleben im neuengländischen Honoratiorenhaushalt eines auch politisch und wirtschaftlich interessierten und tätigen Juristen, im Zeitalter des hochbürgerlichen Lebensstils an der Wende von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft, am Rande des Spannungsfeldes zwischen Nord und Süd; nach ganz außen das Leben einer sonderlingshaft anmutenden alternden Dame inmitten der patriarchalischen genteel tradition vor der neueren Ehescheidungsgesetzgebung und vor der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der berufstätigen middle-class woman; nach innen ein Leben, das durch Freundschaft und Briefwechsel mit einigen wenigen begabten Juristen, Theologen, Literaten, Wissenschaftlern und Publizisten, durch den Widerstreit von überliefertem übersee-kongregationalistischem Christenglauben einerseits, zeitgenössischem Unitarismus und Transzendentalismus andererseits, dazu durch das wache, kritische Gefühl für Technik und Naturwissenschaft, dem geistigen Kern des Zeitalters eng verbunden blieb; nach ganz innen ein Leben, das durch das persönliche Leid unerfüllbaren Liebens und unerfüllten Sehnens nach echter kirchlicher Gemeinschaft, vor allem aber durch die tapfere Überwindung dieses vereinsamenden Leides im Kunstwerk jedem Menschen verbunden bleibt – kurzum ein Leben, das manche Züge des lyrischen Schaffens, seines Gehaltes und seiner Formensprache, tiefer verstehen und höher achten läßt.
Statt solche Strichzeichnung zu einem Porträt zu entwickeln und detaillierte Ergebnisse der amerikanischen biographischen und kulturgeschichtlichen Forschung für die Erhellung unserer Textproben zu nutzen, darf sich ein Nicht-Amerikaner, ein – in beiden Sinnen – amateur ihres Werkes, eine ergänzende Aufgabe stellen.

 

X. Der Aussagewert von Werk und Leben
Er möchte abschließend fragen: Was vermögen dieses eigenartige Werk und dieses merkwürdige Leben Emily Dickinsons über Amerika und vielleicht nicht nur über Amerika auszusagen? Vor diesem immer wieder lockenden, aber heiklen Versuch einer Antwort wird der Fragende gut daran tun, sich einer Mahnung und eines Hinweises Eduard Sprangers zu erinnern, die der große Psychologe und Pädagoge in seiner Abhandlung Wie erfaßt man einen Nationalcharakter? ausgesprochen hat:

Für die  K u n s t  in allen ihren Gestalten ist es wesentliche, wennschon nicht einzige Aufgabe, Inneres in sinnlich erscheinenden Bildern  a u s z u d r ü c k e n. Es ist selbstverständlich, daß sie – neben manchem anderen – entschiedene Züge des Volkscharakters zum Ausdruck bringt. Freilich liegen zwischen der Seele des Schöpfers und seiner nationalen Bestimmtheit einerseits, dem Material und den Sachbedingungen des Schaffens andererseits noch Eigenbereiche, die nicht unmittelbar charakterologisch auszuwerten sind. Kunstgattungen, Motive, Techniken, Stile können auch von Volk zu Volk, von Epoche zu Epoche wandern. Es bedarf des feinsten Blickes, um gerade das volkscharakterologisch Bedeutsame herauszusehen, herauszuhören, herauszulesen… Das reichste Bild eines Volkes enthüllt sich in seiner großen tragischen Dichtung, nirgends sonst in gleicher Reinheit und Tiefe.128

Der relativ sicherste Aussagewert von Emily Dickinsons Schaffen und Leben betrifft ihr Neuengländertum. Stanley T. Williams, der ja selbst an einer neuengländischen Universität, der zweitältesten des Nordostens, Yale University, gelehrt hat, meint, aber selbst hier noch sehr vorsichtig:

Mit  e i n e r  Seite ihres Wesens  s c h e i n t  sie Neuenglands kulturelle Isolierung, seinen Rückzug auf sich selbst zu versinnbilden.129

Sicher wird, etwa im Vergleich mit ihrem größten lyrischen Zeitgenossen Whitman, gerade dieser „Rückzug auf sich selbst“ an Emily Dickinsons Dichtertum deutlich, und unsere Einleitung ging von diesem Anderssein aus. Der Gang der amerikanischen Literatur zwischen Bürgerkrieg und erstem Weltkrieg bestätigt bis zu gewissem Grade die Verlegung des dichterischen Schwergewichts aus Neuengland weg und die Herausbildung dezentralisierender, nach New York, San Francisco, Chicago zielender Tendenzen. Aber solche „Isolierung“ Neuenglands kann Sammlung auf Innerlichstes, auf das Verhältnis des Menschen zu Gott, bedeuten. Auch von Emily Dickinson gilt, was Austin Warren vom „neuengländischen Charakter“ aussagt:

There are two strains in the New England character: the Yankee trader and the Yankee saint (often a complex of scholar, priest, and poet). … My saints are, none of them, canonized; but they are, whether priest, and of whatever ,communion‘, men I recognize, and celebrate, as those to whom reality was the spiritual life, whose spiritual integrity was their calling and vocation.130

Als Dichterin des „geistlichen Lebens“ setzt sie die wesentliche Tradition Neuenglands in der amerikanischen Literatur, besonders in der Lyrik, nicht nur fort; vielmehr ist sie bisheriger künstlerischer Höhepunkt einer Entwicklung, die von Anne Bradstreet im frühen Kolonialzeitalter bis zu Robert Lowell in der jüngsten Gegenwart reicht. Gerade er kann als Verfasser des Quaker Graveyard in Nantucket veranschaulichen.131 wie die neuengländische Überlieferung einer Dichtung des ,geistlichen Lebens‘ an der Beharrlichkeit eines Grundthemas, des Todes, auch drei Generationen nach Emily Dickinson noch immer deutlich abzulesen ist.
Die charakterologische und soziologische Seite dieser Überlieferung, eine Seite, für deren Bezeichnung man Emersons Terminus self-reliance entlehnen darf,132 kehrt in Emily Dickinsons Hang zum Für-Sich-Sein wieder. Der junge Hawthorne, der über zehn Jahre zurückgezogen in seiner Vaterstadt sich und seiner Kunst lebte, Thoreau, der am Walden Pond zeitweilig ein modernes Einsiedlerleben führte, bezeugen den gleichen Zug.
Daß mit Emily Dickinson eine Frau an der Lyrik Neuenglands nachdrücklich mitschreibt, ist in  d i e s e r  Landschaft der amerikanischen Literatur ebenfalls nichts Neues. Die ,first frontier‘ brachte in der Pioniersfrau Anne Bradstreet die erste Dichterin Neuenglands, ja des gesamten englischen Sprachraums jenseits des Nordatlantik hervor,133 mit Phillis Wheatley trat auf demselben musenfreundlichen Boden des späten 18. Jahrhunderts die erste Negerin in die amerikanische Lyrik ein.134
Der ausländische Betrachter wird es Kundigeren überlassen müssen, aus der eigentümlichen Komik in Emily Dickinsons Werk die regionale Grundnote herauszuhören. Immerhin glaubt auch er, mindestens in der Lyrik ihres Landsmannes Robert Frost einen ähnlichen Ton zu vernehmen.
Und wieder fällt einem Frost, aber auch die frühkoloniale Epigrammatik Neuenglands ein,135 wenn man in ihrer ,economy of expression‘ ein dauerndes Element regionaler lyrischer Formtradition zu erkennen meint.
Ein anderes genauso auffälliges Merkmal der lyrischen Form Emily Dickinsons, ihr zunächst so wenig abwechslungsreich anmutender Vers- und Strophenbau, verrät das Neuengländische solchen Dichtens am ehesten: das Kirchenlied des angelsächsischen Nonkonformismus, dessen überseeischer Schwerpunkt in Neuengland liegt, bot ihr die Bauformen, aus denen sie auswählte und die sie selbständig von innen her umformte.136 ,Common Metre‘, der jambische, regelmäßig wechselnde Vier- und Dreitakter, gefügt zur vier- oder achtzeiligen Strophe, und ,Short Metre‘, der ebenfalls jambische, aber unregelmäßig wechselnde Drei- und Viertakter (mit dem strophischen Baumuster 2 Drei-, 1 Vier-, 1 Dreitakter) waren in unseren Gedichtbeispielen besonders häufig vertreten.
Wie unmerklich in amerikanischer Dickinson-Forschung regionaler und überregionaler, gesamtamerikanischer Aussagewert ineinander übergehen können, möge ein Passus aus dem Dickinson-Abschnitt von Roy Harvey Pearce’s The Continuity of American Poetry (1961) beleuchten:

She is  t h e  P u r i t a n  d i a r i s t  who no longer has to believe that her acutely sensed private experiences are valuable and explicable only as types of something larger than they – something given from above, from outside herself. Which is to say, she is the extreme  A m e r i c a n  P r o t e s t a n t  self which, when it comes fully alive in its greatest poems, is in effect able to set its institutional and religious commitments aside and be radically and unflinchingly itself, radically and unflinchingly free.137

Der ausländische ,outsider‘ wird es abermals dem amerikanischen ,insider‘ anvertrauen, die Berechtigung solcher Verallgemeinerung einer religiösen Haltung zu klären. Er selbst wird es vorziehen, den zweiten Schritt seines Bemühens, den Aussagewert von Emily Dickinsons Schaffen zu bestimmen, nicht unmittelbar von ,Neuengland‘ nach ,Amerika‘ zu lenken, sondern nach der zwischen ihnen liegenden besiedlungs- und kulturgeschichtlichen Einheit des ,alten Ostens‘. Er folgt damit der Methode der amerikanischen Erforschung des amerikanischen Englisch – aber nicht nur ihr –, wenn sie von den Sprachverhältnissen Neuenglands zur ,Aussprache des Englischen in den atlantischen Staaten‘ (der USA) fortschreitet.138 Der zweite, über Neuengland hinausreichende Aussagewert von Emily Dickinsons lyrischer Welt kommt nämlich dann in Sicht, wenn man sie gegen den Hintergrund der großen Literatur des alten Ostens im 19. und 20. Jahrhunderts stellt. Ihre Schöpfer, Poe, Emerson, Hawthorne, Melville, Whitman, O’Neill und, durch Abstammung wie Universitätserziehung diesem Altsiedelraum verbunden, T.S. Eliot, sind die Gestalter einer metaphysischen und religiösen Erfahrung, die, einerlei in welcher Abwandlung, ob als Erleben des Numinosen oder einer für gottgleich gehaltenen ,Natur‘, ob als Konflikt von spätpuritanischer Orthodoxie und rationaler Skepsis, als würdig getragenes Leid oder als Nachfolge Christi, die hohe Überlieferung im Schrifttum vor allem des alten Ostens bildet. Von ihrer Mächtigkeit zeugt nicht zuletzt das Werk Emily Dickinsons, frauliches, die spannungsreiche Wirklichkeit einer ,privaten Welt‘139 enthüllendes oder durchsichtig machendes Seitenstück zu jenen Versionen der dichtenden Männer, deren Schöpfungen Wirklichkeit deuten oder ihre Mitmenschen geistig führen möchten.
Wohl keiner inner-amerikanischen Beschränkung mehr unterliegt der eigentümliche Aussagewert, der dem auffälligsten Formzug von Emily Dickinsons Lyrik zukommt: der Kürze. Berührt es nicht merkwürdig gesetzmäßig, daß dasselbe Land, dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hawthorne und Poe die Entfaltung der short story zu hoher Kunst zu danken ist, das im 20. Jahrhundert mit Wilder das Kurzdrama zu international einflußreicher Leistung entwickelte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine klassische Kurzlyrik zeitigte? Dieses ,Testen‘ der Sprache auf ihre Tragfähigkeit, von dem die Revisionen in den Handschriften unserer Autorin ein besonders beredtes Zeugnis ablegen, dieses Experimentieren mit der Mehrdeutigkeit von Wort und Syntax als Versuch, vieles durch eines zu leisten – sie sagen hier von seiten der amerikanischen Dichtung etwas über Amerika aus, worüber man im allgemeinen nur von der amerikanischen Technik Aufschluß erwartet.140
Eigenartig amerikanisch möchte dem ausländischen Beobachter auch die gesellschaftliche Lebens- und Phantasieform von Emily Dickinsons Dichten erscheinen. Die gesellschaftliche Lebensform ist die des kleinen Freundeskreises um einen intensiv erlebenden Menschen fast ohne jede persönliche Fühlung mit anderen Dichtern seines Volkes und seiner Zeit. Daß neuengländische Dichter dieser Lebensform besonders zuneigen, wurde schon am Beispiel Hawthornes und Thoreaus deutlich. Aber auch die beiden New Yorker in der amerikanischen Literatur des mittleren und späten 19. Jahrhunderts, Melville und Whitman, dazu in der Literatur des 20. Jahrhunderts O’Neill aus dem alten Osten, Jeffers, der Wahlkalifornier, Faulkner aus dem tiefen Süden, ja selbst noch der manchmal so gesellig wirkende Mittelwestler Hemingway – sie alle bezeugen, daß der  g r o ß e  amerikanische Autor  k e i n  geselliges Wesen ist.
Der Einsamkeit der Lebensform entspricht ,die Einsamkeit der Einbildungskraft‘. „The solitude of American imagination at its most creative moments“ hat Thomas H. Vance diesen Zug genannt und ihn gegen ähnliche Erscheinungen in Europa abgesetzt:

The Romantic poets of England, France and Germany were devoted to remote areas of experience and familiar with phantoms. But the privacy and inwardness of the American authors whom we have named [Poe, Hawthorne, Melville and Henry James – or, for that matter,… Emerson, Thoreau, Emily Dickinson or even Walt Whitman], though clearly related to literary developments in Europe, is of a different and in many ways more extreme sort.141

Solche „solitude of the imagination“ offenbart sich in Emily Dickinsons Monologen des Geschöpfes oder in der Anrede des einsamen Geschöpfes an den Schöpfer genauso wie in Poes Schloßherrn in The Fall of the Hause of Usher, in Hawthornes Rev. Dimmesdale am nächtlichen Pranger des verlassenen Marktplatzes in The Scarlet Letter oder in Melvilles Kapitän Ahab an Bord der einsam auf den Weltmeeren kreuzenden ,Pequod‘.142 Auf eine besonders enge motivliche Verwandtschaft zwischen zwei amerikanischen Gestaltungen des ,einsamen Menschen‘, Henry James’ The Jolly Corner und dem von uns nicht berücksichtigten Dickinson-Gedicht „I Years had been from Home“143 machte Vance, vom Blickpunkt von Dartmouth im Osten, schon 1952 aufmerksam.144 Bis in die jüngste Gegenwart fällt der Schatten dieses Phänomens der Einsamkeit über die amerikanische Sicht der eigenen Literatur und führt, vom geographisch entgegengesetzten Blickpunkt – Montana –, im Munde Leslie Fiedlers zu einer Klage, die die ,continuity of American literature‘ unterschätzt:

Merely finding a language, learning to talk in a land where there are no conventions of conversation, no special dass idioms and no dialogue between classes, no continuing literary language – this exhausts the American writer. He is forever beginning, saying for the first time (without real tradition there can never be a second time) what it is like to stand alone before nature, or in a city as appallingly lonely as any virgin forest.145

An der „solitude of American imagination at its most creative moments“ lassen diese sich ergänzenden Aussagen keinen Zweifel.
Sicherlich wird Emily Dickinsons Gesamtwerk noch andere amerikanische Charakteristika erschließen helfen.146 Unsere Betrachtung eines Teilausschnittes muß sich damit begnügen, am Formzug der Kürze und am literarsoziologischen Moment der Einsamkeit von Lebensstil und Einbildungskraft gesamtamerikanische Eigenheiten großer Dichtungen und Dichter des 19. und 20. Jahrhunderts als wahrscheinlich erwiesen zu haben.
Der Horizont, gegen den die Gestalt der ,Klausnerin von Amherst‘ steht, weitet sich ein drittesmal, wenn man die Frage nach dem amerikanischen zur Frage nach dem angle-amerikanischen (britisch-amerikanischen) Aussagewert ihrer Wortkunst ausdehnt. Was die Forschung gern als ,englisches Erbe in der amerikanischen Literatur‘147 benennt, zeigt sich sofort unter seinem wohl richtigeren Doppelaspekt von Erbübernahme und Erbumformung, wenn man folgende zwei, auf den ersten Blick nicht zusammengehörig erscheinende Merkmale an Emily Dickinsons Dichtertum ins Auge faßt: das Eschatologische und das ,Metaphysische‘ (im Sinn der ,metaphysical poetry and prose‘ des englischen 17. Jahrhunderts).
Selbst in unseren wenigen Textproben zeichnete sich der Einfluß des Glaubensgehaltes und der Sprache der Geheimen Offenbarung ab. Gewiß läßt sich diese Einwirkung schon an der frühkolonialen Lyrik feststellen, etwa in Thomas Tillams ergreifendem „Uppon the first sight of New-England June 29 1638“, an seiner visionären Haltung und der Vorstellung vom ,Lamm Gottes‘:

methinks I heare the Lambe of God thus speake148

und in der Schlußstrophe von Anne Bradstreets Contemplations, die die Unvergänglichkeit des Auserwählten, „whose name is grav’d in the white stone“, der Vergänglichkeit der irdischen Machthaber triumphierend entgegensetzt.149 Gewiß entläßt wiederum der Schluß, die Anspielung auf die apokalyptische Endzeit formsicher an das Ende des Kunstwerkes rückend, den Leser von Poes The Fall of the House of Usher (1839) mit dem gewaltigen eschatologischen Bilde:

there was a long tumultuous shouting sound like the voice of a thousand waters – and the deep and dank tarn at my feet closed sullenly and silently over the fragments of the „HOUSE OF USHER“.150

Vgl. Geheime Offenbarung

And I heard a voice from heaven, as the voice of many waters, and as the voice of a great thunder: … Babylon is fallen, is fallen… and death and hell were cast into the lake of fire.151

Gewiß schwingt die Babylon-Symbolik selbst noch in der humorvoll-skeptischen Pariser Luft von Henry James’ The Ambassadors und ihrer Bildersprache leise mit;152 denn Henry war nicht umsonst der Sohn eines Vaters, der das apokalyptische Bild des ,neuen Himmels und der neuen Erde‘ zur Society the Redeemed Form of Man verweltlicht hatte.153 So fehlt es von Tillam, dem englischen Auswanderer aus dem Europa der 1630er Jahre, bis zu Henry James, dem amerikanischen Rückwanderer in das Europa des späten 19. Jahrhunderts, und über James hinaus wahrhaftig nicht an Zeugnissen für die Tradition des Eschatologischen im Schrifttum der Vereinigten Staaten.
Aber man würde sie allzu amerikanisch sehen, wenn man hinter ihr vergäße, was Herbert Schöffler mit Recht eingeschärft hat:

Was für Bunyan und Wesley, die großen Freikirchenführer, gilt, muß erst recht für die von ihnen geleiteten Hunderttausende gelten: Der größte Teil des Neuen Testamentes konnte für sie an Tagesbedeutsamkeit und Farbe mit dem Alten Testament nicht wetteifern. Nur ein Buch daraus, das letzte der Bibel überhaupt, ist schicksalhaft geworden für den inneren Gang des Freikirchentums: Die Offenbarung Johannis vermag zwar kindlichem Sinn kaum etwas zu geben, aber die Phantasie der aufgeregten Zeiten des Protestantismus und der unteren Schichten der protestantischen Völker ist durch sie immer wieder angeregt worden.154

Erst gegen den Hintergrund des mutterländischen Freikirchentums gestellt, läßt sich das Eschatologische in der lyrischen Welt Emily Dickinsons in seinem vollen historischen Gewicht, als lebendiges Glied einer britisch-amerikanischen Gesamtüberlieferung, erfassen. Die vergleichende Frage, ob sie in der britischen, speziell der englischen, oder in der amerikanischen Dichtung stärkere oder künstlerisch ergiebigere Spuren gezeitigt habe, ist interessant, aber sekundär.
Trotzdem kann solches vergleichende Fragen von erstrangiger Bedeutung werden: dort nämlich, wo nicht mehr nur Bewahrung, sondern auch Umbildung mutterländischen Erbes zur Erwägung steht. In diesen Problemkreis gehören das verschiedene Verhältnis der amerikanischen und der inselenglischen Lyrik zur ,metaphysical poetry and prose‘ des englischen 17. Jahrhunderts, die Blüte des Symbolismus im amerikanischen Gedicht und Roman des 19. Jahrhunderts, die auffällig umfassende Verschmelzung des Naturalismus und des Symbolismus in der amerikanischen Dichtung des 20. Jahrhunderts einschließlich des Dramas.
Die Frage wird akut, sobald man die Beziehung von Emily Dickinsons bildlicher, speziell ihrer symbolischen und allegorischen Sprache zur Ausdrucksweise der ,metaphysicals‘ einerseits, der zeitgenössischen englischen Lyrik des 19. Jahrhunderts andererseits prüft. Ihre gehaltliche und formale Nähe zur einen – bei aller Freiheit des Sich-Anverwandelns –, ihre künstlerische Ferne zur anderen – bei allem Interesse an ihren Autoren155 – sagen Aufschlußreiches über die lange Nachwirkung einer literarischen Auseinanderentwicklung aus, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann. Bereits Austin Warren hat in seinem Edward Taylor-Aufsatz (1941) diese Gabelungsstelle klar erkannt:

With the Restoration of the Stuarts, England moved into a new literary era, of which – according to received genealogy – Jonson was the ancestral representative, Waller and Denham the approximate inaugurators, and Dryden the heroic figure. But the same Restoration effected an isolation of the New England colonies. Politically, theologically, and morally out of sympathy with the age which followed the collapse of their hopes for England, the colonists of Massachusetts Bay took little interest in the literature which was its product. If, for English literary history, the seventeenth century breaks, at about 1660, into contrasting periods, baroque and neoclassical, for American literary history the century constitutes a unit; and the advent of the new mode is delayed until the age of Anne – and that of Pope’s correspondent and Boston’s laureate, Mather Byles.156

Harold S. Jantz, der beste Kenner der frühkolonialen amerikanischen Lyrik und ihrer europäischen wie Übersee-europäischen Verflechtungen, hat Warrens These 1944 bekräftigt und ausgebaut.157 Charles Feidelson hat neun Jahre später  e i n e  einschneidende Wirkung dieser mutterländisch-kolonialen Auseinanderentwicklung, „unambiguous narrative and orthodox meditation“ in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, „a new awareness of symbolic method“ in der amerikanischen, erhellt.158
Dieses immer wieder fesselnde Spiel von Verpflanzung und Umformung, in das wir an den Exempeln des Eschatologischen und der ,metaphysical tradition‘ sowie ihrer Umbildung zum amerikanischen Symbolismus des 19. Jahrhunderts Einblick gewannen, zeigt sich von einer dritten Seite. Wieder wird sie im kleinen Bereich unserer Auswahltexte greifbar, wieder weist sie auf das 19. Jahrhundert, auf „Saxonism“ als eine besondere Art gemeinsamen britisch-amerikanischen Überlieferungsbewußtseins.159 Die Vorliebe Emily Dickinsons für das einsilbige Wort germanischer Herkunft und manchmal besonders bäuerlicher Verbreitung war uns in ihrer Dichtersprache öfters begegnet. Die wechselnde Haltung zu „Saxonism“ läßt sich an einer scheinbaren Kleinigkeit, dem Schwanken zwischen „Saxen“ und „the English language“, an der Doppelfassung ein und desselben Gedichtes ablesen, obwohl es sich an dieser Stelle sicher nur um wechselnde Nuancen der gleichen Haltung handeln dürfte.160 Mit dieser Stiltendenz, hinter der ein bekanntes, das germanische Element betonendes Bild englischer und amerikanischer Geschichte steht, bezeugt Emily Dickinson – in ihr sicher unbewußt gebliebener Gemeinschaft mit der „germ theory“ germanophiler Historiker – für die amerikanische Seite,161 was für die britische die Mundartdichtung von William Barnes und die lyrische Kunst eines G.M. Hopkins, wiederum in der geistigen Umwelt germanenfreundlicher Geschichtsschreibung von Carlyle bis Freeman und Green, vertritt. Im Leben Emily Dickinsons dürfte Carlyle als Vermittler des „Saxonism“ britischen Gepräges fungiert haben.162
Unter dem literaturgeschichtlichen und -vergleichenden Gesichtswinkel der ,transplantation‘ und ,transformation‘ rückt ihr Werk die amerikanische und die englische Dichtung als eine  k ü n s t l e r i s c h e  P a r t n e r s c h a f t  in unser Bewußtsein. Aber es leistet denselben Dienst auch der amerikanisch-englischen Dichtung als einem  e i n h e i t l i c h e n  G a n z e n: dort nämlich, wo sich in diesem Werk das Religiöse und das Komische, das Offenbarungswort der Bibel und das Wort der profanen Sprache, zu einer für Nicht-Angelsachsen grotesken Mischung verbinden. Die spaßige, ja Farcenhafte Verhörszene in Irvings Rip Van Winkle, auf deren Höhepunkt der zu Unrecht politisch verdächtigte holländisch-amerikanische Bauer für einen kurzen Augenblick die Züge des zu Unrecht Verfolgten schlechthin, die Züge Christi, annimmt,163 Mark Twains Huck Finn, der sich Tom Sawyer beim Besteigen des Wracks im Mississippi als „Christopher C’lumbus discovering Kingdom-Come“ ausmalt,164 Chestertons sprechender Esel, der mitten in der selbsterzählten phantastischen Geschichte seiner Erschaffung den Hinweis auf Christi Einzug in Jerusalem aufblitzen läßt,165 T.S. Eliots „Triumphal March“, in dem der ,kleine Cyril‘ am Ostertage die Kirchenglocken, vielleicht sogar das Glöckchen der heiligen Wandlung, grotesk mißversteht als Glockenzeichen des ,crumpets‘-Verkäufers:166 alle diese Beispiele, denen sich andere aus Graham Greenes The End of the Affair oder aus Evelyn Waughs Romanen an die Seite stellen ließen,167 gehören in die geistige Nachbarschaft unserer Autorin, ihres schelmischen, witzigen, satirischen oder grotesken Umgangs mit dem Heiligen.
Das Eschatologische, die ,metaphysische Tradition‘, ,Saxonism‘ und die Mischung des Religiösen mit dem Komischen werfen ein Riesennetz literarischer Beziehungen zwischen Mutterland und Übersee über die Fluten des Nordatlantik.
Der Ausblick weitet sich erneut, wenn Emily Dickinson unter den Gesichtswinkel der ,Frauenlyrik im 19. Jahrhundert‘ tritt. Der Aussagewert, den ihr Schaffen dann gewinnt, umspannt einen Raum, der nicht mehr nur Amerika und Großbritannien, sondern auch Deutschland einschließt. Alle drei Länder bringen im 19., nach-romantischen Jahrhundert dichtende Frauen hervor, in deren Lyrik die Liebe zwischen Mann und Frau und das Verhältnis des Geschöpfes zu Natur und Schöpfer – beide Erlebniskreise überschneiden sich oft – zentral sind. Deutschland geht mit Annette von Droste-Hülshoff (geb. 1797) voran, es folgt England mit Elizabeth Barrett Browning (geb. 1806); eine Generation später, im gleichen Jahr 1830, beginnt diesseits des Atlantik das irdische Leben Christina Rossettis, jenseits des Atlantik das Leben Emily Dickinsons. Das geistliche Jahr der Droste, Sonnets from the Portuguese von Robert Brownings Gattin, die Monna Innominata-Sonette der Anglo-Italienerin – um nur eine Auswahl zu nennen – verdienten einmal einen Vergleich mit Einzelwerken aus der transatlantischen lyrischen Welt unserer Autorin. Ihr Schaffen steht dafür zum Zeugnis, daß der Aufstieg der Frauenlyrik des 19. Jahrhunderts nicht ein europäischer, sondern ein abendländischer Vorgang ist.168
Abendlandweit reichen schließlich zwei geistige Prozesse, deren einer sich zwar nicht in unseren Textproben spiegelt, aber wegen seiner symptomatischen Bedeutung hier einbezogen sei. Beide zeichnen sich merkwürdig früh in der Lyrik der Neuengländerin ab, bevor sie auch an anderen Stellen der westlichen Welt begegnen und klassische Form empfangen. Der eine Vorgang betrifft die Verwandlung der Sprache aus einem Gestaltungsmittel in einen Gestaltungsgegenstand der Dichtung. „The power of words to evoke a mood is the subject of half a dozen poems“ heißt es schlicht in Thomas H. Johnsons ,interpretive biography‘ Emily Dickinsons.169 Bei ihr wie bei den späteren, von Mallarmé bis T.S. Eliot, ja bis in die jüngste Gegenwart erscheint das Gedicht über die Sprache als Zeichen kritischen Wachwerdens für das beglückende und unheimliche Medium, in dem und nicht nur mit dem der Dichter schafft. Der andere Vorgang, an dem sie teilhat, vollzieht sich als Wendung zu dem, was Rilke „Weltinnenraum“ genannt hat. Es dürfte kein Zufall, sondern Anzeichen gewisser geistiger Ähnlichkeiten zwischen dem Dichter aus Prag und der Dichterin aus Amherst sein, wenn sein „Weltinnenraum“ als „this inner room“, sein symbolischer Nexus von ,,Blume und Buch“ als „A Blossom, or a Book“ wiederkehrt, also Wort- und Bildgebrauch stellenweise eigenartig übereinstimmen.170
Doch selbst noch über das Abendland hinaus, hinaus über die Frauenlyrik des vorigen Jahrhunderts, die wachsende Zahl der Gedichte über die Sprache und die genauso verräterische Wendung zum „Weltinnenraum“ in der Lyrik des 20. Jahrhunderts, weist ein Zug, der wie kein anderer das Allgemein-Menschliche dieses neuengländischen Werkes enthüllt, paradoxerweise gerade eines Werkes, das Archibald MacLeish als Dichtung der ,p r i v a t e n  Welt‘ bezeichnet hat.171 Je tiefer wir uns, sie langsam auslegend, in einige wenige Gedichte einlasen, desto fester bestätigte sich uns der Eindruck einer unverkennbar eigenen, bis in die Pausen und ihre graphischen Zeichen eigenen Stimme, mit der Alltäglichstes in seiner Hintergründigkeit, der Augenblick als durchsichtig gewordene Ewigkeit ausgesagt wurde.172 Das Geheimnis der Einzigartigkeit der menschlichen Person und das Wunder, trotzdem von Person zu Person über die Zeiten hinweg sprechen zu können und verstanden zu werden – mit dieser Grundaussage über den Menschen wirkt Emily Dickinsons ,private Welt‘ als enthüllende Selbstdarstellung jedes einzelnen und unser aller zugleich:

das allein ist Dichtung –
Freilich, am Ende entdeckst Du verwundert,
daß es einfach dein Leben,
das Leben des Menschen ist.
173

Unser philologisch interpretierender Weg – nur einer unter den vielen eingangs skizzierten – in die Lyrik einer großen Amerikanerin führte von Einzelproben ihres Schaffens bis zur Frage nach seinem Aussagewert. Wir suchten ihn zu fassen in sich stetig weitendem Rahmen: von Neuengland, dem alten Osten und dem Ganzen der Vereinigten Staaten über die anglo-amerikanische und die abendländische Gemeinsamkeit bis zum Menschheitlichen. Die stichhaltigste Probe auf diesen universalen Aussagewert liegt wohl darin, daß selbst noch unser Empfinden für ihn von Emily Dickinson vor-empfunden und ausgesprochen worden ist. Unsere Situation, das Gewahrwerden der weltaufschließenden Kraft ihres Dichtens, unser Uns-selbst-Erahnen in ihrem Werk, ist bereits vorweggenommen in den beiden ersten Strophen ihres Gedichtes über ,den Dichter‘:

This was a Poet – It is That
Distills amazing sense.
From ordinary Meanings –
An Attar so immense

From the familiar species
That perished by the Door –
We wonder it was not Ourselves
Arrested it – before
174

 

 

 

Vorwort

Das Buch „Die amerikanische Lyrik und der deutsche Leser“ ist noch nicht geschrieben. Selbst das Kapitel „Das zwanzigste Jahrhundert“ sucht noch einen Autor. Bücher über amerikanische Versdichter sind, von Whitman, Pound und Eliot abgesehen, bei uns selten, umfangreichere Studien speziell zu Emily Dickinson oder William Carlos Williams – trotz sich anbietender Seitenblicke auf Annette von Droste-Hülshoff und Gottfried Benn – seltener, Vergleiche der beiden Amerikaner miteinander am seltensten, ja sie fehlen völlig. Das deutsche Interesse am Roman, an der Kurzgeschichte, dem Drama Amerikas steht im umgekehrten Verhältnis zu dem an der Lyrik. Dies ist der Eindruck, den man aus der Übersetzungsstatistik, den Theaterspielplänen, der Verlagswerbung, den Buchbesprechungen, der wissenschaftlichen Sekundärliteratur gewinnt. Erfreulicherweise gibt es hier und da günstigere Eindrücke, und sie scheinen sich zu mehren. Sie stützen sich auf den Wagemut einzelner Anthologisten, auf die Entdeckerfreude literarischer Journalisten sowie auf die Pionierleistungen älterer Übersetzer und ihrer Verleger, dazu mancher jüngeren Dichter, Übersetzer und Kritiker in Personalunion, die zugleich Verfasser zweisprachiger lyrischer Auswahlbände sind. Sie können sich außerdem auf veränderte Forschungsneigungen des deutschen amerikanistischen Nachwuchses, auf die Hilfestellung amerikanischer Gastprofessoren, vor allem aber auf Menschen aus der jungen Generation berufen, die zum Lesen, Hören oder Sprechen lyrischer Texte, zum Singen ihrer Vertonungen bereit sind.
Zu erkunden, welche nicht immer auf Deutschland beschränkten Gründe für den trotzdem beharrlich großen weißen Fleck auf unserer geistigen Landkarte der amerikanischen Literatur und ihrer Lyrik verantwortlich sind, wäre eine lohnende Aufgabe für den Erforscher und Vergleicher deutscher literarischer Auslandsbeziehungen. Die terra incognita ein wenig verringern zu helfen ist die Hoffnung dieser Reisen in das Dickinson- und Williams-Land.
Es bleibt die angenehme Pflicht des Dankes an jeden, der ihre Vorbereitung unterstützt hat: an die Herausgeber und Verleger der wissenschaftlichen Organe, die den hier vereinigten, auf den neuesten Forschungsstand gebrachten und durch eine Einführung verknüpften Studien in ihrer ursprünglichen Fassung Gastrecht gewährten, an den Carl Winter-Universitätsverlag, der sie in dieser neuen Form zum Druck annahm, an Priv. Doz. Dr. Klaus Lubbers, dessen Habilitationsschrift Der literarische Ruhm von Emily Dickinson der Einführung und dem ersten Teil der vorliegenden Zweitfassung oft zustatten kam, und an die Mitglieder zweier Oberseminare über Williams und die amerikanische Lyrik nach 1945. Dank gilt auch den in- und ausländischen Fachgenossen, die wissenschaftliche Wegbereiter für diese Schrift über zwei literarische Wegbereiter gewesen sind. Verpflichtet bin ich ferner den Bibliotheken der Universität von Michigan, Ann Arbor, der Research Library der Universität von Kalifornien, Los Angeles, und der Lilly Library der Universität von Indiana, Bloomington, die mir großzügig Zugang zu ihrem Bestand von Williams-Handschriften gewährte. Dankbar verbunden bin ich außerdem David Ignatow und Mrs. Mary Ellen Solt, Bloomington, Ind., für fördernde Gespräche über Williams’ Werk. Besonders aber danke ich meiner Frau, deren Rat meine Arbeit von der Planung bis zur Buchform begleitet hat.

Hans Galinsky, Mainz, im Februar 1968

Einführung

– Verbindungslinien zwischen Emily Dickinson und William Carlos Williams: ein Forschungsbericht. –

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I think it is just to say that the pioneers of twentieth century poetry were more conspicuously the Americans than the English, both in number and in quality… In the nineteenth century, Poe and Whitman stand out as solitary international figures: in the last forty years, for the first time, there has been assembled a body of American poetry which has made its total impression in England and in Europe.175

In dieser Ansicht, die er 1953 in einer Rede vor der Washington University seiner Vaterstadt St. Louis aussprach, treten in der Rückschau des längst zum Wahl-Engländer gewordenen T.S. Eliot das neunzehnte Jahrhundert amerikanischer Lyrik und die erste Hälfte des zwanzigsten zusammen und zugleich auseinander. Sie rücken zusammen vom Standpunkt ihres ,Eindruckes‘ nicht auf Europa, sondern, fast britischinsular anmutend, auf ,England und Europa‘; sie treten auseinander unter dem qualitativ-quantitativen Gesichtswinkel der Anzahl repräsentativer Lyriker in den beiden Zeiträumen. Eliot erkennt zwar nur zwei große Einzelgestalten von stellvertretender Gültigkeit für die Versdichtung des neunzehnten Jahrhunderts, aber ein ,geschlossenes Ganzes‘, ein ,Corpus‘, lyrischen Schaffens, das die Epoche vom zweiten bis zum frühen sechsten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts repräsentiere.
Zu diesem ,Corpus‘ rechnet er auch  W i l l i a m s. Wenn er ihn sogar zu „the pioneers of twentieth century poetry“ zählt, bedient er sich einer Metapher, die der für den Titel unseres Buches gewählten des „Wegbereiters“ nahe kommt. Die Gestalt dagegen, die sein Untertitel als Williams’ Partnerin heraushebt, Emily Dickinson, fehlt in Eliots Auslese der großen amerikanischen Lyriker des vergangenen Jahrhunderts.176 Sieht man von der Neuwertung der gesamten Literatur einer Epoche, der kolonialen, ab und beschränkt man sich auf die Neueinschätzung einer einzelnen Gattung eines bestimmten Zeitalters, so kann der eingangs zitierte Passus an einen bezeichnenden Urteilswandel erinnern: wohl keine Periode in der Geschichte einer amerikanischen Literaturgattung hat in den letzten anderthalb Generationen eine so einschneidende, wenn auch nur an eine einzelne Figur geknüpfte Umwertung erfahren wie die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts in der Geschichte der amerikanischen Versdichtung. Insofern jedoch Eliot von „international figures“ sprach, hat er weithin noch heute recht. Das ,internationale Ansehen‘ der Lyrik jenes Zeitraums beruht für das abendländische Bildungsbewußtsein nach wie vor auf Whitman; Emily Dickinsons ,internationale‘ Bedeutung ist noch später erkannt als ihre nationale anerkannt worden.
Aber selbst wo die Literaturgeschichtsschreibung des In- und Auslands die Lyriker jener Periode an Whitman und Emily Dickinson mißt, herrscht nicht immer Einigkeit über das Verhältnis der beiden Hauptgestalten zueinander. Gewiß hatte es schon gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts Versuche jüngerer Zeitgenossen, etwa des Literarhistorikers und -kritikers Arlo Bates (1850–1918), gegeben, im Schaffen der beiden gewisse Gemeinsamkeiten zu entdecken.177 Literaturwissenschaftler der Gegenwart setzen diese Linie fort178 oder betonen Gegensätze179 oder sehen beide Autoren im Verhältnis gegenseitiger Ergänzung.180 In der Zwischenzeit hatten sich manche Historiker der amerikanischen Literatur daran gewöhnt, Whitman und Emily Dickinson als Ausgangspunkte zweier getrennter Traditionen zu betrachten181 und diese neben die ältere Poe-Tradition zu rücken. Die Stellung der drei Überlieferungen zueinander verstand man als Gegenposition der Whitman- zur Poe- und Dickinson-Tradition. Alle drei, so empfand man, wirkten im zwanzigsten Jahrhundert weiter. Damit hatte das Bild, das man sich von der amerikanischen Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts machte, unvermerkt begonnen, das Ordnungsschema für das Verständnis ihres Lebens im zwanzigsten abzugeben. Diese Vorstellung einer dreisträngigen Weiterentwicklung wurde gelegentlich zum Bild einer zweisträngigen vereinfacht:

But at some indefinable point in the twentieth century the Lines of Poe and of Emily Dickinson seem to converge. Edwin Arlington Robinson, for example, who seems to belong in the Line of Emily Dickinson, is nevertheless ,classical‘ in his tastes and the strictness of his form. Wallace Stevens, who may be said to be in the Line of Poe, nevertheless shows… qualities of irony and paradox which are found also in the verse of Emily Dickinson. Here, in the work of Stevens, and in that of the youngest generation of American poets, the Lines of Poe and of Emily Dickinson are fairly joined, so that it is perhaps permissible to say, in speaking of contemporary verse, that there are two main styles of writing – one, the ,non-Whitman‘ style which shows careful craftsmanship and consciousness of the literature of the past, and which is compact and ordered (though not necessarily formal) and another, the ,Whitman‘ style, which seems to owe little to the past and is free in style and declamatory and plain-spoken in manner.182

Freilich läßt der englische Amerikanist Geoffrey Moore, der diese vereinfachte Zeichnung 1954 durchgeführt hat, ihr die Warnung folgen:

Only in the very widest sense may the work of contemporary American poets be said to fall into one or other of these two categories.183

Mit leisem Lächeln stellt der Beobachter literarhistorischer Sehweisen eines fest: Was sich für Moore 1954 von drei auf zwei Traditionsstränge reduzierte, vereinfacht sich 1961 für Roy Harvey Pearce weiter; Poe, Whitman und Emily Dickinson erscheinen nur noch als Spielarten des gleichen „egocentric style which is basic in nineteenth-century poetry.“184
Im gleichen Jahr 1961 stellt Earl H. Rovit wieder drei Typen auf, in denen trotz der neuen Bezeichnungen und der neuen, nunmehr paarweise angeordneten Figuren das alte Poe-Whitman-Dickinson-Triptychon durchschimmert: „the poet-as-prophet“ (Whitman, Eliot), „the poet-as-ironist“ (Poe, Frost), „the poet-as-image-maker“ (Dickinson, Stevens).185 Freilich bleibt auch – wie bei Pearce – die Einheit in der dreigliedrigen Vielheit gewahrt: in Anlehnung an Huizinga bildet „the poet as player“ für Rovit „the unity underlying the attempts of American poetry to find a form and sustaining identity for itself.“186 Vier Jahre später steuert nicht mehr Huizingas  , sondern Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik ein Ordnungsprinzip bei: der junge amerikanische Literaturhistoriker Albert J. Gelpi wendet „die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen“ auf die amerikanische Lyrik an. Whitman ordnet sich natürlich dem „Dionysian strain of American poetry“ zu, während

the deliberate and formalistic quality of Dickinson’s verse associates her rather with the diverse yet Apollonian tradition which proceeds from Edward Taylor through her to Eliot, Stevens, Frost, and Marianne Moore187

Der deutsche Betrachter solchen Typologisierens fühlt sich an dessen deutsche Blütezeit nach dem Ersten Weltkrieg – mit Fritz Strichs Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit (1922) als einflußreichstem Beispiel – zurückversetzt. Dort wurde, hier wird mit Begriffen gearbeitet, die für eine spezifische Literatur gelten möchten, aber sich im Grunde auf jede anwenden lassen. Rovit trägt diesem Einwand Rechnung, wenn er seinen Grundtypus nicht der Art nach, wohl aber der Intensität nach für Amerika beansprucht:

The poet per se – the poet of any culture – is of course the player par excellence. But the American poet has with an unusually forcible stress been pushed into the role of the player, for the same reasons that the Atlantic crossing presented the creative imagination with a new and explosive challenge.188

Wird wenigstens eine dieser Typenbildungen ausreichen, eine sinnvolle Beziehung zwischen Emily Dickinson und William Carlos Williams herzustellen?

 

2
In der Praxis literarhistorischen Zuordnens – Gruppen- und Paarbildens – ist es Pearce, dem Typologen, der drei Jahrhunderte amerikanischer Versdichtung auf zwei Grundtypen, den ,egozentrischen‘ oder ,adamischen‘ und den gemeinschaftsbetonten oder ,mythischen‘, zurückführt, wesentlich leichter gefallen als Moore, dem Wirkungsgeschichtler, William Carlos Williams einem übergreifenden Zusammenhang einzugliedern. Für Pearce ist Williams ein ,Talent‘, das lediglich die „new mode“ einer alten Tradition, der – nunmehr synonym bezeichneten – „Individual Tradition“, darstellt.189 Trotzdem unterbleibt jeder Vergleich dieses Erneuerers des ,egozentrischen Stils‘ im zwanzigsten Jahrhundert mit Miss Dickinson, deren ,Leistung‘ Pearce als „the fullest and most direct expression of that egocentrism basic to the mid-nineteenthcentury American style“ formuliert hatte.190 Obwohl er „the Adamic poem“ als „one which portrays the simple, separating inwardness of Man“ und als „that which at once forms and is formed by the vision of the world in which it has its being“ gerade im Hinblick auf die Neuengländerin definiert,191 obwohl er den Begriff des „poet in the Adamic mode“ gerade auch auf Williams anwendet,192 obwohl er, ihm anscheinend unbewußt, das Schalten beider Dichter mit dem gleichen Wort „imperious“ ausdrückt.193 erwähnt er dennoch nicht „Adam“ als sogar motivliche, explizite Gemeinsamkeit beider Werke. „Eden is that old-fashioned House“: Emily Dickinsons Gedicht, das mit dieser Zeile anfängt, wird zitiert,194 aber kein vergleichender Blick fällt auf die „Adam“-Verse in Williams’ Gedichtband Adam & Eve & The City (1936).195
Moore verfährt bei seinem Einordnungsversuch vorsichtig abstufend: mehr von Whitman als von Emily Dickinson „leite sich, so dürfe man sagen, William Carlos Williams stilistisch ab.196 Freilich wird diese Vorsicht sehr bald in der Formel „William Carlos Williams in the tradition of Whitman“ aufgegeben.197 Im rezeptionsgeschichtlichen Teil des vorliegenden Buches wird Moores These später wiederaufzunehmen sein. Die zugrunde liegende Vorstellung von einem Williams, der überwiegend Whitman nachfolge, veränderte sich in den mittleren 1960er Jahren nur leicht. In ihnen entstand die Metapher von der ,Brücke‘, die Williams von Whitman zu den ,Modernen‘ geschlagen habe, aber auch der bittere Vorwurf, die britische Verkennung der ,amerikanischen Tradition in der Lyrik‘ reiche ,über Williams… hinaus zurück bis zu Whitman sowohl wie zu Emily Dickinson‘.198
Bei allem Nachdruck auf die engere Verknüpfung mit Whitman hatte Moore immerhin die Verbindung des Mannes aus Rutherford mit der Frau aus Amherst nicht aus dem Auge verloren. Spätere Forschung erkannte solche Verbindungsfäden schärfer. So entdeckte bereits ein Jahr darauf, 1955, Glauco Cambon im ,Thema der Sprache als eines notwendigen Paradoxons‘ und in der durch Gedankenstrich verdeutlichten ,offenen Form‘ vieler ihrer Verse zwei Berührungspunkte der Lyrikerin mit dem Autor des ,long poem‘ Paterson. und der beiden Collected Poems-Bände.199 Gleichzeitig betonte er jedoch den „otherwise very different poet“ in ihr. Ein Jahrzehnt darauf gewahrte Moores britischer Fachgenosse Dennis Welland, dem das Denkschema von den drei Traditionssträngen der amerikanischen Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts durchaus noch geläufig ist,200 wie nahe bei einer vergleichenden Betrachtung von Meeresgedichten aus beiden Jahrhunderten Williams’ „The Sea Farer“ Emily Dickinsons „I started early, took my dog“ komme.201 In demselben Jahr 1965 erfaßte Gelpi Ähnlichkeiten in beider Handhabung der Sprache:

Like… William Carlos Williams…, Emily Dickinson sought to speak the uniqueness of her experience in a personal tongue by reconstituting and revitalizing – at the risk of eccentricity – the basic verbal unit.202

Selbst in der Metaphorik, soweit sich in ihr das Selbstverständnis ihres Dichtertums ausdrückt, hat er eine merkwürdige Übereinstimmung gefunden. Miss Dickinsons berühmtes mathematisches Bild vom Umkreis203 – „My Business is Circumference“ – kehrt abgewandelt wieder in den poetologischen Zeilen von Williams’ Spätgedicht „The Desert Music“:

an agony of self realization
bound into a whole
by that which surrounds us
204

Unter Williams’ Bekannten und Kritikern – oft beides in einer Person – gibt es mehrere, die uns unter den Dickinson-Anthologisten, -Rezensenten und -Kritikern wiederbegegnen werden. Zu ihnen gehören sein früher Londoner Gönner Harold Monro,205 sein amerikanischer Landsmann John Gould Fletcher, mit dem ihn seit 1914 bzw. 1916 die gemeinsame Mitarbeit an den Zeitschriften The Egoist (London) und Others (New York),206 in den 1940er Jahren die gemeinsame Übersetzung von Iwan Golls Jean Sans Terre verband,207 dazu Conrad Aiken, wie Fletcher Londoner ,expatriate‘, der ebenfalls zu Others beitrug.208 Zu Williams’ engerem Freundeskreis zählt der Maler-Dichter Marsden Hartley;209 unausgesprochen in seiner Lyrik, ausgesprochen in einem seiner Essays verrät sich seine Liebe zur Dichtung der Amhersterin. Von den amerikanischen Lyrikern der mittleren, während des Ersten Weltkriegs und kurz nach ihm geborenen Generation helfen John Ciardi210 und Richard Wilbur211 diese eigentümlichen indirekten Verbindungen zwischen Rutherford, New Jersey, und Amherst, Massachusetts, festigen. In beiden Dichtern treffen sich kritische Interessen an Dr. Williams mit kritischen und poetischen an Miss Dickinson.
Einen entsprechenden Schnittpunkt solcher Neigungen bildet innerhalb der amerikanischen Literaturwissenschaft der ,Kurator des Brander Matthews Dramatic Museum der Columbia Universität‘,212 Henry Wells. Von ihm, der 1947 eine noch heute sehr beachtenswerte Introduction to Emily Dickinson verfaßt hat,213 stammen zwei frühe Würdigungen von Williams Paterson.214
Daß unser Dichter-Arzt 1950 gerade in einem Brief an Wells, ohne die Komik der Situation zu spüren, schrieb: „His (my father’s) mother was Emily Dickinson of Cirencester“,215 daß also seine eigene Großmutter väterlicherseits genau so hieß wie die Amhersterin, zeigt, wie auch die Muse der Literaturgeschichte manchmal zu Scherzen aufgelegt ist. Sie hatte sich übrigens fast ein halbes Jahrhundert zuvor schon einmal einen Scherz geleistet. Dem jungen Williams, damals einem 22jährigen Medizinstudenten, hatte der bereits in anderem Zusammenhang erwähnte Arlo Bates im Jahre 1905 die Prognose gestellt:

Perhaps in twenty years… you may succeed in attracting some attention to yourself.216

Immerhin so nahe war der angehende Lyriker Williams, sicher ohne es gemerkt zu haben, dem Professor gekommen, der rund fünfzehn Jahre vorher, damals noch als Verlagslektor, zur Veröffentlichung des ersten Auswahlbandes aus Miss Dickinsons Gedichten geraten hatte. Wie Emily in Thomas Higginson, so hatte William Carlos in Arlo Bates das Orakel befragt, und in beiden Fällen befand es sich in Neuenglands literarischem Delphi, in Boston.
So ist die kontaktreiche Welt des  d o c t o r – p o e t  voller Wegweiser in die lyrische Welt einer ,Stillen im Lande‘. Daß er ihnen gefolgt wäre, läßt sich nicht beweisen. Den vielen Zeugnissen über  m ö g l i c h e  Kenntnis steht anscheinend nur eines über tatsächliches Wissen gegenüber. Williams hat seiner Landsmännin – ironischerweise in einem dokumentarischen Abschnitt, in einer Briefprosastelle, durch die Gegenstimme der ,Dichterin‘ – ein kleines Denkmal in Paterson, Buch I, gesetzt:

… you and I can do without each other, in the usual way of the sloughy habits and manners of people. I can continue with my monologue of life and death until inevitable annihilation. But it’s wrong. And as I have said, whatever snares I make for myself, I won’t weep over Poe, or Rilke,  o r  D ic k i n s o n, or Gogol, while I turn away the few waifs and Ishmaels of the spirit in this country. … You see, I am always concerned with the present when I read the plaintive epitaphs in the American graveyard of literature and poetry217

Der Brief trägt in der Gesamtausgabe (1963) von Paterson – schalkhafterweise? – die Initialunterschrift „E. D.“; in der Erstausgabe (1946) von Buch I hatte sie „T. J.“ gelautet.
Daß sich Williams noch erheblich deutlicher über seine neuengländische Landsmännin geäußert habe, erwähnte John Lucas in einem internationalen Kongreßvortrag von 1965:

In him (Doctor Williams) all America seems to coalesce, and much of American poetry as well. Owing a great deal to Whitman, he yet called Emily Dickinson his patron saint and Allen Ginsberg a good friend.218

Die religiöse Metaphorik, aus der die frühe Literaturkritik das beliebt gewordene Bild von der New England nun geschöpft hatte, hat sich also zwei Generationen später um eine weitere Gabe bereichert: das Bild der ,Schutzpatronin‘. Leider wird Williams’ Originalzeugnis nicht zitiert; es wäre der These dieser „Einführung“, die ohne die Kenntnis jener anscheinend direkten Selbstaussage des Dr. Williams konzipiert wurde, sehr willkommen gewesen.
Die Verbindungsfäden zwischen den beiden Dichtern lassen sich indes tatsächlich enger knüpfen, als es auf Grund der bisherigen literaturgeschichtlichen Zeugnisse, der biographisch greifbaren literarischen Umwelt und der nachgewiesenen oder behaupteten Namensnennung in Williams’ Werk den Anschein hat.
Dabei lohnt es sich, zunächst noch einmal den Blick auf Emilys Freund und Frühherausgeber Higginson zurückzurichten. In Miss Dickinson wie in Dr. Williams hat man nämlich neuerdings eine „rugged tradition“ innerhalb der amerikanischen Lyrik wirksam gesehen. „Rugged“ als Kennzeichen von Reim und Rhythmus der Amhersterin hatte gewiß schon die Kritik des frühen 20. Jahrhunderts erfaßt.219 Das gleiche Wort erscheint jedoch bereits in Higginsons Vorrede zur ersten Gedichtsauswahl (1890),220 und Mrs. Todds Vorwort zum Folgeband (1891) nimmt es, freilich nur noch im Vergleich, wieder auf:

like Wagner’s rugged music.221

Sieht man die hier beginnende ,öffentliche‘ Phase der Dickinson-Rezeption literarsoziologisch und vergleicht man sie mit der Aufnahme von Williams, so fallen die erregte, zwiespältige Anfangsbeurteilung im In- und Ausland, die langsame, abgewogenere allgemeine Anerkennung, die Hochschätzung bei den jüngeren Dichtern als weitere Gemeinsamkeiten auf. Selbst noch gewisse Ansatzpunkte der Kritik ähneln sich. Auf der negativen Seite lauteten sie: Naivität, ja Primitivität, Dunkelheit, Formlosigkeit. Als teilweisen Grund solcher fehlenden Geformtheit hielt man ,zu hastiges Schreiben‘ bereit.222 Erst die seit 1955 mögliche Einsicht in den Variantenreichtum der Gedichte223 hat diese vermeintliche Erklärung für Miss Dickinsons Formensprache außer Kraft gesetzt, die fortschreitende Erschließung von Dr. Williams’ nachgelassenen Handschriftfassungen erweist sie auch für sein Werk mehr und mehr als hinfällig. Auf der positiven Seite hat man die Einfachheit und Wahrheit beider Autoren gerühmt, ihren Sinn für den Ausdruckswert der Farben,224 ihren Mut zum Experiment und – mindestens in Amerika – ihr Amerikanertum, ja ihre regionale Verwurzelung. „I see – New Englandly –“225 sagte das lyrische Ich eines bekannten Gedichtes von Emily Dickinson über sich selbst aus; „a local pride“ bezeugt Williams von sich im Vorspruch zu Paterson. Selbst – freilich nur mittelbaren – Assoziationen mit der altamerikanisch-indianischen Welt hing die frühe Kritik von Emily Dickinsons Dichten zeitweilig nach. Den anspielungsreichen Namen „Indian Pipe“, die volkstümliche Bezeichnung für Emily Dickinsons Lieblingsblume, jene ,wachsweiße Pflanze‘, „that lives on dead organic matter in moist woods of North America“226 – die Blütenstengel sehen wie indianische Tonpfeifen aus! – hatte Higginson als Teil des Titels für die zweite Gedichtssammlung vorgeschlagen. In seiner Besprechung der ersten Sammlung hatte Bates im November 1890 geäußert:

There is a certain rude and half barbaric naivete in many of the poems. They show the insight of the civilized adult combined with the simplicity of the savage child. There is a barbaric flavor often discernible, as if this gentle poet had the blood of some gentle and simple Indian ancestress in her veins still in an unadulterated current.227

Nicht in biographischer oder biographisch-kritischer Anspielung, sondern in dichterischer Unmittelbarkeit hat Williams in Paterson und vorher schon In the American Grain (1925) die indianische Welt in sein Bild Amerikas eingefügt.228
Im Mittelpunkt zwischen negativer und positiver Kritik treffen sich Martha Dickinson Bianchis Ansicht von ihrer Tante als „the poet of the unpoetic“ (1924)229 und Wallace Stevens’ Wort über Williams’ „passion for the anti-poetic“ (1934),230 aber auch Martha Winburn Englands Bemerkung, „(her) organizing principle… was the supreme importance of the fluctuating moment“ (1965),231 und Sister M. Bernetta Quinns Zuordnung von Williams zu einer ganzen Tradition solchen ,Fluktuierens‘, zur Metamorphic Tradition in Modern Poetry (1955).232
Wo beide Dichter nicht mehr Objekte, sondern Subjekte der Kritik sind, fällt eine weitere Gemeinsamkeit auf: die kritische Haltung zum Christentum des Elternhauses. Seinem Spätkalvinismus ist die dichtende Frau immerhin näher geblieben als der dichtende Mann seinem Unitarismus.
Schließlich und vor allem gemeinsam sind zwei Arten der Wirkung, die beide Autoren ausüben. Richard B. Sewall hat zur Wirkung Emily Dickinsons auf ihre  K r i t i k e r  gesagt:

… we still are not quite sure of her … The image of almost every other major lyric poet is by comparison fixed and certain.233

Dasselbe läßt sich von Williams behaupten. Die andere gemeinsame Wirkung erstreckt sich auf die Dichter Amerikas. Ihren Ausgang nahm sie und nimmt sie noch heute von der Eigenart der Bilder, der Reimbehandlung oder des Reimverzichtes, des Satzbaus und der Prosodie, sie alle nur Zeichen einer bald tragischen, bald komischen Egozentrik im Schaffen zweier Experimentatoren der dichterischen Sprache.

 

3
Eines doppelten inner-amerikanischen Anstoßes – die auslands-amerikanischen, an Pound und Eliot geknüpften und die außer-amerikanischen Anstöße einzubeziehen ist nicht Aufgabe der vorliegenden Studie – scheint die amerikanische Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts bedurft zu haben: des einen, der von einer Frau der 1830er Generation, einer Neuengländerin des Anglo-Saxon stock, ausging, des anderen, den ein über fünfzig Jahre später geborener Mann der first native generation gab, der Sohn eines im dänisch-westindischen St. Thomas aufgewachsenen Engländers und einer Puertoricanerin französisch-baskischer und spanisch-jüdischer Abstammung. So verschieden die Zeit, so bizarr verschieden die Herkunft, so einschneidend verschieden die sprachliche Frühumwelt – einsprachig in dem einen, dreisprachig (spanisch-französisch-englisch) in dem anderen Elternhaus234 –, so gemeinsam ist beiden Autoren die literarhistorische Rolle der Wegbereitung für die moderne Lyrik.
Als Emily Dickinson 1886 starb, war William Carlos Williams gerade drei Jahre alt. Vier Jahre später erschien der erste Auswahlband aus den Gedichten der Toten. Nur neunzehn Jahre trennten ihn von Williams’ ersten gedruckten Versen (1909). Von der fünften posthumen Veröffentlichung, von The Single Hound (1914), an bis zur kritischen Ausgabe der ,Gedichte‘ (1955) und ,Briefe‘ (1958) laufen beide Publikationsbahnen nicht mehr getrennt, sondern nebeneinander her. Einen ähnlichen Verlauf nimmt ihre Rezensions- und Übersetzungsgeschichte im außer-englischen Sprachraum. Kräftiger scheint sie erst in den 1930er bis 1950er Jahren einzusetzen.235 Daheim erleben die 1920er Jahre das allmähliche Hineinwachsen beider Dichter in das literarische Bewußtsein Amerikas, in sein Bewußtsein einer lyrischen ,Modeme‘. Selten zeichnet sich in der Literaturgeschichte das Zusammenspiel einer über ein halbes Jahrhundert älteren, schon durch ihre verzögerte Publikationsgeschichte zeitgenössisch-jung anmutenden Künstlerin und eines tatsächlich Jüngeren bei der Wegbereitung für eine moderne Lyrik so klar ab wie am Beispiel jener längst gestorbenen, sonderlingshaften Junggesellin aus dem Patriziat eines College-Städtchens in Massachusetts und jenes geselligen, Alterskrankheiten zäh überstehenden, langlebigen Kleinstadt-Doktors aus dem New Jersey-Vorortgebiet von New York.
,Wegbereiter‘, ,Pionier‘, ,Bahnbrecher‘, ,Vorläufer‘, ,Vorwegnehmer‘, ,Ahnherr‘, ,Stammvater‘ sind bildhafte Termini aus dem Fachwortschatz der Literaturwissenschaft. Mit deren Hilfe versucht sie das Verhältnis späterer literarischer ,Gruppen‘, ,Schulen‘, ,Bewegungen‘, ,Tendenzen‘ zu früheren Einzelgestalten der Literaturgeschichte zu fassen oder einen seinerzeitigen Außenseiter in den Gang dieser Geschichte einzuordnen. Oft verwenden auch solche ,Gruppen‘ selbst derartige Termini. Sie möchten sich als die Erfüllung einer künstlerischen Hoffnung, als die, für die der Weg bereitet wurde oder für die Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden, betrachten, ihre eigene, von den Zeitgenossen noch nicht anerkannte Art rechtfertigen oder sich mit ebenfalls noch nicht gewürdigten, als geistesverwandt empfundenen Figuren der literarischen Vergangenheit trösten. Objektive Ähnlichkeit, einerlei ob durch Nachahmung entstanden oder nicht, und subjektives Ähnlichkeitsbewußtsein der Späteren mit Früheren helfen die ,Tradition‘ oder die ,Traditionen‘ einer Literatur bilden. In diesem Rahmen haben die Fachwörter ,Wegbereiter‘, ,Vorläufer‘ und ihre Verwandten eine gewisse Nützlichkeit, auch für den, der nicht eine ,Evolution‘ oder ein geheimes ,Telos‘ in der Literaturgeschichte am Schaffen sieht.
Man mag Dichtwerke noch so gründlich ,aus ihrer Zeit‘ zu verstehen suchen; ihre Lebendigkeit bezeugt sich dennoch nur darin, daß sie ,über ihre Zeit hinaus‘ auf Leser, Kritiker und Dichter späterer Zeiten wirken, die schöpferischen Begabungen anreizend zur Einverleibung der fremden Anregungen ins eigene Werk oder aufreizend zur Herausbildung eines betont eigenen Stils als eines Gegentypus. Solche Lebendigkeit ist den Werken von Emily Dickinson und Williams eingeboren. Diese Gemeinsamkeit der Wegbereiterschaft bildet den wichtigsten vergleichbaren Zug der beiden Dichter. Er vor allem rechtfertigt es, zwei Studien, die zuerst getrennt erschienen, in revidierter und ergänzter Fassung zusammen zu veröffentlichen.

 

4
Es ist noch nicht lange her, daß die Wirkung jedes einzelnen der beiden Lyriker erkannt worden ist. Es ist noch viel weniger lange her, daß die beiden Wirkungen auf ein und dasselbe, vielschichtige Wirkungsergebnis, auf die mit dem Imagismus einsetzende ,moderne‘ Lyrik Amerikas, bezogen wurden. The lnfluence of Ezra Pound hat K.L. Goodwin in seinem gleichnamigen Buch beschrieben;236 ,the influence of William Carlos Williams‘ hat bisher noch kein Literarhistoriker zum Thema einer Monographie gewählt; der Wirkung Emily Dickinsons ist als erste Studie eine Magisterthese, Annie Laurie Robeys „Emily Dickinson: A Forerunner of Modern American Poetry“ (1928), nachgegangen.237 Sieben Jahre später entdeckt Gay Wilson Allen vom Standort des Prosodiegeschichtlers drei wesentliche Ähnlichkeiten zwischen der Amhersterin und den Imagisten, äußert sich aber nur in einem Punkt zur Frage eines ,Einflusses‘; er wählt die vorsichtige Formulierung „taken up … as a valuable precedent“:

… her irregularities of meters are more likely to consist of uneven-length lines rather than erratic accentuation; but the line-divisions have been taken up by the „free versifiers“ as a valuable precedent for them. And Mr. Aiken’s characterization of her thought as „hard, bright and clear“ is the central ideal of the „Imagists“. Finally, Emily Dickinson’s poetic style is ejaculatory, suggestive rather than completely formed, and it is perhaps in this respect most of all that she is a link between Emerson and the „Imagists“.238

Als inmitten des Zweiten Weltkrieges Walter F. Schirmer eine zusammenhängende Darstellung der englischen und der amerikanischen Literatur versuchte, „erinnert“ ihn „Dickinsons beste Lyrik“ „in den rasch aufsteigenden Metaphern, den scharfen Epitheta, den Gedankensprüngen und parabelartigen Zusammendrängungen“ zunächst einmal „an die metaphysische Schule“ der Lyrik des Mutterlandes; erst dann interessiert, daß sie „wie diese im 20. Jahrhundert als verwandt und vorbildlich empfunden wurde“.239 Insofern Schirmer Miss Dickinsons Lyrik – freilich nur der „besten“ – die Rolle eines „Vorbildes“ zuerkennt, geht er über Allens These vom „Präzedenzfall“ hinaus. Geleitet von der gegenteiligen Ansicht, „she became the force and not the model“,240 verfolgt wenige Jahre darauf Henry Wells im Kapitel „Poetry as Prophecy“ seiner Introduction to Emily Dickinson (1947) die „Kraft“ ihrer Vorläuferrolle von Edwin Arlington Robinson bis Richard Eberhart, also nur bis zu der Generation, die sich zwischen den Weltkriegen zu Wort meldete. Schon im folgenden Jahr – 1948 – skizziert Stanley T. Williams in seinem Beitrag zur Literary History of the United States, „Experiments in Poetry: Sidney Lanier and Emily Dickinson“, beider Wirkung zurückhaltender, wenn auch mit kräftigen Strichen: „Few writers have specifically imitated either“; Miss Dickinsons Einzelrolle sei die der ,Vorwegnehmerin‘, die Rolle des Paares die von ,Herolden‘ oder – von der personalen zur sachlichen Bildsphäre übergehend – die einer ,Vorhalle‘ zum Tempel der modernen Versdichtung.241 Chicago, 1947, S. 134. Vgl. auch seine umfassende Behauptung auf S. 139: „Almost all our more imaginative poets are to some extent in debt to her and in some measure her followers…“ Die von Wells erwähnten „primarily… analogues,… not imitations“ stammen von Robinson, Frost, Sandburg, Mark Van Doren, Hart Crane, Cummings, Stevens, José Garcia Villa, Eberhart, Winters, Hartley, MacLeish, Ransom, Genevieve Taggard, Elinor Wylie, Leonie Adams, Louise Bogan und Marianne Moore Sechs Jahre nach dieser bilderliebenden Stimme aus Yale übersetzt eine britische Stimme aus Manchester, die Geoffrey Moores, den Kern jener bildersprachlichen Aussage in die nüchterne Feststellung:

I… only included Emily Dickinson because the history of modern American poetry is incomplete without her.242

Noch in der zweiten Auflage seines Penguin Book of Modern American Verse (21959) gesteht er:

The liveliness and ,modernness‘ of Emily Dickinson’s imagery is perpetually astonishing.243

Fünfzehn Jahre zuvor hatte ein anderes Sammelwerk, The Oxford Anthology of American Literature (1939), – seine zwei Herausgeber waren Amerikaner – genauso nachdrücklich versichert:

… The New England Renaissance… still lingered in the odd freshness of Emily Dickinson.244

Immerhin hatte diese Anthologie janusköpfig auch schon nach der Seite des zwanzigsten Jahrhunderts ausgeschaut und gemerkt:

… these figures [Emily Dickinson among them] are equally interesting and significant because of the indications of present-day technique to be found in their writing.245

Dieses Janushafte, das am Werk der Amhersterin besonders auffällt, wenn man es auf seinen Stand in der gesamten amerikanischen Literaturgeschichte prüft, hat die Forschung der 1960er Jahre erneut ausgesprochen. Sie hat es stellenweise durch das physikalische Bild des ,Dreh‘ – oder ,Angelpunktes‘ zu präzisieren gesucht; so erklärt, von J. Albert Robbins 1967 kommentiert, Albert J. Gelpi im Jahr 1965:

„In the perspective of history Dickinson is the pivotal point in the tension between Edwards’ perception of types and Stevens’ elaboration of tropes.“ … Which is to say that she stands between a colonial symbology of meaning or revelation and a modern symbology of world-cult and doubt. Looking, of course, more to the latter than to the former; more to the modern than to the traditional.246

Suzanne M. Wilson in „Emily Dickinson and Twentieth-Century Poetry of Sensibility“ (1963) meint im Aufbau ihrer Lyrik das Grundmuster der überseeischen kalvinistischen Predigt wiederzuerkennen; aber im Stil, seiner Suggestivität und ,scharfen‘ Bildlichkeit, habe die Dichterin Aussageweisen entwickelt, die auf die moderne Lyrik vorauswiesen.247 Das in den gleichen Zusammenhang gehörende Kapitel „Emily Dickinson and the Modern Sensibility“ in Clark Griffiths The Long Shadow: Emily Dickinson’s Tragic Poetry (1964) beginnt noch vorsichtig mit „The modernity of Emily Dickinson makes for a complicated and somewhat uncertain issue“;248 es endet seiner Sache sicher mit dem Ergebnis:

Emily Dickinson is one of those writers who cause us to see, with renewed understanding, the literature that comes both before and after them. She remains one of ours, because her attitudes break with „theirs“, and continue to shape – in fact, continue to be our own.249

Die ,Modernität‘ dieser ,Haltungen‘ liege in „the idea of Nature’s treachery and the sense of the supremacy of evil“ – also in einer natur- und moralphilosophischen Ansicht –, ferner in der ,Methode des Symbolismus‘, „symbolism of a kind and range that establishes Emily Dickinson as an early forerunner of the symbolist movement in modern poetry“, schließlich in der ,Vergleichbarkeit‘ ,ihres philosophischen Gesichtspunktes‘ mit der ,Philosophie der Krise‘.250 Dieses letzte Vergleichsmoment erläutert Griffith dahin:

Emily Dickinson, from poem to poem, explores a situation in which the older religious and philosophical orders, with the values they guaranteed, are dissolving into nothingness. Her vision is, basically, the vision of modern man, as certainly, it is the vision recorded in a great deal of modern poetry.251

Die Vergleichspartner, die Griffith unter den obigen drei Blickwinkeln auswählt, umfassen Frost, Kafka und Dostojewski für die natur- und moralphilosophische, Baudelaire, Yeats und T.S. Eliot für die symbolistische und Kierkegaard, Kafka, Frost, Eliot und Stevens für die religiös-wertphilosophische Seite. Die Beispiele greifen also zwar weit in das 19. Jahrhundert zurück und beziehen ältere Zeitgenossen der Amhersterin wie Dostojewski und Baudelaire ein, aber sie reichen nicht über amerikanische Lyriker der 1870er und 1880er Generation hinaus. Wells hatte seinen Vergleichsraum weiter in das 20. Jahrhundert ausgedehnt als Griffith, aber keiner von beiden hat jenseits bloßen  V e r g l e i c h e n s  mit Emily Dickinson ,Wirkungen von Emily Dickinson‘ bewiesen. Mit Bedacht spricht Griffith von ihr als ,Vorwegnehmerin‘ und ,Vorläuferin‘,252 nicht dagegen von ihrer Rolle als Vorbild oder Gegenbild.
Anders als Griffith beschränkt sich ein Jahr nach ihm sein amerikanischer Landsmann Gelpi auf Gestalten aus der einheimischen Literatur und zwar nur aus ihrer Lyrik, wenn er die schon erwähnte Linie der ,apollinischen Tradition‘ konstruiert. So erscheint Emily Dickinson als Glied eines Zusammenhanges, der von Edward Taylor bis in die 1910er Geburtsgeneration, bis zu Elizabeth Bishop und Robert Lowell, reiche.253 Ob diese Linie ausschließlich auf Ähnlichkeit oder auch auf Einfluß beruhe, erfährt der Leser nicht. Im gleichen Jahr 1965 wendet sich Hyatt H. Waggoner demselben Doppelproblem von Miss Dickinsons ,Verhältnis zu Vorläufern und Nachfolgern‘ zu. Der Anspruch, der für ihre Verflochtenheit mit der gesamten amerikanischen Versdichtung gestellt wird, wächst weit über den von Gelpi erhobenen hinaus:

There are very few important American poets either before or after her whose work is not suggested somewhere in hers, whose images she did not try out, whose insights she did not recapitulate, criticize, or anticipate.254

Wieder wird also mit dem Begriff ,Vorwegnehmerin‘ gearbeitet; er mag für eine vergleichend-diachronische Betrachtung nützlich sein, für eine wirkungsgeschichtliche ist er zu vage. Er läßt nämlich offen, ob die „amerikanischen Lyriker… nach ihr“ das von Emily Dickinson ,Vorweggenommene‘ in Anlehnung an sie oder unabhängig von ihr nachgeholt haben.
Ähnlich unverbindlich verfährt meistens die amerikanische Forschung dort, wo sie nicht mehr ,Linien‘ oder gar ganze Bezugsnetze entwirft, sondern Einzelfiguren aus der Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts, besonders Frost und Stevens, mit der neuengländischen Dichterin des neunzehnten in Verbindung setzt. Nur als Vergleichspartner, nicht als ,Modell‘ dient sie – unter anderen – in J. Radcliffe Squires’ The Major Themes of Robert Frost (1963),255 in Charles T. Davis’ Forschungsbericht „Poetry: 1910–1930“256 aus dem gleichen Jahr und in Henry W. Wells’ „Near and Farther Ranges“, The American Way of Poetry (1964).257
Ebenfalls nur in vergleichender Absicht rückt M.L. Rosenthals The New Poets: American and British Poetry Since World War II (1967) zwei von den innerlichsten Gedichten der beiden Neuengländer zusammen: Frosts „The Subverted Flower“ und Miss Dickinsons „’Twas like a maelstrom“. Den gemeinsamen Beziehungspunkt bildet „deep-diving into the psychology of literal predicament.“258 Dasselbe Gedicht der Amhersterin, insbesondere sein Bild „a goblin with a gauge“, fungiert in einem zweiten, geschichtlichen Zusammenhang, den Rosenthal mit „Poe‘s fantasies about the sadistic possibilities of a technologically oriented efficiency directed by diabolical logic and about the capacity of sensibility to withstand its pressures and to circumvent them“ beginnen sieht.259 Rosenthal bezeichnet diesen Zusammenhang als „process“. Ob die Werke, die er ihm zuordnet, wirkungsgeschichtlich miteinander verknüpft sind oder nicht, wird nicht erörtert.
Abermals lediglich als Vergleichsgegenstand fungiert die Amhersterin im Hinblick auf Wallace Stevens:

… I should like to view them as types of the poet-as-image-maker… The Dickinson-Stevens kind of poet achieves at his best a higher order of objectivity, creating an image clear and clean enough to exist in its own right beyond the authority of the poet’s personal experience…
Emily Dickinson, at first sight, might seem to make an incongruous coupling with Stevens, but I think her most successful poetry is of the same order as Stevens’.

So nötig diese Wendung Rovits gegen die übertriebene Auffassung von Emily Dickinsons Lyrik als ,Erlebnisdichtung‘ auch ist, so aufschlußreich auch die Nebeneinanderstellung von Stevens’ Gedicht „Of Modern Poetry“ und Dickinsons Versen „There’s a certain slant of light“, so beharrlich beschränkt sich Rovit auf das vergleichende Herausarbeiten von Dichtertypen. Die Frage nach dem Vorgang des „transmitting literary influence“ und nach den „methods of transmitting“ wird nicht aufgeworfen.260

Sie bleibt auch dort ungestellt, wo Frederick J. Hoffman eine wichtige Zeitspanne der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, die ,zwanziger Jahre‘, untersucht und dabei auch ihre Gestaltung eines einzelnen, technologischen Motivs, der Maschine, analysiert. In diesem Zusammenhang, wie ihn The Twenties (1955) sehen, erscheint ein sehr bekanntes Gedicht Emily Dickinsons als ,Vorgänger‘ und damit als Verwandter unserer Metapher vom ,Wegbereiter‘. Hoffman vergleicht Maschinen-Gedichte zweier mit der Großstadt Chicago eng verbundener Amerikanerinnen der 1860er und 1880er Generation, Harriet Monroes (1860–1936) „The Turbine“ und Eunice Tietjens’ (1884–1944) „The Steam Shovel“, mit „I Like to See It Lap the Miles“ der Kleinstädterin aus Massachusetts. Das Verhältnis ihrer Eisenbahn-Strophen zu Miss Monroes Versen

aaaaaaaaa… Look – if I but lay a wire
Across the terminals of yonder switch
She’ll hurst her windings, rip her casings off,
And shriek till envious Hell shoots up its flames,
Shattering her very throne

und zu Miss Tietjens’ Auffassung des ,Dampf-Löffelbaggers‘

A lap-dog dragon, eating from his (man’s)hand
And doomed to fetch and carry at command

wird vorsichtig nur als „a precedent for this (Miss Monroe’s) approach and for that of Miss Tietjens’ poem“ bezeichnet. Über der ,Vorgängerschaft‘ wird der Unterschied der ,Gefühlswirkung‘ nicht vergessen:

Both Miss Monroe and Miss Tietjens, though personifying their machine (and committing the technological fallacy), prefer their machines full size, and the emotional effect is in consequence quite different.

Gewisse Ähnlichkeiten in Wortschatz und Stimmung, Ähnlichkeiten, die in Miss Monroes Gedicht die Geräuschdarstellung und die durch Einsilbigkeit hervorgerufene Knappheit der Verb-Reihe „hurst – rip – shriek“ (vgl. Dickinsons „Lap – lick – stop – peer – pare – crawl – chase – neigh – stop“), in Miss Tietjens’ Versen die Tier-Metapher, speziell die Hunde-Metapher und das zugehörige „lap“, betreffen, hat Hoffman bestimmt gemerkt, aber nicht als Wirkung eines Vorbilds gedeutet.
Eine besonders explizite Darbietung von Emily Dickinsons Wirkung würde man von einem Beitrag erwarten, der wie John Lucas’ schon erwähnter Kongreßvortrag nicht ein Jahrzehnt, sondern die gesamte, freilich auf die Versdichtung beschränkte Moderne durchleuchten will. Zudem beginnt „Impressionism and Expressionism in Modern American Poetry“ (1965, gedruckt 1966) verheißungsvoll mit dem Zitat von Emilys „A route of evanescence“-Versen und sieht in ihnen den einen, in Allen Ginsbergs Howl (1956) den anderen Grenzstein der ,modernen amerikanischen Lyrik‘. Trotz dieser zugebilligten Rolle als die eine der „outer limits“ der Modernität wird weder die Wirkung von Miss Dickinsons Dichtung auf sie gezeigt noch die Eigenart ihres Werkes gegen Ginsbergs abgehoben. „Impressionism“ – die Amhersterin wird als ,genaue Zeitgenossin des ältesten Impressionisten, Edouard Manet‘, eingeführt – und „Expressionism“ sind nun einmal als für Malerei und Dichtung gelten wollende Formkategorien zu umfassend, um Emilys Einfluß und Sonderheit prüfen zu können.
Etwas weiter in dieses heikle Prüffeld wagt sich 1967 Donald H. Hill vor. Unter den amerikanischen Literarhistorikern scheint er der einzige zu sein, der die Frage nach Emily Dickinson als einer Lehrmeisterin von Lyrikern des 20. Jahrhunderts an einen jüngeren, erst nach dem Ersten Weltkrieg geborenen Autor richtet. Bills Monographie Richard Wilbur (1967) ist selbstverständlich keine Sonderuntersuchung des Verhältnisses ihres Titelautors zu Emily Dickinson. Aber sie deutet an mehreren Stellen auf eine verwandte innere Gestimmtheit, auf eine geistig-seelische Empfangsbereitschaft hin, die einen schöpferischen Einfluß der Älteren auf den fast 100 Jahre Jüngeren überhaupt erst ermöglicht. Außerdem macht Hill auf Verse Wilburs aufmerksam, die uns bald unter dem Gesichtspunkt ,moderne amerikanische Gedichte auf Emily Dickinson‘ beschäftigen werden. Als Belege für die behauptete innere Verwandtschaft nennt oder zitiert Hill zahlreiche thematisch, motivlich und weltanschaulich, z. Teil sogar wortschatzmäßig einander entsprechende Gedichte beider Autoren; vor allem verweist er auf Gedichte über die Themen „the mortal cost of victory in a quest that organizes and gives purpose to one’s whole life“261 und „thirst“, den er als „thirst for perfection and a sense of the insufficiency of this world“ genauer bestimmt.262 Gleichzeitig hört Hill in Wilburs Werk das Dickinsonsche Gegenthema heraus:

an equally strong capacity for taking pleasure in the world around her; hence the humor, the happiness, and the vivid natural detail of many of her poems.263

Trotzdem überbetont er diese innere Nähe nicht:

I do not mean to suggest that there is any very close correspondence between Wilbur’s views and moods and those he attributes to Emily Dickinson.

Auch folgende zusammenfassende Bemerkung enthält ein vorsichtiges „might reasonably“ und ein behutsames „perhaps“:

A reader who is familiar with Wilbur’s poetry might reasonably gather from a lecture he gave at Amherst College, October 23, 1959, that he owes a more grateful debt to Emily Dickinson than to Poe. From her, perhaps, he learned something of the active role of consciousness in coloring, shaping, or apprehending whatever we are conscious of.264

Hill ist immerhin wohl der erste, der die lebendige, wenn auch begrenzte, Gegenwart der Neuengländerin in einer zur Zeit stark kritisierten Richtung der modernen amerikanischen Lyrik, der ,akademischen‘, aufgedeckt hat:

Wilbur is not afraid of academicism, of a poetry of echoes and allusions. Instead he conceives of the poet as one whose „live formality“ depends on establishing, through the necessary effort of study, a significant relationship with older poets265

So ist die einheimische Wissenschaft von der amerikanischen Literatur in den knapp vierzig Jahren zwischen Robeys Magisterthese und Bills Wilbur-Buch dem exakten Einzelnachweis von Einwirkungen Emily Dickinsons auf moderne amerikanische Lyriker nur schrittweise näher gekommen.
Unter den jüngeren Literaturwissenschaftlern  a u s l ä n d i s c h e r  Herkunft hat der  I t a l i e n e r  Glauco Cambon 1956 in Wallace Stevens’ ,Notes Toward a Supreme Fiction‘ ihren Autor als „restating“ Miss Dickinsons ,Thema der docta ignorantia‘ empfunden.266 Im gleichen Buch Tematica e sviluppo della poesia americana weist er der Amhersterin eine Rolle zu, die die amerikanische Ausgabe (1963) dahin definiert:

It is of course true that Emily Dickinson affords, among other things, the ideal introduction to twentieth-century imagism and its affiliates like Marianne Moore, who has not turned a deaf ear to Emily’s conversational tones. If Emily Dickinson can be claimed as ancestor by some of the outstanding contemporaries, it is because she was engaged, like Whitman, in the intransigent task of founding an American idiom in poetry.267

Hier sind erstmals zwei Leitmotive zugleich angeschlagen, die variiert dem einleitenden Forschungsbericht zugrundeliegen: ,Emily Dickinson als Wegbereiterin des Imagismus‘, ,Emily Dickinson und William Carlos Williams als gemeinsame Wegbereiter einer eigenen amerikanischen Dichtersprache‘. Freilich fehlen bei Cambon die einschlägigen Einzelbeweise durch Textvergleich.
Die italienische Amerikanistik steuert in den 1950er Jahren einen weiteren Beitrag zur Vorbereitung einer Wirkungsgeschichte des Dickinsonschen Werkes bei. In „La solitudine nella letteratura americana dell’ Ottocento“ (1957)268 sieht Biancamaria Pisapia die Amhersterin neben Hawthorne und Melville als Begründerin einer Tradition, die in der amerikanischen Dichtung des 20. Jahrhunderts äußerst kräftig fortlebe: die Tradition der ,Einsamkeit‘ des Menschen und seiner Versuche, sie zu bewältigen.
Von einer dritten Seite, der rezeptionsgeschichtlichen, nähert sich Paola Guidetti mit „La fortuna di Emily Dickinson in Italia (1933–1962)“ (1963)269 dem Problem der ,Wirkung‘ der überseeischen Dichterin. Für die Erkenntnis ihrer einheimischen Wirkung fallen nur zwei Nebenerträge ab: „affinity with modern symbolist poetry“ und „creation of a new poetic language in America.270
Mit den geschärften Augen des vergleichenden Literaturwissenschaftlers hatte Cambon jene „affinity with modern symbolist poetry“ schon 1956 erfaßt. Er präzisierte sie zur Parallelwirkung des französischen und des Dickinsonschen Symbolismus auf die moderne Lyrik. Dabei schwingt ein Protest gegen noch immer einflußreiche Werke, sicher René Taupins L’Influence du Symbolisme Français sur la Poésie Américaine (1929), vielleicht auch Edmund Wilsons Axel’s Castle (1931) unüberhörbar mit:

Current appraisals that stress America’s (and the whole West’s) modern indebtedness to French nineteenth-century sources generally overlook the fact that Emily Dickinson was paralleling in her provincial isolation the great enterprise of Baudelaire, Mallarmé, and Rimbaud in developing Poe’s initial cue. She, too, was „purifying the dialect of the tribe“ in an imperishable way, though nobody knew it at the time; for the efforts of American literary explorers, unlike those of their French brethren, did not benefit by a tightly knit cultural milieu, and could not, as a consequence, thrive on a continuous rising tradition; the more astonishing their breakthroughs.271

Auch wenn Cambon jüngere amerikanische Lyriker liest, hat er unwillkürlich die große Lyrikerin des 19. Jahrhunderts vor Augen. So berührt ihn 1962 in John Logans Heine-Gedicht (im Band Ghosts of the Heart, 1960) „the tactile sensation of cold in feverish shudders“ ,wie in gewissen Gedichten Emily Dickinsons‘. Solche im Kritiker ausgelöste Anmutungen gehören freilich, wenn sie, wie hier, nur bis zum Vergleichen führen, eben zu Emilys kritischer, nicht poetischer Wirkungsgeschichte.272 Uns kommt es primär auf die letztere an.
Unter den neueren britischen Betrachtern Emily Dickinsons könnte man am ehesten von Elizabeth Jennings’ „Idea and Expression in Emily Dickinson, Marianne Moore und Ezra Pound“ (1965) Auskunft erhoffen, wie Elemente von Miss Dickinsons Dichtung in den Versen der Jüngeren nachweislich weiterwirken. „What has been Pound’s influence on the younger poets during the last few years?“ – diese Frage wird gestellt; an das Werk der Amhersterin bleibt die entsprechende Frage ungestellt. Die verbindenden Fäden zwischen allen drei Autoren spinnt eine nur vergleichende, nicht auch wirkungsgeschichtliche Betrachtungsweise:

… what they share is a contemplative attitude towards men and affairs; they all look, appraise, annotate and re-create, Pound is clearly a more passionate participator in life than the other two poets, but I would say that even his prevailing attitude is a watchful, observant one. This may sound like a paradox, but it is no more a paradox than the fact that the apparently private worlds of Emily Dickinson and Marianne Moore are really extremely public ones… such worlds are places which we all have to inhabit and endure.273

Auf die sichere Position des Vergleiches zieht sich im selben Jahr 1965 und im selben Sammelband American Poetry Dennis Welland zurück. Sein Beitrag „The Dark Voice of the Sea“, dem wir bereits einen Einblick in Gemeinsamkeiten zwischen Miss Dickinson und Dr. Williams verdanken, dehnt das Vergleichsfeld bis zur Meereslyrik der 1920er Generation aus. Seehund- und Walgedichte des New Yorkers Daniel G. Hoffman, ,The Seals in Penobscot Bay‘ und ,An Armada of Thirty Whales‘ werden mit dem Tiergedicht eines New Yorker-Generationsgenossen, W.S. Merwin’s „Leviathan“, verglichen. Zur Erhellung eines Gradunterschiedes zieht Welland die Dichtung der Amhersterin heran:

The irony that I find inherent in ,Leviathan‘ emerges more clearly in two pieces by Daniel G. Hoffman (1923–), where a more whimsical fancy is used, as Emily Dickinson would have used it, for serious purposes.274

Das Zitat wirft, wenn man zurückblickt und es international sieht, ein Schlaglicht auf die gewandelte Forschungslage im Gesamtfach ,Englische Philologie‘. Schirmer, dem hervorragenden Vertreter ihres anglistischen Zweiges, dienten in den frühen 1940er Jahren die damals wieder ,modern‘ gewordenen englischen metaphysicals des 17. Jahrhunderts als hilfreicher Vergleichspunkt für die noch wenig bekannte Emily Dickinson; Welland, einem englischen Vertreter des amerikanistischen Fachzweiges, dient in den mittleren 1960er Jahren dieselbe Emily Dickinson als förderlicher Vergleichspunkt für zwei noch ziemlich unbekannte amerikanische Lyriker der Gegenwart. So rasch fühlt man sich heute an die längst Verstorbene erinnert, aber so abwartend vermeidet man das vorschnelle Annehmen eines wirkungsmäßigen Zusammenhanges. Welland weiß zwar, daß Hoffman Miss Dickinsons Lyrik durchaus kennt und ihren Einfluß in Stephen Cranes Schiffbruchgedicht „A man adrift on a slim spar“ wirksam glaubt.275 Trotzdem folgt Welland Hoffman nicht in solche wirkungsgeschichtlichen Erörterungen.
Auf  d e u t s c h e r  Seite verfährt man darin teils genauso vorsichtig, teils wagemutiger. Dies verrät sich schon in der Terminologie, die Teut Riese in seinem Aufsatz „Das Gestaltungsprinzip der Konkretion in der neueren amerikanischen Lyrik“ (1963) benutzt. Einerseits werden „Einfluß“ und „tiefer gegründete Gemeinsamkeit“ als Erklärungsmöglichkeiten verschiedenen Ranges voneinander abgesetzt,276 andererseits liegt das ,Geben eines neuen Impulses‘,277 das Riese Miss Dickinson zuschreibt, nicht mehr weit ab von einem ,Beeinflussen‘; „richtungsweisend auf die Dichtung von heute“ klingt wieder ein wenig behutsamer.278 Immerhin erscheint an entscheidender Stelle, im Schlußabsatz des Dickinson-Teiles, der Terminus „Wirkung“, freilich zweimal gemindert durch die Metapher „nahe kommen“:

In ihrer Lyrik ist die Konkretion die sprachliche Sphäre, in der sie das Rätsel der Existenz, den für den gottentrückten Menschen verhüllten Sinn der Welt plötzlich aufleuchten und wieder verlöschen sieht.
Hierin steht Emily Dickinson der modernen Lyrik nahe, und es ist kein Zufall, daß ihre Gedichte… erst im 20. Jahrhundert Anerkennung fanden und eine wachsende Wirkung auszuüben begannen. Der moderne Dichter eines Zeitalters ohne vorausgegebene Ordnung… findet sprachliche Haltungen, welche mit ihrer Verfremdung des Vertrauten und ihrer Neigung zum Inkongruenten und Paradoxen der Sprache Emily Dickinsons nahe kommen
.279

Elizabeth Jennings sprach ausdrücklich von einem ,Einfluß‘ Pounds ,auf die jüngeren Dichter‘, Riese spricht genauso ausdrücklich von Wallace Stevens als „einem Leitbild für die jüngere Dichtergeneration unserer Tage“. So präzis faßt er die ,Wirkung‘ der Amhersterin nicht. „She became the force and not the model“: die Formulierung, die Henry Wells für ihre Wirkung gefunden hatte, scheint noch immer zuzutreffen. Die Wirkung als Ganzes wird offen und allgemein zugegeben, das geistige Stromnetz, das sie über die moderne Versdichtung Amerikas verteilen hilft, bleibt verhüllt.
Wo sich die deutsche Literaturgeschichtsschreibung in den späteren 1960er Jahren Amerika zuwendet, behält sie die behutsame Haltung bei. Zwar lassen Ursula Brumms „Entwicklungszüge der amerikanischen Literatur“ (1966) wie Moores ,Einleitung‘ zu The Penguin Book of Modern American Verse „die moderne amerikanische Lyrik“ mit Emily Dickinson – und, noch toleranter als Moore, mit Sidney Lanier – einsetzen, zwar werden beide als „Vorläufer und Wegbereiter“ gewürdigt, dazu wird dem Werk der Frau „bleibende Gültigkeit“ zuerkannt und speziell für Frost auch die ,Vorgänger‘-Rolle Emilys klar gesehen.280 Wieder lohnt sich ein Rückblick auf Schirmer. Wo er „die metaphysische Schule“ und die Neuengländerin vergleichend nebeneinander stellte und das tertium comparationis in ihrer Verwandtschaft mit dem 20. Jahrhundert und in ihrer ,Vorbildlichkeit‘ erkannte, sieht Ursula Brumm geistesgeschichtliche „Konsequenz… aus der amerikanischen Tradition“:

Die Wiederentdeckung dieser ebenso intellektuellen wie bildmächtigen Dichter, deren Eigenart Eliot in einigen seiner einflußreichen kritischen Essays erläutert, war im Grunde eine Konsequenz, die sich aus der amerikanischen Tradition ergab, denn die großen Neuengländer Taylor, Emerson und Dickinson waren diesen Dichtern geistesverwandt.281

Um die „Konsequenz“ der Amhersterin für spezielle amerikanische Lyriker des 20. Jahrhunderts im einzelnen zu belegen, bleibt begreiflicherweise kein Raum in dieser bündigen Darstellung von „Entwicklungszügen“.
Der vorläufig umfassendste einschlägige Beitrag, den ein Nicht-Amerikaner zum heiklen Thema der ,Wirkung‘ Emily Dickinsons geleistet hat, liegt in der Habilitationsschrift des jungen deutschen Amerikanisten Klaus Lubbers vor. „Der literarische Ruhm Emily Dickinsons: Das erste Jahrhundert amerikanischer und britischer Kritik von Werk und Mensch“ (1967) spart allerdings mit Absicht „das weite Gebiet des Einflusses Emily Dickinsons auf die moderne amerikanische Versdichtung“ aus.282 Jedoch mehrere Abschnitte und die umfassende Bibliographie ermöglichen es, wohl fast alle amerikanischen Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts kennen zu lernen, die als Rezensenten von Emily Dickinsons Gedichts- und Briefausgaben sowie der zugehörigen Sekundärliteratur, als Anthologisten, Interpreten oder Kritiker, als Biographen oder Literarhistoriker, ja überraschend oft als Verfasser von Gedichten auf die rätselhafte Neuengländerin an der Geschichte ihrer Wirkung mitgeschrieben haben. Hier zeichnen sich, wenn auch nicht die aktuellen, so doch die potentiellen Bereiche des ,Einflusses‘ der Dichterin auf die Dichter ab; Möglichkeiten, hin und wieder sogar Wahrscheinlichkeiten ihrer Wegbereiterrolle werden sichtbar.
So begegnet man unter den  D i c h t e r n  a l s  R e z e n s e n t e n  schon 1896 dem aus Kanada gebürtigen Neu-Amerikaner Bliss Carman; es folgen 1914 Harriet Monroe, zehn Jahre später John Gould Fletcher, Genevieve Taggard und Stephen V. Benét: 1929 gesellen sich Robert Hillyer, Alfred Kreymborg, Babette Deutsch, Conrad Aiken und Theodore Spencer hinzu, 1930 Horace Gregory, 1933 Marianne Moore, wieder drei Jahre später Louise Bogan. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schließen sich 1951 Elizabeth Bishop, 1955, in dem Jahr, in dem die erste kritische Gesamtausgabe der Gedichte erschien, Ciardi, ein Jahr darauf J.C. Ransom und R.P. Blackmur an. Einige von ihnen, so vor allem Miss Taggard, Miss Deutsch und Hillyer, besprechen nicht eine oder zwei, sondern mehrere Dickinson-Ausgaben und -Monographien. Selbst ein Erzähler wie J.T. Farrell findet sich unter den Rezensenten, bezeichnenderweise denen einer Briefausgabe: Emily Dickinson Face to Face (1932). Farrell der Prosaschriftsteller spricht auf die Prosakünstlerin in Emily Dickinson an.
Der  D i c h t e r  a l s  A n t h o l o g i s t  tritt mit Aiken (1922) und Leonora Speyer (1923) auf den Plan, begleitet von William Rose Benét (1925), dem aus Großbritannien eingewanderten Richard Le Gallienne und Carman (1927). Genevieve Taggard (1929) und Kreymborg (1930), die Rezensenten, trifft man in der zusätzlichen Rolle als Anthologisten wieder. Benét versucht sich in ihr 1939 zum zweitenmal.283
Unter den Dichtern als Herausgebern ist abermals Aiken der erste. Seine in London verlegten Selected Poems of Emily Dickinson (1924) bilden zusammen mit ihrer Einleitung einen Markstein der angelsächsischen Rezeptionsgeschichte. Der New Yorker Ausgabe von 1948 folgt erst 1960 die einzige, ebenfalls von einem Lyriker besorgte und eingeleitete Auswahl mit amerikanischem Erstverlagsort, Brinnins Emily Dickinson.284 Drei Jahre später sollte derselbe Brinnin William Carlos Williams’ Werk knapp interpretieren.285 Keiner unter den amerikanischen Lyrikern unseres Jahrhunderts hat ihm bisher in dieser Doppelrolle nachgeeifert.
Der  D i c h t e r  a l s  B i o g r a p h  u n d/o d e r  I n t e r p r e t  wird durch eine Monographie von Miss Taggard (1930), durch Buchkapitel oder kürzere Abschnitte in Publikationen von Joseph Auslander (1927), Amy Lowell (1930), Yvor Winters (1938), R.P. Warren (1938) und Gregory (1940) bis an die Schwelle des Zweiten Weltkrieges vertreten.286 1955 führt Archibald MacLeish, 1961 Ciardi diese Linie weiter.287
In der verwandten Rolle des  D i c h t e r s  a l s  F e s t r e d n e r  finden sich am Ende der 1950er Jahre – anläßlich der Zweihundertjahrfeier von Amherst – MacLeish, Miss Bogan und Wilbur zusammen.288 Die eigentliche Domäne des  D i c h t e r s  a l s  I n t e r p r e t e n  ist jedoch der Zeitschriften- und Zeitungsaufsatz, bzw. die ,Einleitung‘ in eine Anthologie. Von Hartley (1918), Hillyer (1922) und Aiken (1924) zieht sich über Allen Tate (1928, 1932), Miss Taggard (1930, 1941), Blackmur (1937) und Miss Bogan (1945) eine Kette von Artikeln bis zu den jüngeren Lyrikern Ciardi (1956)289 und Winfield T. Scott (1961).290 Selbst ein Epiker und Dramatiker wie Thornton Wilder gliedert sich 1952 dieser langen Reihe ein.291
Sie wird noch erheblich länger, wo der amerikanische  D i c h t e r  a l s  V e r f a s s e r  v o n  G e d i c h t e n  a u f  E m i l y  D i c k i n s o n  in die Wirkungsgeschichte eintritt. Sie beginnt aufschlußreicherweise im Umkreis des Imagismus mit Carl Sandburgs „Letters to Dead Imagists“ (1916) und „Accomplished Facts“ (1920), verharrt darin mit Amy Lowells „The Sisters“ (1925), setzt sich fort in Leonora Speyers „Emily Dickinson“ (1927), erreicht einen frühen Gipfel in Hart Cranes „To Emily Dickinson“ (1927), dauert weiter in Auslanders – Sandburgs Briefform wiederaufnehmendem – „Letter to Emily Dickinson“ (1929), in Jean Starr Untermeyers „Hidden Meteors“ (1929), in Winters – Cranes Form des Widmungsgedichtes fortpflanzendem – „To Emily Dickinson“ (1930), um in den beiden anschließenden Jahrzehnten mit William Rose Benets „Firefly Serenade“ (1933) und Miss Taggards Versen „Two Poems to Emily Dickinson (In Her Own Language)“ (1938), mit Brinnins „A Visiting Card for Emily“ (1940) und Paul Engles „Emily Dickinson“ (1941) allmählich immer wieder neue Glieder anzusetzen. Nahe dem vorläufigen Ende der Reihe steht der Lyriker, der sie begann: Sandburg. Die Briefform beharrt, nur ist der Brief nicht mehr privat, sondern er ist ,öffentlich‘ geworden, so wie auch seine Adressatin zur ,public figure‘ des literarischen Lebens geworden ist („Public Letter to Emily Dickinson“, 1947).292 Aber gerade diese ,Öffentlichkeit‘ sollte die lyrische Geburtsgeneration der späten 1920er Jahre bestreiten. Mit Adrienne Rich, nicht zufällig derselben Lyrikerin, die wenig später (1967) das Vorwort zu einer Neuausgabe der ältesten neuengländischen Dichterin, Anne Bradstreet, schreiben sollte,293 wirft die junge Generation 1963 die Frage nach dem Wesen dieser vieldeutigen Frau auf. Adrienne Rich steht seit 1955 die Gesamtausgabe der Dickinson-Gedichte zur Verfügung. Trotzdem bohrt die – auch dem Erforscher ihrer kritischen Rezeptionsgeschichte nicht fremde – Frage:

… you in your variorum monument
equivocal to the end-who are you?
weiter
.
294

Wilbur, nur acht Jahre älter als Miss Rich, durch ein Leben in Amherst (1942), Harvard (1947–1954) und Wellesley (1955–57) Massachusetts noch enger verbunden als die in Radcliffe erzogene Südstaatlerin, hat diese Frage kulturvergleichend und konfessionssoziologisch zu beantworten gesucht. Italienischer Katholizismus und Amherster Spätkalvinismus erscheinen als Pole der Lebensführung im Gedicht „Altitudes“ und werden als Zeichen verschiedener menschlicher ,Höhen‘-Sichten mit feiner Ironie an den Eingang des Sammelbandes Things of This World (1956) gerückt. Ein notgedrungen auszugsweises Zitat vermag nur einen unvollkommenen Eindruck des brillanten, bis in kleinste Stilzüge polar durchgeführten Ganzen zu vermitteln:

I

Look up into the dome:
It is a great salon, a brilliant place,
Yet not too splendid for the race
Whom we imagine there, …
………………
………………

II

How far it is from here.aaaa
To Emily Dickinson’s father’s house in America;
aaaaaThink of her climbing a spiral stairaaaaaaa
Up to the little cupola with its clearaaaaaaaaaa


aaaaSmall panes, its room for one.aaa
Like the dark house below, so full of eyesaaaaa
In mirrors and of shut-in flies,aaaa
This chamber furnished only with the sunaaaa

Is she and she alone,aaaaaaa
A mood to which she rises, in which she seesaa
aaBird-choristers in all the treesaaaaaa
And a wild shining of the pure unknownaaaaa

On Amherst…aaaaaaaaaaa

………………295

Das Mitschwingen von Motiven aus Emilys Lyrik, zum Teil in wörtlicher Übernahme, ist unüberhörbar. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, „Bird-choristers“ sicher seine Vorlage in „with a bobolink for a chorister“ im „Some keep the sabbath“ – Gedicht.
Solche Verse vertreten den produktiven Typ einer Nachwirkung dieser auf sich zurückgezogenen Frau des 19. Jahrhunderts. Aber auch er verbleibt im Vorhof des tatsächlichen literarischen ,Einflusses‘, wenn er nur thematischen und nicht zugleich sprachkünstlerischen Einfluß, und sei es in Form der Gegenwehr, bezeugt. Daß aber diese zweite, tiefere Einflußart vorhanden ist, beweisen Wilburs „Altitudes“ und, als Beleg aus der älteren Generation, „Two Poems to Emily Dickinson (In Her Own Language)“ von Miss Taggard. Freilich droht in ihnen die Gefahr des bloßen Rollengedichts, ja der unfreiwilligen Parodie. Wie gerade die jüngste Generation Verständnis für die Sprache der großen Neuengländerin, für die Funktion dieser Sprache für Emily Dickinsons Weltauffassung entwickelt, verrät Adrienne Richs preisender Anruf:

you, woman, masculine
in singlemindedness,
for whom the word was more
than a symptom –

a condition of being.
Till the air buzzing with spoiled language
sang in your ears
of Perjury

and in your halfcracked way you chose
silence for entertainment,
chose to have it out at last
on your own premises
.
296

Hier enthüllt sich ein wesentlicher Zug an der Rolle, die Emily Dickinson für die Lyrik des 20. Jahrhunderts zugefallen ist: die Rolle des Vorbildes im Ringen, sich von einer ,verdorbenen‘, ,meineidig‘ gewordenen Sprache zu befreien und eine wahre Dichtersprache zum Ausdruck der eigenen Innenwelt zu schaffen. So stellen alle diese Gedichte auf die Amhersterin eine Spielart der Rezeptionsgeschichte dar; in ihrer Bedeutung als Quelle für die Kritik an der Dichtung der Vergangenheit und der Gegenwart zugleich ist sie selbst von René Welleks umsichtiger History of Modern Criticism: 1750–1950 noch nicht systematisch ausgeschöpft worden.297
Nicht in die Geschichte der tiefsten Wirkung, wohl aber einer Wirkung mittleren Tiefgangs gehört ein spezieller thematischer Anreiz, der vom berühmtesten Tiergedicht der Neuengländerin, den Kolibri-Versen „A Route of Evanescence“, ausgestrahlt ist. Er beginnt schon im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Father John Banister Tabbs „The Humming Bird“ (1895). Thematische Gleichheit verbindet sich hier sogar mit prosodischen, lexikalen und syntaktischen Anklängen. „The Humming Bird“ von Edwin Markham – so wie Tabb im alt-amerikanischen Virginia war er im neu-amerikanischen Kalifornien ein früher Leser von Emily Dickinsons ersten posthumen Gedichtbänden – leitet geographisch zur pazifisch-ostasiatischen Abwandlung des gleichen Themas über, zu John Gould Fletchers „An Oiran and Her Kamuso“ (1918). Amy Lowells „The Humming-Birds“ (1924) und Robert P.T. Coffins „Humming-Bird“ (1929), dazu als britisches Seitenstück mit amerikanischem Erstdruckort D.H. Lawrences „Humming-Bird“ (1924) wirken wie neue Variationen über das Amherster Thema, Variationen, geboren aus dem Wetteifer mit einem klassisch gewordenen Beispiel des dichterischen Einfangens flüchtigster Bewegungen ins dauernde Wort. Daß sich unter den Verfassern Fletcher und Miss Lowell befinden, ist nach ihrer Rezensenten- und Interpretenrolle in der Geschichte der Dickinson-Rezeption ein erstes Anzeichen für das dichterisch-p r o d u k t i v e  Verhältnis des Imagismus zur Frau aus Amherst.298
Nur noch zur Geschichte ihrer oberflächlichen, aber auch darin noch aufschlußreichen Wirkung zählt die  l i t e r a r i s c h e  D i c k i n s o n – R e m i n i s z e n z. In Sinclair Lewis’ rassenkritischem Roman Kingsblood Royal (1947) blitzt für einen Augenblick, bei der satirischen Beschreibung der Privatbücherei des jungen Bankiers Kingsblood, eine solche Erinnerung auf:

… a volume of Emily Dickinson, which a girl whose name and texture he had now forgotten, had given to him in college, and sometimes Neil picked at it and wondered.299

Zwei Leser- bzw. Lesealtertypen, der jugendlich-begeisterte des college girl, und der des naiven, ehemaligen college boy als mehr oder weniger zufälligen Lesers, dessen Geschmack sich keineswegs verfeinert hat, sind mittels der Reminiszenz porträtiert.
Wiederum in die Welt junger Menschen führt das gleiche Mittel in J.D. Salingers kulturkritischem Roman The Catcher in the Rye (1951). In einem Kapitel, das an Theater-, Film- und Literaturkritik reich ist, erzählt der jugendliche Held des Romans:

I remember Allie once asked him (my brother D. B.) wasn’t it sort of good that he was in the war because he was a writer and it gave him a lot to write about and all. He made Allie go get his baseball mitt and then he asked him who was the best war poet, Rupert Brooke or Emily Dickinson. Allie said Emily Dickinson. I don’t know too much about it myself, because I don’t read much poetry but I do know it’d drive me crazy if I had to be in the army300

Das Absurde als Enthüllung des Eigentlichen bewährt sich auch hier. Die kleine ,ewige Hausfrau‘ aus Amherst ist tatsächlich ,der beste Kriegsdichter‘; der Kriegsschauplatz des menschlichen Herzens hat nämlich in ihr eine sachlichere Berichterstatterin gefunden als der Erste Weltkrieg der Großmächte im gefühligen Rupert Brooke.301
Daß der Typ des für Emily begeisterten jugendlichen Menschen nicht nur in der Einbildungskraft zweier begabter Erzähler existiert, sondern hier und da eine Entsprechung in der Erfahrungswirklichkeit besitzt, bezeugen die Lebenserinnerungen Conrad Aikens. Wie Lewis und Williams gehört er der 1880er Altersreihe an. Als Anthologist und – Interpreten wie Kritiker in sich verbindender – Herausgeber einer wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Auswahl aus Miss Dickinsons Lyrik trat er in unsere Rezeptionsskizze erst in den frühen 1920er Jahren ein. Aber schon der 14jährige junge Mann aus dem südstaatlichen Georgia hatte die Neuengländerin für sich entdeckt. Unter den Autoren, für die er sich in seiner Jugend begeisterte, nennt er das Paar, von dem unsere einführende Betrachtung ausging: Whitman und Emily Dickinson.302 Ob die Amhersterin tatsächlich auf die Dichtung von Eliots jüngerem Harvarder Mitstudenten und späterem langjährigen Londoner Bekannten eingewirkt hat, bedarf noch eingehender Untersuchung. Was feststeht, ist eine literarhistorische Ironie: dieselbe anglo-amerikanische Dichtergruppe, zu deren frühen  K r i t i k e r n  gerade Aiken zählt, sollte sich besonders nachdrücklich auf Emily Dickinson berufen.303
Der eigentliche Bereich der Wirkungsgeschichte öffnet sich nämlich erst dort, wo in der Frühphase der ,Modernität‘ der amerikanischen Lyrik, im  I m a g i s m u s304 sich einige „Imagistes“ als Wanderer auf dem Weg begreifen, den die Amhersterin bereitet hat. Freilich hatte sich das Bewußtsein dafür, daß die Dichtung der Neuengländerin sich von der ihrer Zeitgenossen unterschied, schon kurz vor dem Imagismus geregt, und zwar in der kühlen Luft literarhistorischer Sachlichkeit. So erkannte bereits Alphonso G. Newcomer in American Literature (1901):

Classification and comparison, in the case of Emily Dickinson, avail nothing. She was modern; beyond that the chances of time and place do not signify; her life and poetry were equally remote from the ways of others.305

Nach dem Beginn des Imagismus, in dessen Verlauf The Single Hound: Poems of a Lifetime (1914) noch hineinfällt, formuliert die literarische Kritik der Zeitschriften implizit, mittels der Bezeichnung „An Early Imagist“, die Vorläuferrolle der Amhersterin.306 Wo der Dichter selbst, ebenfalls als Literaturkritiker, vom Standpunkt des interessierten Beobachters der literarischen Szene Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt, greift er, wie Harriet Monroe schon im Dezember 1914, zum verwandteren, vorsichtigeren, schon das ,Unbewußte‘ berührenden Begriff des „unconscious and uncatalogued Imagiste“.307 Das  o f f e n e  Aussprechen der ,Vorläuferschaft‘, die man Emily Dickinson zumißt, bleibt der Dichterin und Kritikerin überlassen, die den Imagismus nicht nur beobachtet, sondern praktiziert: Amy Lowell.

… the precursor of the modern day… I refer to Emily Dickinson, who is so modern that if she were living today I know just the group of poets with whom she would inevitably belong

umschreibt ihr Dickinson-Bild von 1915.308

Klaus Lubbers, dessen Rezeptionsstudie ich für alle diese Hinweise dankbar verpflichtet bin, vermerkt noch so viele andere Selbstaussagen amerikanischer Lyriker über Miss Dickinson, daß der flüchtige Leser sie beinahe für ,the modern poets’ poet‘ halten könnte. Lubbers verschweigt aber auch die Tendenz zur ,Entmodernisierung‘ nicht, die sich in der Dickinson-Forschung der 1930er Jahre meldet. Übertreibung ihrer Modernität und Unterschätzung ihrer tatsächlichen Wirkung auf die Lyrik Amerikas im 20. Jahrhundert haben sich in den folgenden Jahrzehnten ausgependelt zu nüchterner Würdigung einer schlichteren Rolle: der Rolle der Wegbereiterin. „To some, Miss Dickinson was more easily a ,modern‘ poet than a nineteenth-century one. To others she was of her own time and heritage but also clearly beyond it“ faßt The Recognition of Emily Dickinson vom Standpunkt der 1960er Jahre rückblickend zusammen.309
Der Begriff des Wegbereiters, mit dem hier ihre wirkungsgeschichtliche Leistung zu fassen gesucht wird, wirkt erhellend nach zwei Seiten. Nach der Seite der späteren  A u t o r e n  gewendet, bedeutet er dies: daß sie bestimmte literarische Ziele erreicht haben, können sie, müssen sie aber nicht, Wegen verdanken, die frühere Autoren bereitet haben und auf denen sie diesen früheren bewußt oder unbewußt gefolgt sind. Auf den Leser bezogen, meint dieser Begriff: daß die Werke gewisser moderner Dichter – um im Bilde zu bleiben – bei dem Leser ,angekommen‘ sind, verdanken sie Wegen, die frühere bereitet haben. So hat als Zeichen solchen Angekommen-Seins auch ein vom Leser gezogener Vergleich zwischen einem späteren und einem früheren Dichter seinen Belegwert; freilich kann ein Vergleich einen Nachweis für „transmitting literary influence“ nicht ersetzen.
Bei der Rückschau speziell auf das Dickinson-Bild der Dichter fällt auf, daß die Widmungsgedichte und die Selbstaussagen zwar die 1910er und 1920er Altersreihen einbegreifen, aber überwiegend von Lyrikern der 1880er bis 1900er Generation stammen.

All the artist can do is model himself on such forerunners as Emily Dickinson and Isadora Duncan, both of whom knew pain yet were able to create ,Love from despair – when love foresees the end‘

hat 1965 M.L. Rosenthal Cranes Haltung zu Emily Dickinson in Section VI „Quaker Hill“ seines Langgedichts The Bridge (1930) umschrieben.310 Gewiß geht als Zeichen der geglaubten Wahlverwandtschaft ein Zweizeiler der Amhersterin „The gentian weaves her fringes, / The maple’s loom is red“ dem sechsten Abschnitt von Cranes Zyklus voraus, gewiß klingt das ,Ahorn‘-Motiv des Epigraphs in „mapled vistas“ des Gedichts wieder an, und unbestreitbar erweist sich Cranes tragische Sicht des Menschen als tiefster Grund seiner Wahlverwandtschaft:

Listen, transmuting silence with that stilly note
Of pain that Emily, that Isadora knew!
311

eine Sicht, die eine Generation später die Dickinson-Forschung mit Griffiths The Lang Shadow übertreibend für das Gesamtwerk in Anspruch genommen hat. Aber genauso gewiß ist Hart Crane einer der letzten großen amerikanischen Lyriker, der explizit zur dichterischen Wirkungsgeschichte der Neuengländerin im zwanzigsten Jahrhundert beigetragen hat. Die zweite, post-imagistische Welle der modernen amerikanischen Lyrik, die, erst nach dem Zweiten Weltkrieg kraftvoller, heranbrandet – das gewählte Bild vereinfacht bewußt – scheint sich eher auf Dr. Williams denn auf Miss Dickinson als „Force“ oder „model“ zu berufen, genauer, mitzuberufen.

 

5
Was Lubbers für die Erkenntnis der Wegbereiter-Rolle von Emily Dickinson, zumal im Hinblick auf die imagistische Frühphase der modernen Lyrik der Vereinigten Staaten, geleistet hat, bleibt für die Erkundung der gleichen Rolle von William Carlos Williams noch zu leisten. Ihr Wirkungsraum ist selbstverständlich nicht der Imagismus, dem Williams selbst entsprungen ist, sondern die späteren Phasen der ,objektivistischen‘, der ,projektiven‘, der ,Beat‘-Lyrik, der „,Confessional‘ Poetry“ und anderer, noch kaum benannter Richtungen seit dem Ende der 1920er Jahre.
Nur ein Teil dieser Wegbereiterschaft bildet den Gegenstand der Rezeptionsstudie, also des zweiten Abschnitts, des vorliegenden Bandes. Als Erhellung von Williams’  e u r o p ä i s c h e r  Aufnahme kann sie seine Pionierrolle nur insoweit zeichnen, als sie in Europa bisher erkannt worden ist. Amerikanische Aussagen über sie kommen in jenem Abschnitt nämlich nur dann zur Geltung, wenn sie in Europa rezipiert worden sind. So gehört es zu den Aufgaben dieser „Einführung“, solche diesseits des Atlantik erst schwach oder überhaupt noch nicht vernommene Stimmen zu Williams’ Wegbereiterschaft knapp zusammenzufassen.
Wie bei Miss Dickinson schließen auch bei ihm die Zeugen Literarhistoriker und Kritiker, vor allem Kritiker und Dichter in einer Person, ein. Anders als bei ihr treten bei Dr. Williams die Ansichten des Autors über die eigene Wirkung hinzu.
Der Amhersterin hatte Sandburg 1947 einen ,öffentlichen Brief‘ ins Totenreich geschickt; Williams erhielt den seinigen noch an seine Rutherforder Anschrift. Der Absender war der Lyriker Kenneth Rexroth, den Williams seit den späten 1920er Jahren gefördert hatte. Durch „A Public Letter, for William Carlos Williams’ Seventy-fifth Birthday“ (1958) dürfte die Tatsache von Williams’ Wirkung auf die jüngeren Lyriker zum erstenmal über den Kreis der ,Praktiker‘ hinaus bekannt geworden sein.312 Aber wahrscheinlich erst durch die – stellenweise sensationelle – Reportage eines literarischen Journalisten und durch seinen Kommentar, durch The Holy Barbarians (1959) von Lawrence Lipton,313 drang die Kunde von der ,Ahnherrschaft‘ des Rutherforder Frauen- und Kinderarztes für den frühen kalifornischen Zweig der Beat-Lyrik in die breitere literarische Öffentlichkeit Amerikas.

Eine ganze Generation von jungen Dichtern beruft sich auf Williams. Die verschiedensten Geister einigen sich auf ihn, wenn man sie nach ihren Lehrern fragt. In Donald Allens Sammlung The New American Poetry 1945–1960, dem ersten Buch, in dem diese Dichtung in ihrer ganzen Vielfalt sichtbar gemacht wurde, trifft man immer wieder auf seine Spur. Charles Olson, Robert Duncan, Robert Creeley, Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti, Le Roi [sic] Jones, Denise Levertov und Gregory Corso: klarer als jede Literaturgeschichte bezeugen diese Namen die Leistung eines einzelnen Mannes, der in seiner Kleinstadt nicht nur ein paar hundert Kinder ans Licht der Welt gebracht hat, sondern auch einige Gedichte, die das Amerikanische zu einer poetischen Sprache gemacht haben, wie sie auf der ganzen Welt verstanden wird.

Aus dieser Aufzählung von Namen, die Hans Magnus Enzensberger im „Nachwort“ zu William Carlos Williams: Gedichten / Amerikanisch und deutsch (1962) bietet,314 mögen manche deutschen Leser, die angelsächsische Lyrik in zweisprachigen Ausgaben bevorzugen, von seiner Wegbereitung für amerikanische Versdichtung nach 1945 zum erstenmal gehört haben. Enzensberger hatte recht. Eine Prüfung der „Statements on Poetics“ und der „Biographical Notes“, die Allen seiner Anthologie angefügt hat, stößt tatsächlich auf eine längere Reihe von Selbstzeugnissen moderner Dichter über Williams.

It is time we picked the fruits of the experiments of Cummings, Pound, Williams, each of whom has, after his way, already used the machine (the typewriter) as a scoring to his composing, as a script to its vocalization… what I want to emphasize here, by this emphasis on the typewriter as the personal and instantaneous recorder of the poet’s work, is the already projective nature of verse as the sons of Pound and Williams are practicing it. Already they are composing as though verse was to have the reading its writing involved, as though not the eye but the ear was to be its measurer, as though the intervals of its composition could be so carefully put down as to be precisely the intervals of its registrations

schärfte Charles Olson, der älteste unter den Lyrikern und Dichtungstheoretikern der ,Black Mountain‘-Gruppe, in seinem programmatischen Essay „Projective Verse“ (1950) ein.315 Unter den Autoren, die er „emulate, imitate, reconstrue, approximate, duplicate“ möchte, nennt Robert Duncan, nicht Neuengländer wie Olson, sondern Kalifornier, aber wie er zeitweilig Dozent am Black Mountain College, in „Pages from a Notebook“ Williams. „The Pisan Cantos and the first three volumes of Paterson, gave us measure“ begründet diesen Wunsch.316 Wiederum ist es das ,Maß‘, Williams’ Metrik, die Allen Ginsberg, sein näherer Landsmann aus New Jersey, für die eigenen dichterischen Anfänge als Muster bezeugt:

By 1955 I wrote poetry… arranged by phrasing or breath groups into little short-line patterns according to ideas of measure of American speech I’d picked up from W.C. Williams’ imagist preoccupations.317

Seine allgemeine Behauptung: „For me, Lorca, Williams, Pound and Charles Olson have had the greatest influence“ präzisiert der junge begabte Negerlyriker und -dramatiker LeRoi Jones, der wie Ginsberg aus Williams’ nächster Nähe, aus Newark, N. J., stammt, ebenfalls nach der Seite der Prosodik:

… all this means that we want to go into a quantitative verse… the ,irregular foot‘ of Williams318

Nicht den metrischen, sondern den ,stilistischen Einfluß‘ gesteht Denise Levertov freimütig ein. Sie, die nach den Vereinigten Staaten eingewanderte Britin russisch-walisischer Herkunft, besitzt als Ausländerin ein besonders feines Empfinden für das Amerikanische, Nicht-Britische, an der Sprache seiner Dichtung:

I feel the stylistic influence of William Carlos Williams, while perhaps too evident in my work of a few years ago, was a very necessary and healthful one, without which I could not have developed from a British Romantic with almost Victorian background to an American poet of any vitality.319

Mit diesem ,stilistischen Einfluß‘ meint Denise Levertov wahrscheinlich Williams’ Genauigkeit in der Wiedergabe von Sinneseindrücken, aber wohl vor allem sein Experimentieren mit einer von Pound und den Surrealisten entwickelten Überlagerungstechnik zur Mitteilung überraschender geistiger und gefühlsmäßiger Zusammenhänge: der Technik der ,Collage‘ präziser sinnlicher, vorzugsweise optischer Wahrnehmungen mit erinnerten Sinneseindrücken aus ganz anderen Wirklichkeitsbereichen und/oder mit Phantasievorstellungen. Künstlerische und menschliche Anhänglichkeit an Williams diktieren ihr, der zugewanderten Europäerin, die „Obituary Note on William Carlos Williams“, die The Nation im März 1963 veröffentlichte.320
Gliedert man mit Allen die Lyrik der „zweiten Phase“ des zwanzigsten Jahrhunderts behelfsweise in fünf oft einander benachbarte Spielarten,321 so sind in diesen dichterischen Selbstzeugnissen vier von ihnen vertreten: die ,Black Mountain‘-Gruppe durch Olson und Duncan, die „San Francisco Renaissance“ ebenfalls durch Duncan, die „Beat Generation“ durch Ginsberg, die stilistischen und lyriktheoretischen Einzelgänger durch LeRoi Jones.
Nachdem Allen ihre Aussagen 1960 anthologisiert und Enzensberger sie in knapper Zusammenfassung Anfang 1962 an den deutschen Leser vermittelt hatte, wurden sie kurz darauf, im April des gleichen Jahres, von Williams bestätigt und ergänzt. Sein Urteil liegt in der modernen Form des auf Tonband aufgenommenen, später gedruckten Interviews vor. Als Nutznießer seiner literarischen Experimente erwähnte Mrs. Williams, die bei dieser Befragung ihres teilgelähmten, von zwei Schlaganfällen gezeichneten Gatten häufig aushalf, „some of the younger poets“; sie nennt dabei den Briten Charles Tomlinson, die schon von Allen und Enzensberger angeführten Creeley, Ginsberg und Denise Levertov, dazu Ignatow, Muriel Rukeyser und von den jüngsten Talenten Robert Wallace sowie Charles Bell und Tram Combs. Von ihnen hat sich Ignatow unmittelbar, im Zeitschriftenbeitrag „Williams’ Influence: Some Social Aspects“ (1964), zum ,Einfluß‘ des älteren Dichters geäußert.322 Auf die genaue, mit unserem Teilproblem identische Frage des für die Paris Review interviewenden Stanley Koehler: „What do you think you yourself have left of special value to the new poets?“ antwortete der 79jährige in Sätzen, die von allen seinen Urteilen über die eigene Wegbereiterrolle die genaueste Selbsteinschätzung aussprechen; deshalb verdienen sie vollständige Zitierung:

The variable foot – the division of the line according to a new method that would be satisfactory to an American. It’s all right if you are not intent on being national. But an American is forced to give the intonation. Either it is important or it is not important. It must have occurred to an American that the question of the line was important. The American idiom has much to offer us that the English language has never heard of. As for my own elliptic way of approach, it may be baffling, but it is not unfriendly, and not, I think, entirely empty.323

Diese Vorstellung von sich selbst, die den Hauptton auf die verskünstlerische Seite des eigenen Schaffens legt, stimmt mit der Wirklichkeit der literarischen Zeitgeschichte überein. Man braucht nur an Duncans und Ginsbergs Aussagen zu denken.
Zu den literarischen Journalisten, den Dichtern und Dr. Williams selbst treten in den mittleren 1960er Jahren immer häufiger die wissenschaftlichen Beobachter der zeitgenössischen Lyrik. Das Thema ,Gegenwartslyrik als Widerstand gegen die Lyrik der Vergangenheit, aber auch als deren Nachahmung und Umformung‘ fehlt wohl in keiner neueren amerikanischen Darstellung des Stoffes. Unausgesprochen ist es auch in den neuerdings immer beliebter werdenden Anthologisierungen von Zeugnissen der kritischen Rezeptionsgeschichte eines Autors zugegen; J. Hillis Millers William Carlos Williams: A Collection of Critical Essays (1966) liefert dafür ein Beispiel.324 Für die expliziten Behandlungen des Themas, das die Wirkung von Williams’ Lyrik auf die Versdichtung nach 1945 einschließt, mögen drei Veröffentlichungen – alle aus demselben Jahr 1965 – stellvertretend stehen: Stephen Stepanchevs American Poetry Since 1945,325 die beiden „Postscripts“ von Paris Leary und Robert Kelly zu ihrem Sammelband A Controversy of Poets326 und Ralph J. Mills’ Contemporary American Poetry. Im August des gleichen Jahres bezeichnet John Lucas im Ginsberg-Abschnitt seines Kongreßbeitrages Williams als ,Wegweiser‘:

Williams had of course shown the way…

Die nächste Nähe zur Auffassung seiner Rolle als ,Wegbereiter‘ ist erreicht.327

Als vorläufig letzten wissenschaftlichen Zeugen sei zwei distanzierten Beobachtern des amerikanischen literarischen Lebens das Wort erteilt. Beide gehören der australischen Amerikanistik an, der eine von ihnen, Daniel Hughes, vielleicht nur gastweise, insofern sein Aufsatz mindestens einen australischen Veröffentlichungsort, die Adelaider Southern Review (1966), gefunden hat. Mit Hughes kehren wir zu den Typenbildnern des Anfangs der „Einführung“ zurück. Der Ton solchen Klassifizierens hat sich allerdings vom Ernst zum Scherz gewandelt. Kurzerhand wird die amerikanische Lyrik der Gegenwart in zwei Richtungen aufgeteilt, „the poetry of pedantry, begun by T.S. Eliot, and the poetry of scandal, stemming from William Carlos Williams“. Robert Lowell und John Berryman, dessen 77 Dream Songs das eigentliche Thema des Aufsatzes bilden, seien von der einen zur anderen Richtung umgeschwenkt. Bei aller ihrer burschikosen Vereinfachung bezeugt diese Typenbildung wenigstens eines erneut: die Wirkung, die der Dichtung des Rutherforder Arztes zugeschrieben wird, und zwar hier einmal nicht auf die Beat Lyriker, sondern auf profilierte Einzelgänger wie Lowell und Berryman.
Erheblich stärkere Überzeugungskraft geht jedoch von dem zweiten Beitrag aus. Seine australische Herkunft ist ohne jeden Zweifel. In den 1950er Jahren war der Amerikanistik Neuseelands eine amüsant-aufklärende Studie über Whitmans Einwirkungen auf Eliot gelungen; der gleiche Fachbereich down under bringt 1966 eine weitere wirkungsgeschichtliche Arbeit, die bisher einzige größere Untersuchung der amerikanischen, englischen und anglo-irischen Lyrik des 20. Jahrhunderts vom Standpunkt des ,Einflusses‘ eines zeitgenössischen amerikanischen Autors, hervor: K.L. Goodwins schon erwähntes Buch über den ,Einfluß‘ Pounds. Es vergleicht in seinem Schlußteil die nach der Meinung seines Verfassers gewichtigsten Einflüsse auf die Lyrik des englischen Sprachraums im 20. Jahrhundert und versucht dabei auch eine Platzbestimmung von Williams:

With all his efforts, however, Pound has probably had no more influence than Hopkins, Yeats, or Eliot, and little more than Dylan Thomas or William Carlos Williams… his (Pound’s) influence has always been mingled with and diluted by the influence of others; at any particular time he has been overshadowed as a popular source of inspiration by other writers – Yeats during his time in England, Eliot during the twenties, Hopkins during the thirties, Dylan Thomas during the forties and early fifties, Williams since then… the influence of Hopkins, Eliot, and Dylan Thomas has waned since they have had no new poems to offer;328

Gegenüber diesen ,nachlassenden‘ Einflüssen besteht mindestens für den Anfang der 1960er Jahre Williams’ Selbstaussage „I’m still alive“ zu Recht. Sie bekräftigte am Ende des Interviews vom April 1962 ein vorausgehendes „I’m alive“.329 Fast genau ein Jahrhundert zuvor hatte die noch nicht 32jährige Miss Dickinson dasselbe Wort „alive“ verwendet, freilich nicht in einer selbstsicheren oder selbstsicher scheinenden Aussage wie der 79jährige Dr. Williams im letzten Jahr vor seinem Tod, sondern in einer Frage an einen nur brieflich angesprochenen, ihr damals noch nicht persönlich bekannten Kritiker:

Mr. Higginson, – Are you too deeply occupied to say if my Verse is alive?330

Die den beiden Autoren gemeinsame Sorge um das ,Leben‘ des eigenen Werkes läßt sich beschwichtigen. „They are still alive“ darf man Williams’ Antwort an sich selbst abwandeln.
So langsam wie beharrlich wurden die Steinchen zum sich allmählich bildenden Mosaik der dichterischen Wirkungsgeschichte eines neuengländischen ,älteren Fräuleins‘ und eines Arztes aus dem New Yorker Vorortgebiet westlich des Hudson zusammengetragen. Sie bilden die Voraussetzungen zu Studien, die sich eines Tages neben Goodwins, The Influence of Ezra Pound, stellen werden. Für diese abschließenden Werke zur Wegbereiterschaft der Frau aus Amherst und des Mannes aus Rutherford hofft die vorliegende Abhandlung auch ihrerseits Wegbereiterin zu sein.
Wohin den zwei Wellen der modernen amerikanischen Lyrik, der einen kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs, der anderen nach dem Ende des zweiten, der Weg bereitet wurde, läßt sich jetzt klarer überschauen. Der Weg hatte im Grunde nur ein Ziel: eine neue Sprache für Amerikas Versdichtung. Bildersprache, vom Vergleich bis zum Symbol, als Mittel zur Objektivierung verschwiegenster Bewußtseinsregungen und -zustände, ungewöhnliche syntaktische Muster als Zeichen eigenwilligen Denkens, Verzicht auf den reinen Reim als Zeilenbindung: auf sie bereitete besonders Emily Dickinson vor. Eine neue Weise, Sprache zu messen und dadurch in gebundene Form zu bringen, eine „measure“ zu finden, die sich auf die genaue Beobachtung der Prosodie der amerikanischen Umgangssprache gründet, sich als „variable foot“ von den metrischen Konventionen der britisch-englischen Dichtersprache löste und zum Versform-Experiment der „triadic line“ führte, außerdem die Versmaß- und Versbau-Experimente auf die Collage sprachlicher Bilder abzustimmen: zu diesen Zielen leitete Williams hin.331 Der Mut zum Aussprechen unüblicher Ansichten, religiöser und philosophischer bei der Amhersterin, religiöser und moralischer bei dem Doktor-Poeten, dazu die originelle Genauigkeit in der beschreibenden Mitteilung von Sinneseindrücken, schließlich ein Gestaltungsprinzip, das Teut Riese mit „Konkretion“ bezeichnet und Williams’ Paterson durch „– Say it, no ideas but in things –“ ausgedrückt hat:332 alles dies war von Emily Dickinson und William Carlos Williams zu lernen. Bei dem jetzigen Stand der Forschung bleibt allerdings noch offen, nicht ob, aber wie weit Miss Dickinson auch folgenden Schritt von Williams, „to gain a full conception of the modern in art“, mitvollzogen, d.h. folgende Überzeugung vom Verhältnis des künstlerischen Schaffens zur „Natur“ geteilt hätte:

It is NOT to hold the mirror up to nature that the artist performs his work. It is to make, out of the imagination, something not at all a copy of nature, but something quite different, a new thing, unlike anything else in nature, a thing advanced and apart from it.333

 

6
Was weiß die deutsche Literaturgeschichtsschreibung jenseits der Amerikanistik und Anglistik, was weiß eine von der Germanistik oder Romanistik ausgehende vergleichende Forschung zur modernen Versdichtung des Abendlandes von solcher Gemeinsamkeit des Wegbereitens, die eine Lyrikerin der 1830er Generation mit einem Lyriker der 1880er Altersreihe verbindet? Die Frage wird im Rezeptionsteil, also mindestens für Williams, erneut zu stellen sein. Hier sei nur eines vorweggenommen: von den drei wohl bekanntesten neueren Beiträgen, welche die deutsche Literaturwissenschaft zwischen 1955 und 1965 zur Erforschung der modernen abendländischen Lyrik geleistet hat, schweigen zwei über Emily Dickinson genauso wie über Williams.334 die dritte, die streng genommen, nur aus einer „Vorbemerkung“ und einem „Nachwort“ zu einer Anthologie von deutschen und ins Deutsche übersetzten „Dokumenten zur Poetik“ besteht, findet Raum wenigstens für Williams.335 Das Schweigen berührt umso merkwürdiger, als ein Seismograph der gesamt-abendländischen Moderne, die italienische, wahrhaft kosmopolitische Zeitschrift Botteghe Oscure immerhin Williams in Original und teilweise auch italienischer Übersetzung schon von 1948 an hatte zu Wort kommen lassen.336 Noch zu oft fällt also ,abendländische‘ mit ,europäische‘ Lyrik zusammen. Das überseeische Abendland liegt für viele anscheinend noch immer am Rande Europas oder gar  u n t e r  seinem Horizont. Inzwischen sammelt sich der Klein-Abendländer auf scheinbar so europäische Amerikaner und tatsächliche Wahleuropäer wie Eliot und Pound. „The fate of American poetry may… be read as an exemplum of the fate of modern poetry at large“: diese Ansicht von Roy Harvey Pearce, die sich auf Amerika als Prototyp der modernen Industriegesellschaft stützt,337 bezeichnet den genauen transatlantischen Gegenpol zur üblichen cisatlantischen Auffassung von den inner-europäischen Wurzeln der „modernen Lyrik“, eine Auffassung, wie sie etwa Hugo Friedrichs Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart (1956) vertritt.338 Wenn nach Pearce das ,Schicksal der amerikanischen Lyrik‘ sich deuten läßt als „a lesson deriving from a peculiarly American role – at once pioneering and avant-garde“,339 nimmt er die Metapher des ,Pioniers‘ wieder auf, die zu Beginn dieser Einführung, im Zitat aus Eliots Rede, erschien. Daß sie nicht nur auf Williams, sondern auch auf Miss Dickinson zutrifft, mag als berichtigende Ergänzung deutscher Eliot-Lektüre willkommen sein.
Methodologisch betrachtet, veranschaulicht diese Doppelstudie zwei Arbeitsweisen der Literaturwissenschaft, die sonst gern eigene Wege gehen: die Methode der Werkinterpretation und die der Rezeptionsgeschichte. Im Grunde gehören beide zusammen, wie nicht zufällig – auch darauf wies mich Klaus Lubbers hin – gerade ein Dickinson-Forscher betont hat. „The creative critic interprets the reception of his author quite as much as he elaborates a personal analysis“,340 formuliert Henry W. Wells in Introduction to Emily Dickinson. So bemüht sich der vorliegende Versuch um die Vereinigung von sonst Getrenntem, inhaltlich von Emily Dickinson mit William Carlos Williams, methodisch von Interpretation mit Rezeption.341

Hans Galinsky, Vorwort

Epilog

– ,Sense of discovery‘ und Thema der ,Wegbereiterschaft‘ in der neueren Dickinson- und Williams-Forschung. –

Vom Ausblick auf die zukünftigen Geschicke des Dr. Williams und seines Werkes kehrt das Auge des Interpreten und Rezeptionsgeschichtlers zurück zu ,la fortuna di Emily Dickinson‘, wie sie Klaus Lubbers für Amerika und England, Paola Guidetti für Italien und der Verfasser der vorliegenden Doppelstudie in kurzer, vergleichender Betrachtung dargestellt haben. Gerade für den vergleichenden Beobachter hat sich im zunächst unübersichtlichen Gewebe der Rezeption beider amerikanischen Dichter das klassische Muster des Gleichen im Ungleichen mit allmählich wachsender Schärfe abgehoben. Von einer Decade of Discovery hat Linda Welshimer Wagner in Bezug auf die Aufnahme, die Williams von 1953 bis 1963 gefunden hat, 1965 gesprochen. Zwei Jahre vorher hatte Richard B. Sewall dasselbe Wort ,Entdeckung‘ gebraucht,342 um den Stand der kritischen Aufnahme Emily Dickinsons in der Mitte der 1950er Jahre zu bezeichnen:

There has been nothing in our critical annals quite like the sense of discovery that animated the reviews and revaluations that greeted the new edition (The Poems of Emily Dickinson, ed. Thomas H. Johnson).343

Zu solcher Gleichheit der Stimmung, in der sich die Williams- und Dickinson-Aufnahmen der neueren Forscher treffen, tritt die Gleichheit der Richtung, in der sich die Forscher bewegen. Dem Werk des Arztes aus Rutherford wie dem der unverheirateten Patrizierstochter aus Amherst gilt die Aufmerksamkeit der interpretierenden, der biographischen, der wertenden Richtung. Jedoch das  K r ä f t e v e r h ä l t n i s  der drei ist im Fall von Miss Dickinson von vornherein ein anderes als in Williams’ Fall. Jahrzehntelang wandte sich das biographische Interesse der ,geheimnisvollen‘ oder mindestens ,seltsamen‘ Gestalt der zurückgezogenen Neuengländerin erheblich stärker zu als dem jedermann bekannten, täglich in aller Öffentlichkeit sichtbaren Arzt aus New Jersey.344 Dementsprechend sammelte sich das Bemühen der Interpreten mehr auf Williams als auf Emily Dickinson. Gewiß stellt sich ein allmählicher Ausgleich in beiden Richtungen her, aber solange Sewalls Feststellung zurecht besteht: „In spite of the wealth of new material made available in the last decade, it (the biographical problem) still is a problem“,345 wird Miss Dickinson die biographische Entdeckerlust beharrlicher reizen als Dr. Williams. Die dritte Richtung, die wertende, versuchte sich von früh auf an beiden Autoren. Freilich spielt dieses kritische Geschäft des Wertens im Ganzen der Rezeption dem dichtenden Mann gegenüber die erste, gegenüber der dichtenden Frau die zweite – von der Neugier der Biographen zurückgedrängte – Rolle.
Aber je deutlicher die Amhersterin und der doctor-poet unter dem gemeinsamen Blickwinkel der ,Wegbereiterschaft für die moderne amerikanische Lyrik‘ als Paar hervortreten, desto kräftiger verspricht die Anteilnahme der Interpreten weiterzuwachsen. Der Nachweis ,schöpferischer Rezeption‘, der Wirkung der beiden Früheren auf die Späteren, bedarf nun einmal sorgsamer vergleichender Textauslegung von Vorbild und Anverwandlung.346 Zu solchem prüfenden Interpretieren anzuregen gehört zu den Hoffnungen dieses Buches.
Zu seinem kleinen Teil bezeugt es die Richtigkeit von Grundansichten über den Menschen und seine Werke in der ,Zeit‘, Ansichten, deren sprachliche Fassung nicht durch den Wissenschaftler, sondern den Dichter am Ende stehen möge. Der Lyriker, der sie aussprach, begegnete uns schon am Anfang, er tauchte häufig erneut auf, er kehrt am Schluß wieder: T.S. Eliot, derselbe, der sich über seine Landsmännin aus dem Connecticut-Tal anscheinend völlig, über seinen Landsmann aus dem Tal des Passaic mit Sicherheit fast völlig ausgeschwiegen hat. Williams hat ihn bekanntlich Jahrzehnte hindurch als verhängnisvollen Gegenspieler, erst spät, und auch dann nur gelegentlich, als Mitarbeiter empfunden, Mitförderer einer Aufgabe, die alle drei, die Frau aus Amherst, den daheim, in Rutherford, gebliebenen Mann, den Londoner expatriate und British subject aus St. Louis, miteinander verbindet. „… to forge a distinctively American language for poetry“, „an essentially American concern“ hat ein kenntnisreicher Erforscher der angle-amerikanischen Lyrik, A. Alvarez, diese Aufgabe genannt.347 Eliots Verse

Time present and time past
Are both perhaps present in time future,
And time future contained in time past

– die meditierenden Eingangszeilen des ersten der Vier Quartette348 – bewahrheiten sich auch an den Miterfüllern jenes „concern“, an unserem Duett Emily Dickinson und William Carlos Williams, an ihrer wie an jeder künstlerischen Wegbereiterschaft; denn sie ist eine der Formen, in denen Vergangenheit in der bewußten Gegenwart, in der ,Moderne‘, lebt und, in ihr aufgehoben, in die Zukunft und damit die Zukunft der amerikanischen Lyrik hineinwirkt.

Hans Galinsky, Nachwort

 

Inhalt

Vorwort

EINFÜHRUNG
Verbindungslinien zwischen Emily Dickinson und William Carlos Williams: ein Forschungsbericht

ERSTER TEIL: INTERPRETATION
Wege in die dichterische Welt Emily Dickinsons

I. Emily Dickinson in Deutschland

II. Technik

III. Natur: ein früheres Textbeispiel

IV. Natur: ein späteres Beispiel

V. Gott

VI. Liebe: zwei Proben aus der Lyrik der Jüngeren

VII. Liebe: ein Achtzeiler aus der Dichtung der Älteren

VIII. Der Repräsentanzwert der Interpretationsbeispiele für das Gesamtwerk

IX. Werk und Umwelt

X. Der Aussagewert von Werk und Leben

 

ZWEITER TEIL: REZEPTION
Die Aufnahme von William Carlos Williams in Deutschland, England und Italien (1912–1965)

I. Deutschland

i. Die amerikanische Rezeption als Hintergrund der europäischen

ii. Erste und zweite Phase der deutschen Rezeption (1931–1961): Kurze Gastbesuche und allmählich wachsende Empfangsbereitschaft

1. Frühphase (1931–1945): Französische Vermittlung und erster deutscher literaturwissenschaftlicher Ansatz

2. Zweite Phase (1948–1961): Eingang durch die Hintertür der Fußnote, breite amerikanische Wegbahnung und erste deutsche Übersetzer (1948–1952)

3. Zweite Phase: Langsame Annäherung aus eigener deutscher Kraft (1952–1958). Literarhistoriker – Übersetzer – Atlantischer Austausch: Amerikanischer Rundfunkvortrag in Deutschland, deutsches Kongreßreferat in Amerika – Niedriger Stand von Wertung und Kenntnis

4. Zweite Phase: Annus mirabilis 1959: Wachsende Anzeichen von Williams’ geistiger Gegenwart in Deutschland
Vier Wege zu Werk und Autor: Der Hauptweg: deutsches Interesse an der beat generation, ihrer literarisch produktiven Williams-Aneignung und Williams’ Hilfestellung für die beats – Drei Nebenwege: Literaturgeschichte, Dichtersprachgeschichte, Literaturkritik: der amerikanische Literarhistoriker als erneuter Vermittler – deutsche Sicht von Williams’ Dichtersprache – deutsche Spätrezeption von Ezra Pounds Williams-Essay (1928)

5. Zweite Phase: Fortdauernder Zugang zu Williams über die beat generation (1960–1961)
Amerikanischer literarischer Journalismus als Vermittler – Corsos und Höllerers Junge Amerikanische Lyrik – Anstieg des Wissens und Verlauf des Wertens in deutschen und in übersetzten Literaturgeschichten sowie im übersetzten Lexikonbeitrag: Williams in deutscher, englischer und amerikanischer Sicht

iii. Dritte Phase (1962-1965): Einbürgerung

1. Der Übersetzer als Dichter, Anthologist und Kritiker in Personalunion: Hans Magnus Enzensberger

2. Ausstrahlungen von William Carlos Williams: Gedichte / Amerikanisch und deutsch

3. Aufgeschlossenheit und Verschlossenheit deutscher Lyriker als Kritiker von Williams

4. Aufmerksamkeit für Williams’ Beziehungen zu Deutschland

5. Anhaltendes und gebrochenes Schweigen mancher Literaturwissenschaftler über Werk und Mensch

6. Ein beharrendes Motiv: ,Williams als Wegbereiter moderner amerikanischer Lyrik‘

7. Der ,Dichter-Arzt‘ im deutschen Williamsbild

8. Williams als Zeuge im ,Pornographie‘-Prozeß der Gesellschaft gegen die Kunst

iv. Ein idealtypisches Stufenmuster literarischen Rezipierens und seine Gültigkeit für die deutsche Williams-Aufnahme

 

II. England und Italien

i. England

1. Erste Spanne (1912–1926): Literaturkritische Frührezeption durch einen Engländer in Amerika und noch früherer Druck von Williams’ Lyrik und Prosa in England: Lawrence, Pound und Monro als Helfer

2. Zweite Spanne (1933–1952): Unmerkliches Wachsen britischer Kenntnis und schwankende Urteilsbildung

3. Dritte Spanne (1954–1965): Verbreiterung der Textkenntnis, Verbreiterung und Vertiefung der literaturkritischen Auseinandersetzung
Vorabdrucke und Nachdrucke – Wiederabdruck früher amerikanischer und britischer Urteile (Pound und Lawrence) – Literaturkritik der 1950er und 1960er Jahre: akademisches Schrifttum und middlebrow-Zeitschriftenpresse

4. Dritte Spanne (Fortsetzung): Das Williamsbild britischer Anthologien und ihrer kritischen Einleitungen

5. Dritte Spanne (Schluß): Ein britischer Dichter im Angriff auf anglo-amerikanische Williams-Kritiker: Charles Tomlinson

6. Britischer und deutscher Rezeptionsverlauf im Vergleich

ii. Italien

1. Frühphase (1944–1953): Kritische, textveröffentlichende und übersetzerische Leistung

2. Entfaltungsphase (1955–1965): Die Interpretationsleistung

3. Entfaltungsphase (Fortsetzung): Stetiger Fortgang des Übersetzens

iii. Deutschland, England, Italien: Vergleich von drei europäischen Rezeptionsweisen

 

EPILOG
,Sense of discovery‘ und Thema der ,Wegbereiterschaft‘ in der neueren Dickinson- und Williams-Forschung

Anhang: Übersicht „Emily Dickinson in deutscher Übersetzung (1898–1965)“
Namen- und Sachregister

 

Kurt Oppens: Emily Dickinson: Überlieferung und Prophetie, Merkur, Heft 143, Januar 1960

Kerstin Fritzsche: Die große Liebe lebte nebenan

Kai Grehn: Mögen sie Emily Dickinson?

Werner von Koppenfels: Ruhm ist unstete Speise auf schwankendem Geschirr

 

 

Fakten und Vermutungen zu Emily DickinsonArchiv +
MAPS 1, 2 & 3IMDbPennSound + Internet Archive + Poets.org +
Kalliope
Archibald MacLeish über Emily Dickinson

 

Emily Dickinson: The Poet In Her Bedroom.

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