Sibylle Goepper und Cécile Millot (Hrsg.): Lyrik nach 1989 – Gewendete Lyrik?

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sibylle Goepper und Cécile Millot (Hrsg.): Lyrik nach 1989 – Gewendete Lyrik?

Goepper & Millot-Lyrik nach 1989 – Gewendete Lyrik?

GESPRÄCH MIT BERT PAPENFUSS 1994

Bert Papenfuß: Wenn es um die Wende gehen soll… O.k., laß uns anfangen. Ich durfte in der DDR nicht publizieren. 1977 habe ich mich zum ersten Mal an Verlage gewandt. Das war der Verlag Neues Leben und die haben wirklich in der 1976 gegründeten Zeitschrift Temperamente ein paar Texte veröffentlicht, die aber bei irgendwelchen Funktionären auf Unverstand stießen und das endete damit, daß ich ab 1978 gar nicht mehr publizieren durfte. Ich hatte aber schon ein Manuskript zum Aufbau-Verlag gebracht und der wollte einen Band rausbringen. Das war zu der Zeit, als gerade Uwe Kolbe erschienen oder in Vorbereitung war. Es entstand ein bißchen die Ahnung, daß da eine neue Generation ist, mit der man anfangen wollte, zusammenzuarbeiten. Insofern war es wichtig, daß Uwes Buch 1980 erschien; Hineingeboren1. Bis 1986 habe ich überhaupt nicht publiziert in der DDR. In der Zwischenzeit haben wir nur diese Lyrik-Graphik-Sachen gemacht und diese Untergrund-Zeitschriften hier in der DDR, und 1985 ist ein Band2 von mir in West-Berlin erschienen; wie ich voriges Jahr herausgekriegt habe, mit Unterstützung des Senats, das hatte man mir verschwiegen die ganze Zeit… Das wußte ich nicht, damals wäre es mir sehr unangenehm gewesen, wenn ich es gewußt hätte. 1985 erschienen mehrere Bücher: diese Anthologie, die Sascha und Elke herausgegeben haben, Berührung ist nur eine Randerscheinung3, darin ein neuerer Text von mir von 1980. Das Manuskript von harm4, das 1985 erschien, war schon 1976 bis 77 geschrieben worden. Und es erschien auch dieses Buch: Ich fühle mich in Grenzen wohl5, bei der Mariannenpresse. Sonette von Stefan, Sascha und mir. Danach lief gar nichts mehr, ich konnte nicht publizieren und vor allem hatte ich kein Geld und ich wußte nicht, wie wir überleben sollten, und da haben meine Frau und ich zusammen einen Ausreiseantrag gestellt. Dann haben wir uns aber getrennt. Sie ist rübergegangen und ich habe meinen zurückgezogen und bin hier geblieben. Es sollte eine richtige Trennung sein, da ist es ganz gut, wenn man eine Mauer dazwischen hat.

Cécile MillotAlso für Sie war es doch nicht so wichtig, in den Westen zu gehen?

Papenfuß: Nee, richtig. Ich kannte schon genügend Leute drüben, Leute, die von hier rübergegangen sind und auch Leute, die drüben aufgewachsen sind, und Ausländer, und ich wußte, wie die Situation ist, daß ich als „Underground-Dichter“ dort ankomme und eine Weile hofiert werde und genug Geld kriege, mich aber auf ein normales Subventionierungsprogramm einstellen muß und das wollte ich nicht. 1986 hat sich der Aufbau-Verlag wieder gemeldet und wollte langsam wirklich ein Buch von mir publizieren und dann wurde ich eingeladen in die Akademie der Künste, um dort zu lesen, also nur vor den Mitgliedern der Akademie der Künste, vor Heiner Müller, Volker Braun, Gerhard Wolf und den mir unbekannten linientreuen Autoren. Das kam einer Art Rehabilitierung gleich. Im Zuge dieser Veranstaltung, in der Diskussion danach wurde beschlossen, daß der Aufbau-Verlag jetzt ernsthaft an dem Buch arbeiten soll. Das Buch sollte mit neuen Texten aktualisiert werden, denn der Text des Manuskripts, das sie hatten, war schon alt. Die Zeitschrift Sinn und Form, um ein Zeichen zu setzen, sollte gleich erstmal im nächsten Heft ein paar Sachen von mir abdrucken, was auch geschehen ist… Kurz darauf fand auch eine Sitzung im Aufbau-Verlag statt, in der Diskussion mit Elmar Faber6, der inzwischen Verlagsleiter im Aufbau-Verlag war, ging es um die Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung. Er hatte sie gelesen und fand viele Texte darin schlecht, meinte aber, man könnte trotzdem mit dieser Generation von Leuten arbeiten und ein gutes Buch machen. Doch die Leute, die schon ausgereist waren oder gerade dabei waren, die sollten nicht in der Anthologie im Aufbau-Verlag vertreten sein. Das war eine große Diskussion, denn uns war es egal, ob jemand einen Ausreiseantrag hatte oder nicht, solange er hier war, gehörte er da mit rein. Und im Zuge dieses Gesprächs haben wir gefordert – also wir; das waren Kolbe, Döring, Koziol, Schedlinski und ich und so weiter –, daß nicht nur eine Anthologie erscheint, sondern daß eine neue Reihe kreiert wird und daß Gerhard Wolf der uns sowieso über die Jahre betreut hatte, die herausgibt. Und das geschah auch in Folge. Es hat noch einmal zwei bis drei Jahre gedauert, aber es ging dann los. Daraus wurde dieses Außer der Reihe. Das heißt, die Edition Neue Texte wurde eingestellt und diese neue Reihe etabliert. Und dann erschienen nach und nach unsere Bücher. Mein Buch erschien Anfang 19897 in einer sehr lockeren kulturpolitischen Phase… Wie gesagt, seit 1986 war auch für unsere Generation eine enorme Lockerung in der Kulturpolitik spürbar. Wir konnten produzieren, ein Teil der Leute konnte in den Westen fahren, wenn sie eine Einladung hatten, konnten auch im Westen publizieren, ohne daß das irgendwelche Konsequenzen auf ihre Existenz hier gehabt hätte. Wir hatten immer Einladungen nach Österreich, nach Westdeutschland oder Westberlin gekriegt, durften aber nie fahren. Ich konnte ab 1987 fahren. 1987 hatte ich eine Einladung zum Festival nach Rotterdam, wo Sascha Anderson als Vertreter von West-Berlin und Westdeutschland eingeladen war8, und ich als Ostdeutscher. Wobei witzig ist: Sascha war schon ein Jahr da, und – gut, Sie kennen die ganze Geschichte mit der Stasi und dem KGB und so was alles – hatte wirklich Heimweh und wir haben auch Penck9 besucht in London, und es war eine komische Situation. Penck und Sascha beneideten mich irgendwie, daß ich wieder in die DDR zurückdurfte und sie eben nicht. Sascha hat mich wieder zurückgebracht nach Amsterdam zum Flughafen und ist danach zur sowjetischen Botschaft gegangen und hat um politisches Asyl gebeten in der Sowjetunion und ist abgelehnt worden. Ich weiß es aus meinen Stasi-Akten und habe auch natürlich danach gefragt, was das zu bedeuten hat, aber er gibt keine Auskunft darauf – na gut, ist auch egal. Aber es beschreibt ein bißchen die Situation. Ich bin wieder zurück in die DDR und hatte ab 1988 fast ständig einen Paß. Ich habe einen Preis gekriegt in Italien, in Süd-Tirol und hatte einen Paß dafür, fast das ganze Jahr. Ich war viel in West-Berlin. Das galt nicht nur für mich, auch Rainer Schedlinski, Peter Brasch, Eberhard Häfner und andere hatten Reisepässe. Die Öffnung der Grenze war im kulturpolitischen Sektor viel eher vollzogen worden. Ab 1986 wurde jedenfalls unsere Generation integriert in diese Öffnung. Was aber auch dazu beigetragen hat, daß eine „Anything-goes-Haltung“ entstand. Man äußerte sich nicht mehr politisch engagiert, sondern es war so:

Was wollen wir bloß, wir können alles machen, ist auch im Prinzip alles publizierbar, wir können in den Westen fahren usw.

Es gab kein politisches Engagement, ab einem bestimmten Punkt, auch nicht von den Leuten, die im Westen waren. Es sind nur sehr wenige, die mit der Bürgerbewegung zusammenhingen, die anders motiviert waren. Die hatten Freunde, die hier im Gefängnis saßen, wegen irgendwelcher Bürgerrechtsaktivitäten. Aber wir wissen auch, was aus denen geworden ist. Sie sind politisch heute sehr weit rechts abgedriftet und haben als Bürgerbewegung keine politische Relevanz. Die haben eine Rolle gespielt für die westdeutsche Politik in der Wende und nach der Wende, aber inzwischen sind sie völlig obsolet und vegetieren rechts der SPD irgendwo dahin. 1989 erschien mein Buch dreizehntanz, im Januar, und es wurden bis Mitte des Jahres 5.000 Exemplare verkauft. Für den Aufbau-Verlag war es wichtig zu merken, so etwas geht, so etwas kann man verkaufen. Auch wenn es eine schwerverständliche Lyrik ist, gibt es ein Käuferpotential dafür. Über den Aufbau-Verlag bin ich zu Luchterhand gekommen, das Buch erschien parallel, in der DDR bei Aufbau und in Westdeutschland bei Luchterhand. Dann wollte Luchterhand ein neues Buch von mir und ich wollte etwas machen über Irland, mit Penck zusammen. Er hat Beziehungen zu Irland, hat ein Haus dort. Ich wollte einen Vorschuß von Luchterhand für das Buch haben, damit ich hinfahren kann und das war denen zu hoch. Ich wollte 3.000 DM haben. Die wollten sie mir aber nicht geben. Ich habe mit Gerhard Wolf gesprochen, der Klaus Staeck, der damals für den erkrankten Gerhard Steidl10den Steidl-Verlag koordinierte, angerufen hat. Der hat mich gefragt: „Gut, wieviel?“ – und da habe ich gesagt „6.000 DM“ – „Na, sagen wir 5.000 DM, kein Problem.“ Witzig ist noch die Passage dazwischen: Da habe ich noch mit Luchterhand verhandelt. Das klappte aber nicht so richtig und da sagte die Lektorin, die in West-Berlin saß, wir sollen mal zu Günter11gehen. Der sollte quasi ein gutes Wort für mich bei Luchterhand einlegen. Günter ging es aber in erster Linie darum, daß ich mich am Wahlkampf für die SPD beteilige und zwar mit den Worten. „Wer als junger Mann kein Anarchist gewesen ist, aus dem wird nie ein richtiger Demokrat“, er wollte mich wirklich überreden, am Kulturprogramm der SPD teilzunehmen. Das habe ich abgelehnt, wobei er noch gesagt hat, er persönlich macht ja Wahlkampf nur in Weinregionen: „Dieser Wein da auf dem Tisch, ja, der kommt aus meiner Wahlregion…“ – „Nee, nee, SPD, kann man nicht machen.“ Na gut, insofern gab es natürlich auch keinen Vertrag und kein Geld bei Luchterhand. Witzigerweise ist aber Günter Grass ein Jahr später auch von Luchterhand weggegangen und ist jetzt bei Steidl. Dann bin ich mit meiner damaligen Freundin Karen Margolis12 und Penck durch Irland gefahren. Ich wollte wirklich ruhige, beschauliche, ein bißchen mythologisch angehauchte Landschafts- und Liebesgedichte machen und da war die Zeitung ständig voll mit Ungarn und DDR. Mich hat es gestört. Es hat meine poetischen Kreise gestört… Als ich zurückgekommen bin, habe ich mich natürlich engagiert usw. – das merkt man an den Texten in tiské13, die darauf reagieren. Aber ich habe diese Maueröffnung sehr, sehr skeptisch gesehen. Ich war bei einer Freundin zu Hause und wir haben es im Fernsehen gesehen, wie sie diese Mauer aufgemacht haben, ich habe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, habe gesagt, o.k., gut, ich gehe ins Bett. Sie ist noch an die Mauer, nach West-Berlin gefahren. Aber für mich war das, ach, mein Gott, das wollte ich nicht…

MillotDas ist offenbar für viele Leute so gewesen: „Das wollten wir nicht“, „So wollten wir es nicht“, sagen sie.

Papenfuß: Ich habe nie diesen Wiedervereinigungsenthusiasmus gehabt, ich war enorm skeptisch von Anfang an. Kurz nach der Wende waren wir alle sehr zerstreut, unsere ganze Generation, also Döring und Sascha und Jan Faktor usw., wir waren ständig unterwegs. Vor der Wende auch schon. Diejenigen, die fahren konnten zumindest. Aber insbesondere kurz nach der Wende haben uns die Goethe-Institute überall eingeladen. Wir waren gar nicht in der Lage, uns zu treffen, um die Sache etwa kulturpolitisch oder strategisch durchzusprechen, weil wir viel zu zerstreut waren. Das war sehr schade. In der Zeit sind, glaube ich, auch unsere Kontakte zueinander ziemlich abgebrochen und infolge der Stasi-Mitarbeit verschiedener Leute quasi zerbrochen. Das heißt nicht völlig. Ich arbeite noch mit vielen Leuten zusammen, mit denen ich auch früher zusammen gearbeitet habe, aber das ist kein Kreis von Verschworenen mehr, das ist ein Kreis von Leuten, die für ein bestimmtes Projekt zusammenarbeiten. Wenn ich jetzt für Sklaven14 arbeite, ist Stefan Döring dabei, und Stefan Ret, der den BasisDruck Verlag die ganze Zeit gemacht hat, das ist ein sehr alter Freund von mir, den kenne ich, seit ich siebzehn bin – und eigentlich sollte das Blatt als Kooperation zwischen Galrev und BasisDruck erscheinen. Das war mein Konzept. Daß es bei Galrev hergestellt wird, daß ein Teil der Exemplare in den Vertrieb von Galrev geht und ein Teil der Exemplare in den Vertrieb von BasisDruckBasisDruck hatte auch gar nichts dagegen einzuwenden, sie hatten auch keine Skrupel oder Berührungsängste mit Galrev oder mit Stasi oder Ex-IM. Auf kommerzieller Ebene arbeiten sie zusammen. Aber Stefan hat das nicht gepaßt, er wollte es nicht, daß die Sklaven bei Galrev erscheinen. So haben wir abgesagt und es selbst produziert, wobei das gar nicht möglich war, weil BasisDruck im Laufe der Zeit seine ganze Logistik verschleudert hatte. Sie haben gar nichts mehr, das heißt, sie müssen ihre Bücher bei Galrev herstellen, layoutmäßig und Belichtung, teilweise Druck… Für das Layout habe ich doch wieder mit Sascha zusammengearbeitet. So scharf zu trennen ist es also nicht, aber es ist kein intensiver Austausch mehr. Es gab natürlich auch totale Brüche. Jan Faktor ist mit uns verfeindet, läßt sich nicht mehr sehen und beteiligt sich an keinen Lesungen, wo ich dabei bin. Stefan Döring gegenüber ist er auch schon skeptisch… Interessiert Sie diese ganze Stasi-Scheiße überhaupt?

MillotMein zentrales Interesse gilt mehr, wie Sie dann geschrieben haben. Ob Sie geschrieben haben, was Sie vorher nicht schrieben und wie Sie geschrieben haben.

Papenfuß: Was meine Poetik anbetrifft: sie ist auf diesem ganzen Mist der DDR gewachsen. Wie soll man sagen? Propagandasprache und Verballhornung…

MillotJa, das wäre eine meiner zentralen Fragen, inwiefern diese Veränderungen der politischen Bedingungen, das heißt auch der Sprachbedingungen, für Ihre poetische Sprache Folgen gehabt haben. Können Sie das beschreiben? Weil ja in der DDR jede experimentelle Lyrik schon an sich Protest war und nach der Wende ist einiges anders geworden. Ich möchte gern wissen, was Sie darüber denken.

Papenfuß: Als ich ernsthafter anfing zu schreiben, so mit sechszehn, als ich mich anderen Leuten mitteilen wollte – nicht wenn ich Liebesgedichte für meine Freundin schrieb, sondern mich ans Publikum gewendet habe, was sich im Laufe der Jahre auch aufgebaut hatte – ist es schon ein bißchen eigenartig gewesen, weil meine Freunde ganz andere Sachen lasen, nicht experimentelle Lyrik, sondern Camus und Sartre und Heiner Müller und was man Anfang der ’70er Jahre gelesen hat, Beatniks und sowas alles –, was ich machte, war irgendwie anders. Ich habe im Prinzip das ganze Arsenal der Moderne: Avantgarde, Futurismus und Dada und Schwitters benutzt, um die Sprachstrukturen der DDR-Offizialität anzugreifen. Für die DDR-Kulturpolitik war das schwierig, es gab schon allein diesen Formalismusvorwurf, der auf mich zutraf; dazu war es auch noch politisch gegen den Staat gerichtet, manchmal sehr prononciert. Insofern war das Veröffentlichungs- und Lesungsverbot für mich selbstverständlich. Es war auch selbstverständlich, daß man das hintergangen hat, daß wir uns immer wieder Räume gesucht haben, um es trotzdem zu machen.

MillotDas, was Sie geschrieben haben, war sowieso gegen die offizielle Sprache oder gegen die offizielle Kultur gerichtet…

Papenfuß: Ja, ein ähnlicher Prozeß ist zum Beispiel in West-Deutschland auch abgelaufen. Thomas Kling hat mit ähnlichen Methoden wie ich im Osten die BRD-Realität bearbeitet, verarbeitet, angegriffen, mit fast denselben Arsenalen, mit Futurismus und Dada. Surrealismus ist immer eine Grenze, zumindest in der ostdeutschen experimentellen Literatur. Erstens war er in Deutschland nicht richtig präsent – in den ’20er Jahren, gut, da war alles noch sehr von Dada geprägt und gleich danach ging die ganze Faschismuskacke los. Der Surrealismus war sehr peripher. Deutsche Dichter können normalerweise kein Französisch. Jedenfalls unsere Generation, eher Englisch, das heißt, wir haben uns an diesen Sachen orientiert, was moderne Literatur anbetraf. Komischerweise gibt es aber jetzt eine Generation, die ein bißchen jünger ist als wir, deren Autoren eine Zeitschrift haben, Herzattacke heißt sie, die gibt’s, glaube ich, immer noch, und auch einen kleinen Verlag, in dem diese Gruppe die surrealistische Tradition weiter für sich aufarbeitet oder benutzt, und auch schon die anarchistische Fraktion. Das ist sehr interessant, es spielt für sie eine Rolle, während es für uns keine gespielt hat. Nach der Wende habe ich mir gesagt, jetzt machst du mit der ganzen Westrealität, mit dieser Offizialität der Sprache weiter, aber dazu hatte ich keine Lust. Das war in der DDR schon eine ziemliche Dreckarbeit, aber jetzt das noch einmal zu machen, diese ganze verlogene Kacke noch einmal zu malträtieren, das erschien mir wie eine Sisyphus-Arbeit und das wollte ich nicht. Es hat ein paar Jahre gedauert, dann habe ich keine andere Möglichkeit gefunden und mich doch in diesen Prozeß begeben, mich mit dieser Sache auseinanderzusetzen. Ich habe mir gedacht, ich fang da an, wo es brennt – mit dem Geld. Seit letztem Jahr habe ich die Sachen mit dem Geld gemacht, wobei ich Geld nur genommen habe, weil das für die meisten Leute sinnlich sehr schnell erfahrbar ist. Es hätte wenig Sinn, die Machtstrukturen mit experimenteller Poesie darstellen zu wollen, das ist relativ schwierig. Letzten Endes geht es mir darum, wie der sprachliche Prozeß, wie Foucault meint, Macht, Recht und Wahrheit bestimmt, beeinflußt oder wie das wechselwirkt. Es ist schon das Wichtige. Ich habe Einstiegspunkte gesucht, normalerweise hätte es Sexualität sein müssen. Sie spielt sowieso eine große Rolle in meinen Texten, ist immer präsent. Es interessiert mich sehr, wie Sexualität im sozialen Umfeld überhaupt funktioniert und sich verändert. Aber Geld schien mir ein greifbarer Ansatzpunkt zu sein.

MillotHabe ich das richtig verstanden? Nach der Wende wollten Sie sich in Ihren Texten nicht mehr mit der westlichen Gesellschaft auseinandersetzen und schließlich haben Sie sich doch dazu gezwungen gefühlt?

Papenfuß: Ja, das ging nicht anders. Ich hätte natürlich anfangen können, historische Gedichte zu schreiben oder meinetwegen Liebeslyrik – es ging aber nicht: Ich muß mich zu dem äußern, was mich bedrückt. Ich schreibe über die Sachen, die mich stören.

MillotUnd haben Sie den Eindruck, daß Sie eine andere Sprache brauchen, um sich mit der westlichen Gesellschaft, die es ja nun mal gibt, auseinanderzusetzen, eine andere oder eine abgewandelte? Wie ist das mit Ihrer poetischen Sprache? Benutzen Sie immer noch dieselbe wie zu DDR-Zeiten? Oder ist sie einfach anders geworden, weil ein paar Jahre vergangen sind, das kann natürlich auch sein. 

Papenfuß: Ich denke, die Methodik ist immer noch dieselbe. Ich benutze immer noch das für mich relevante, mir zur Verfügung stehende Arsenal von sprachlichen Methoden. Das Sujet hat sich verändert und das hat natürlich auch ein bißchen Einfluß auf die Poetik, auf die Methodologie, also wie man Texte macht. Ich stehe ein bißchen daneben und ich schreibe nicht so bewußt. Wenn ich meinen neuen Band fertig habe, ist er auch fertig und ich stehe daneben und versuche, Distanz zu kriegen und auch rauszufinden, was sich geändert hat… An diesem Buch, was jetzt im Herbst bei Janus press erscheinen soll – routine in die romantik des alltags15 – habe ich im Prinzip seit 1987 geschrieben, zwischendurch immer wieder andere Sachen gemacht, die auch publiziert, aber nie dieses Buch, das ich die ganzen Jahre machen wollte. Jetzt, als ich die Texte dafür zusammengestellt habe, habe ich gemerkt, daß ich von den früheren Texten, die vor der Wende entstanden sind, manche gar nicht verwenden kann, daß ich zu viel DDR-Realität bearbeitet habe, die ich heute nicht mehr brauche. Das kann ich vielleicht später mal brauchen, wenn ich meine Kindheits- und Jugenderinnerungen schreibe.

MillotAbgesehen von dieser Thematik, die nicht mehr aktuell ist, könnten Sie von einigen Ihrer Texte sagen: „Dieser Text wäre vor der Wende nicht so entstanden, hätte nicht so ausgesehen.“

Papenfuß: Wissen Sie, was nicht nur mir passiert ist, sondern auch allen anderen Leuten, die seit 1987 bis ’88 im Westen waren – wir haben ziemlich freundlich geschrieben über westliche Verhältnisse und Realitäten, wir waren alle ein bißchen dem Egoismus verfallen und wir hatten keine großen Verpflichtungen, wir haben alle sehr billig gelebt im Osten und wenn wir im Westen waren, dann natürlich nur dann, wenn wir Geld hatten. Wir haben keinen materiellen Druck im Westen gespürt. Erst als ich meine Ex-Frau wiedergetroffen habe, und meine Tochter, habe ich gespürt, was sie für Probleme im Westen haben, Miete, so was alles. Da ist mir zum ersten Mal aufgefallen, wie relevant das war – nicht direkt für mich, aber indirekt auch für mich. Diese Schärfe und Härte der Auseinandersetzung mit der westlichen Realität ist erst in den letzten zwei bis drei Jahren passiert, für die meisten Leute jedenfalls. Dieser lange Text, der auch in Bateria drinnen ist, „mors ex nihilo“16, geht um Staatsterror und Individualterror, na ja, um Staat und Individuum. Ich denke, daß er typisch für mich ist, für die neue Zeit, nach der Wende. Ich habe versucht, das Gewaltpotential in einem so „gut“ funktionierenden Staat wie Deutschland darzustellen. Nicht nur das Gewalt-, sondern auch das Gegengewaltpotential, das ist genauso vorhanden. Das hört auf mit Wolfgang Grams17. Die letzten Worte des Gedichtes sind:

durch aufgesetzten kopfschuß, dulce et decorum

Das „dulce et decorum“ habe ich aus der Presse, als über Grams geschrieben wurde, daß der Leitspruch seiner Schule „Fürs Vaterland zu sterben ist süß und ehrenvoll“ war. Ich denke, daß der Text typischer ist, als die anderen, die ich jetzt für routine in die romantik des alltags geschrieben habe. Dort sind wirklich Texte gesammelt, die versuchen, mit den Fragmenten des Alltags in Form einer Art absurdem Leitfaden des Lebens umzugehen. Wobei im Buch der extra Abschnitt „finanzlyrik“ schon um Geld, Schwundgeld, Wirtschaftspolitik usw. geht… Irgendwann habe ich angefangen, die Wirtschaftsteile der Zeitung zu lesen. Was mich vorher nie interessiert hat. Bis ich gemerkt habe, daß es für uns auch unumgänglich ist, uns damit auseinanderzusetzen. Wir sind natürlich bemüht, eine Basis dafür zu finden. Denn ich kann einen anarchistischen Standpunkt vertreten, aber solange es keine soziale oder ökonomische Relevanz hat, ist es egal, ob ich es tue oder nicht. Da kann ich machen, was ich will. Insofern war und ist Franz Jung18 ein Lieblingsautor von uns allen – vielleicht weniger von Sascha, Sascha war immer ein bißchen apolitisch, oder Schedlinski, ihm war er zu sozialistisch engagiert –, aber für mich haben Franz Jung und die Texte, die er in den ’20er, ’30er Jahren zur deutschen Wirtschaftspolitik geschrieben hat, immer eine große Rolle gespielt. Es wird in Sklaven immer eine Rubrik geben, die sich mit ihm beschäftigt. Das Gesamtwerk erscheint jetzt bei Nautilus in Hamburg. Es gibt aber noch viele Paraphernalien, viele unveröffentlichte Texte, die erst jetzt aufkreuzen. Sie waren umstritten und sind deswegen nicht in die Gesamtausgabe mit reingenommen worden, so daß wir das jetzt nach und nach machen müssen. Es geht nicht nur um ihn, sondern auch um das politische Umfeld um ihn.

MillotSie setzen sich in vielen Ihrer Gedichte heute noch mit der DDR auseinander. Können Sie etwas dazu erklären?

Papenfuß: Meine Metaphorik ist in der DDR entstanden und insofern greife ich auch hin und wieder darauf zurück. Ich habe keine Nostalgie der DDR gegenüber. Ich freue mich jedes Mal, wenn ein Staat ins Gras beißt –, aber Lyrik hat mit Erinnerung, Erfahrung und mit diesem Metaphernarsenal zu tun, das in dieser Zeit ausgeprägt wurde. Mir passiert es manchmal, wenn ich auf diese Metaphorik zurückgreife, daß die Leute hinterher sagen, das sei DDR-nostalgisch oder ost-nostalgisch. Es gibt natürlich immer noch Sachen, die auf die offizielle DDR-Literatur reflektieren, wobei – in den letzten Texten gibt es wenig DDR-Realität, ich bin viel, viel weiter zurückgegangen. So etwas sollte man immer machen, wenn sich irgendwas ablutscht, viel weiter zurückgehen.

MillotEin bißchen Provokation ist bestimmt auch drin, zum Beispiel in dem, was Sie vorige Woche vorgelesen haben, da kam zwei Mal vor:

Es lebe die Deutsche Demokratische Republik!

Papenfuß: „Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik!“ Britt Beyer hat einen Beitrag über mich gemacht fürs Fernsehen und ich lese das Gedicht „in cunt we trust“ vor und ihr Beitrag hört auf mit diesem Gedicht, also mit den Worten: „Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik!“ – das ist, was die NVA-Soldaten sagen, wenn sie vereidigt werden. Ich habe das gar nicht gesagt. Ich war nicht offizieller Soldat, ich war bei den Spatensoldaten, den Waffendienstverweigerern. Wir hatten bei der Vereidigung einen anderen Spruch, den habe ich vergessen. Ich habe den Beitrag nie gesehen, den sie gemacht hat, aber der Schluß muß witzig sein, weil da ist noch jemand aus dem off, der lacht und sagt:

Ja, ja, ich auch, aber auf meine Weise, ha, ha, ha!

Bei der Abnahme sagten ihre Chefs:

Das kann unmöglich so sein. Wir können alles machen, aber dieses: „Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik“, das muß weg.

Sie hat einen Monat lang gekämpft und das ist doch so gesendet worden. Aber das ist interessant, was man heute gar nicht mehr sagen darf. Das hat mir auch Spaß gemacht. Ich weiß auch, welche Zeilen Sie meinen: eben das „Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik“ und das andere: „Ostsee bleibt – meine Heimat DDR“, das sind Graffiti in der Lychener Straße, ich bin da mal vorbeigelaufen, und da stand eben: „Ostsee bleibt“, und „Meine Heimat DDR“.

MillotUnd das sind auch Lebenssituationen von ehemaligen DDR-Bürgern.

Papenfuß: Ja. Meine soziale Reife setzte in der Pubertät ein, als ich in Leningrad gelebt habe und als mein Vater mit mir zu den Schauplätzen der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ gegangen ist. Interessant ist, daß in diesen Kultstätten, in der Peter-Pauls-Festung in Leningrad zum Beispiel – wo wir immer wieder gerne mal hingingen – natürlich nicht nur die linientreue Richtung vertreten ist, sondern auch die ganzen Sozialrevolutionäre, die Nihilisten und die Anarchisten – man kann die Aufseher fragen, wo die Zelle ist, wo Bakunin gesessen hat, wo Netschajew war und sie wissen das alles. Mein Vater war Offizier und hat sich natürlich als Revolutionär mit Offizierstradition, also Dekabristen und so weiter gesehen. Er hat mich zu diesen Schauplätzen gebracht, nur ich habe nicht seine Richtung gesehen, sondern für mich waren die Zarenattentäter natürlich wesentlich interessanter als so ein Marxistenzirkel. Als junger Mann mußte ich mich mit meinem Vater rumstreiten, das ist nun mal so im Leben. Ich mußte mich aus seinem Schatten bewegen und dazu war das ein absolut gefundenes Fressen. Er war seiner Scheißlinie treu, und ich dagegen wurde Anarchist. Wir haben uns eine Weile gestritten und dann, o.k., gut, das war’s. Das haben wir geklärt, und jeder ist seiner Wege gegangen. Und heute ist es so, daß ich viel stärker wieder in dieses Metier zurückkehre, dort wo die Keimzelle des modernen radikalen politischen Engagements war. Das ist für mich zum Beispiel Dekabrismus und nicht Deutscher Befreiungskrieg, der viel zu nationalistisch eingefärbt war, obwohl die Lützower Jäger die letzten coolen Uniformen bis dato trugen. Der Dekabrismus hatte natürlich auch nationalistische Züge, aber es gab auch linke sozialrevolutionäre Aspekte. Es gibt in meinen Texten auch diese sehr frühe Revolutionssymbolik. „Flaggen auf den Türmen“ zum Beispiel ist ein Buch von Makarenko19 – habe ich nie gelesen, sollte aber jeder DDR-Bürger wissen, worum es in dem Buch geht. Nun, ich weiß es nicht, aber ein paar Freunde von mir haben mir was erzählt, und bei mir heißt es „schwarze flaggen auf den türmen“. Ich greife auf dieses Metier zurück, natürlich auf meine Art und Weise.

MillotUnd haben Sie ein ähnliches Verhältnis zum Kulturgut aus dem Westen entwickelt, wenigstens teilweise, oder ist es Ihnen fremd geblieben? Haben Sie innerhalb von den mittlerweile fünf Jahren auch langsam zum Beispiel eine westliche Metaphorik entwickelt?

Papenfuß: Nein, eigentlich nicht. Ich glaube, wenn ich mir angucke, was ich in den letzten zehn Jahren geschrieben habe, es zehrt sehr aus der östlichen Symbolik, aus der revolutionären Symbolik, aus dem Nihilismus, Anarchismus und – na ja, das westliche Pendant dazu wäre vielleicht die keltische und nordische Mythologie. Spielt eine große Rolle, seit ewig in meinen Texten. Deutschland ist ein Schnittpunkt. Stirner z.B. – es gibt einen schönen Aufsatz von Stirner über den Osten Deutschlands,20 1848 geschrieben, und er sagt darin, daß Deutschland nie zum starken Nationalstaat werden darf. Die Funktion Deutschlands sollte sein, zwischen Ost und West, Nord und Süd zu vermitteln. Die ’20er Jahre in Berlin sind ein Paradebeispiel dafür, aber ich glaube, das ist nur ein Symbol für die eigentliche geographische Funktion Deutschlands. Hier trifft der slawische Trotz mit westlicher Psychologie zusammen und für diese westliche Komponente habe ich als Metaphorik viele Sachen aus der keltischen Mythologie benutzt.

MillotAber das ist Westen im geographischen Sinne und nicht im Sinne von Westdeutschland, Bundesrepublik. Das ist klar, daß das nicht die Kultur ist, wo Sie zu Hause sind. Aber jetzt, wo die DDR praktisch überrumpelt worden ist, setzen Sie sich in Ihren Texten mit dieser praktisch „eingebrochenen“ Kultur auseinander?

Papenfuß: Ach nee, mache ich nie. Hat mich auch nie interessiert! Ich habe ein gebrochenes Verhältnis zur deutschen Gegenwartsliteratur, schon immer gehabt, auch im Osten – na ja, ich habe nie ein Buch von Günter Grass oder Christa Wolf gelesen, ich wüßte auch nicht warum…

MillotEs muß auch nicht unbedingt Literatur sein, es können Medien, es kann Werbung sein…

Papenfuß: … widerlich, ich habe keinen Fernseher, nie einen gehabt, interessiert mich nicht, stört mich einfach, es reicht mir schon, daß ich Werbung überall um die Ohren geschlagen kriege. Eigentlich interessiert mich der Westen gar nicht. Ich habe auch immer in der DDR gesagt: „Mich interessiert die DDR nicht“, leider wohne ich hier nun mal, ich muß mich notgedrungen damit auseinandersetzen, weil ich mich mit meiner Umwelt auseinandersetzen muß. Klar, wenn man irgendwas schreibt, was eine gewisse soziale Relevanz hat, kriegt man ein paar aufs Dach und kriegt man Leseverbot, das ist normal. Das ist überall auf der Welt so. Und dennoch habe ich die DDR verkörpert und beschrieben. Und ich denke, das ist heute ähnlich. Mich interessiert der Westen nicht, aber natürlich muß ich mich damit auseinandersetzen. Ich will mich nicht mit der CDU oder SPD auseinandersetzen, aber es gibt immer wieder Anstoßpunkte, wo es mich berührt und wo ich in irgendeiner Form zurückschlagen muß…

MillotSie haben vorher vom lyrischen Ich und vom Wir gesprochen. Ich nehme an, Sie haben jetzt unter geänderten Verhältnissen ein anderes Publikum als in der DDR?

Papenfuß: Ich glaube, daß das Publikum noch sehr ähnlich ist. Ich habe mich sowieso ein bißchen atypisch verhalten, habe viel mit Rockmusik zusammen gemacht, habe dieses normale Rock-Musik-Auditorium angesprochen, oder genervt, muß man sagen, und habe natürlich auch ein Teil dieser Attitüde in die Literaturhäuser reingetragen. Ich merke, wenn ich ein neues Buch veröffentliche, sprechen mich Leute an, die auch in der DDR zu meinen Lesungen gekommen sind und die kaufen die Bücher auch heute noch. Ich glaube, das hat sich nicht groß geändert. Sie verfolgen die Sache weiter, gehen mit, was nicht bedeuten muß, daß sie sich auf eine ähnliche Art und Weise mit der Realität jetzt auseinandersetzen wie ich, aber auf jeden Fall behalten sie sie im Auge.

MillotEine andere Frage wäre, ob die Stellung des Privaten in den Gedichten sich verändert hat. Sind Sie persönlich mehr anwesend in Ihren Gedichten oder weniger?

Papenfuß: Ich denke, in den frühen ’80er Jahren habe ich sehr private Sachen geschrieben. Liebesgedichte und sowas. Da hat mich das Psychische mehr interessiert, heute interessiert mich eher das Phänomenologische. Das Psychische, Psychologische auch. Aber mehr, wirklich, Machtstrukturen. Ich könnte mir nicht vorstellen, heute noch sowas wie Liebeslyrik zu schreiben, wie Mitte der ’80er Jahre. Wenn ich heute einen Text schreibe, bin ich der Nabel, der Omphalos. Ich benutze alles um mich herum, um mich auszudrücken. Aber ich darf nicht davon ausgehen, daß meine Problematik wirklich interessant für Leute ist, oder relevant. Weil ich damit rechnen muß, daß es irgendwann die Leute nerven wird, langweilen, versuche ich den Kontext meiner Erfahrung darzustellen, nicht so sehr mich. Sondern ich benutze auch die Erfahrung vieler anderer Leute mit. Auch das Vokabular der anderen Leute. Ich konstatiere heute eher, als daß ich versuche, mich auszudrücken.

MillotKann man sagen, daß das eine Reaktion auf besondere politische Verhältnisse ist, daß Sie in besonderen politischen Verhältnissen, z.B. Ende der ’70er Jahre oder jetzt nach der Wende, das Private nicht so relevant finden?

Papenfuß: Na ja, das hat mehr etwas mit unserem Lebensstil zu tun. Anfang der ’80er Jahre hatten wir uns ziemlich gemütlich eingerichtet im Untergrund. Widerstand war ein Ideal. Klar, ab und zu stritt man sich mit den Bullen, ab und zu kriegte man auf die Fresse, es ist normal, es gehörte dazu, wir haben unsere gemütliche Phase gefeiert, fünf bis sechs Jahre lang. Und dann war die Zeit nach der Wende, die habe ich schon beschrieben, sehr turbulent, sehr erlebnisreich, aber diese Phase des Widerstands, wie wir sie in den ’70erJahren hatten, das kommt jetzt erst wieder. Nicht für alle. Es sind auch ein paar, die haben aufgehört zu schreiben, oder schreiben so wenig, oder so zurückhaltend. Es hat damit zu tun, daß sie nicht nochmal die Anstrengung haben möchten, die sie damals hatten, als sie gegen den real existierenden Sozialismus angeschrieben haben. Wir kotzen uns maßlos an, wenn ich mit meinen Freunden oder Exfreunden zusammensitze, da gehts im wesentlichen darum, was macht man am Wochenende, und was trinken wir jetzt.

MillotDaß das, was Sie schreiben, sich nicht mit Politik beschäftigt, können Sie sich nicht vorstellen?

Papenfuß: Nein. Politisch ist allerdings ein sehr hartes Wort. Mich interessiert, wie das Individuum im sozialen Kontext funktioniert, das ist natürlich auch politisch und reagiert auf politische Öffentlichkeit. Klassische Lyrik z.B. ist egozentrisch. Schreiben ist immer egozentrisch, aber Lyrik insbesondere ist nicht unbedingt ein sozialer oder politischer Prozeß, es kann auch ein sehr subjektiver Prozeß sein. Ich glaube aber, ich habe diese totale Egozentrik verloren. Ich denke, ich bin nicht mehr so interessant. Es ist manchmal auch unzumutbar für andere Leute. Und seither gebe ich mir ein bißchen Mühe, zu konstatieren, was passiert, was abläuft.

MillotSchreiben Sie für Leute? Schreiben Sie an Leute? Oder schreiben Sie für sich?

Papenfuß: Ich schreibe für Leute. Das war auch eine Entscheidung, die ich getroffen habe, als ich sechzehn war. Ich habe da verschiedene Methoden ausprobiert, mich auszudrücken, mich mitzuteilen. Eigentlich wollte ich Maler werden, und ich habe auch Musik gemacht… Und das waren nicht meine Methoden, ich habe herausgefunden, daß ich mich am besten durch Schreiben mitteilen kann. Da braucht man das Gefühl, daß eine Sache in Fluß kommt, das heißt, daß irgendwelche Sachen, die mir mitgeteilt werden, daß ich sie wieder in den Kommunikationsfluß bringe, und dieses Mediale, das ist für mich wichtig, organisch wichtig. Schreiben ist natürlich auch eine schöne Quälerei, es tut manchmal weh, aber letzten Endes ist es natürlich auch ein befreiender Prozeß. Jedes Mal, wenn etwas wieder in Fluß kommt. Ich habe es immer mehr als integrativen Prozeß erlebt, als sich aus der Gesellschaft auszuschließen. Selbst wenn man sehr radikale oder sehr extreme Positionen bezieht. Die Strebung ist immer noch eher integrativ.

MillotUnd da hat sich nichts geändert.

Papenfuß: Nein. Das Sujet, der Staat hat sich geändert. Der Staat. Ist auch beschissen. Der eine wie der andere. Ein besserer war nicht zu finden. Ich laufe dem doch nicht hinterher, ich kann auch woanders hingehen, nicht?

MillotDa, wo es keinen gibt…

Papenfuß: Da würde mir wahrscheinlich was fehlen (lacht).

MillotIch bin jetzt mit meiner Idee gekommen, Lyrik nach der Wende, irgendwas wird sich wohl gewendet haben. Hätten Sie das von sich aus gesagt? Sie haben ja zu DDR-Zeiten schon geschrieben. Stellen Sie in Ihrem Schreiben bestimmte Einschnitte oder Wendepunkte fest, die direkt politisch zu erklären sind? Bestimmte Zeiten, wo es in der DDR so oder so zuging, und die direkt einen Einfluß auf Ihre Schreibweise ausgeübt haben?

Papenfuß: (pfeift, schweigt) Sie meinen bestimmte politische Vorgänge in der DDR? Ja klar, immer wieder. Nicht nur große Sachen, sondern auch kleinere. Soja21 gefällt mir heute nicht mehr so. Ist mir heute zu artifiziell. Ich mußte durch formale Hürden gehen und wenn man quasi experimentelle Lyrik macht, kommt man um die konkrete Poesie nicht herum. Und Soja war mein Schlußpunkt damit, das hatte ich für mich auf die Spitze getrieben, da war es gut, aber die Texte sind in dem Sinne auch sehr politisch. Zum Beispiel geht es um die DDR-Sozialpolitik. Wir waren sehr jung, als wir geheiratet haben, zwanzig oder so, mir war völlig egal, ob wir heiraten oder nicht. Wir haben eine Wohnung besetzt, und die haben wir auch gleich legalisiert gekriegt, bekamen zinslose Kredite und so ein’ Mist, was es so gab. Das steht in den Texten drin. Oder Wahlbetrug in der DDR, so was alles. Spielt da alles eine Rolle. Aber so große einschneidende Sachen gab es nicht in der DDR. Es plätscherte ziemlich gemütlich dahin. 1976, als sie den Biermann rausgeschmissen haben, das war natürlich ein kulturpolitisches Erdbeben. Aber ein Ereignis von Null-Relevanz für uns, das war literarisch oder kulturpolitisch völlig uninteressant. Ob Biermann da ist oder nicht, war uns völlig egal. Wichtig war das hauptsächlich für die Westmedien. Da setzte der Punkt ein, wo der Underground sich konsolidierte, sich wirklich einrichtete. Es war klar, wir machen das und das, und verkaufen das im Westen, kriegen ein bißchen Geld dafür, daß wir davon leben können. Dann kam diese Bürgerbewegung auf den Plan, und die war da für mich völlig, völlig unakzeptabel. Politisch, und – in jeder Form. Und dennoch hatten wir natürlich viele Berührungspunkte mit denen, weil wir gemeinsam auf Veranstaltungen aufgetreten sind. Man sieht ja, was aus ihnen geworden ist, das ist widerlich. Und das tut mir ein bißchen leid… ich habe es mal probiert, 1985 mit meinen Texten in einen politischen Prozeß einzugreifen. Die Sachen sind nicht veröffentlicht worden oder nur auszugsweise. Das sind Texte, die schon Gedichte sind, aber fast journalistisch. Schnelle Eingreifgedichte. Irgendwas passierte und ich habe im politischen Fluß der DDR so stark Anteil daran genommen, daß ich permanent mich dazu geäußert habe, darüber geschrieben habe. Freunde von mir warfen mir vor, daß ich solche Texte nicht veröffentlicht habe, aber das ist wirklich Zufall. Es gab nie eine Gelegenheit dafür… Na klar, sie sind in den DDR-Untergrund-Zeitschriften erschienen, aber insgesamt sind sie nie publiziert worden. Und dann hatte ich zwei Jahre Liebeskummer und habe es mit dem politischen Anteil wieder sein lassen, habe mich mit meinem Liebeskummer beschäftigt. Solche Zufälle, oder Subjektivität, spielen eine große Rolle. Man kann gerne dafür sein, politisch einzugreifen und bleibt aber wegen Liebeskummers zu Hause. Das kann passieren. Ist auch passiert. Und bei dieser Konsolidierung spielten natürlich auch Schedlinski und Anderson mit, die apolitisierend auf die Szene gewirkt haben, bzw. das Politisieren in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt haben, eine quasi unschädliche. Das ist auch das, was Jan Faktor zu Recht den beiden vorwirft, oder uns vorwirft.

MillotWürden Sie sagen, daß Sie jetzt radikaler schreiben?

Papenfuß: Ach nee! Ich bin heute vielleicht ein bißchen wütender. Und ich bin auch wesentlich ärmer jetzt als in der DDR! Vielleicht ist es auch wichtig. Ich habe für dieses Jahr entschieden, daß ich keine Stipendien und keine Subventionen beantrage, weil ich mal wissen will, wie es ist. Das ist natürlich jetzt für meine Tochter ein bißchen kompliziert, sie beschwert sich, daß nichts im Kühlschrank ist – ach, sie ist einiges gewöhnt. Und ich frage mich, wie lange ich durchhalte. Auch noch wichtig ist, daß mir mein Schreiben nicht mehr genügt. Sicher ist Schreiben wichtig für mich, und das mache ich auch, mit der gleichen Intensität wie immer – es ist eine Sucht, das wird organisch für dich wichtig, das kannst du nicht mehr sein lassen. Aber ich kann mich nicht mehr damit einrichten. Es liegt wahrscheinlich daran, daß mir eine bestimmte Egozentrik abhandengekommen ist. Und das ist der Punkt, wo diese neuen Projekte ansetzen. Wie damals die Aktion mit dem Geld22hier, und eben jetzt die Zeitschrift23. Das sind Sachen, wo ich noch mal probiere – kraft meiner Intention, oder meiner Subjektivität – etwas Gesellschaftliches in Gang zu bringen. Und davor, vor der Geldgeschichte haben wir das noch mit der Band novemberklub ewig weitergetrieben. Das war in dem Sinne nicht politisiert, das war eine Rockband. Aber auch daran war wichtig, daß ich mit Leuten verschiedener Couleur zusammenarbeite: mit Musikern und mit Malern – das war vom Anfang an da. Ja, und heute? Im nächsten Monat fahre ich zu einem Kongreß für Währungsreformfetischisten, und halte da einen Vortrag – das sind Sachen, die ich mir vor einem Jahr nie hätte vorstellen können, daß ich einen richtigen Vortrag über alternative Ökonomie halte und solche Sachen. Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, daß ich im September, in Wien – da ist so eine Schule für Dichtung gegründet worden – für eine Woche oder sowas Unterricht gebe, Lyrikunterrricht. Ich habe das erst völlig abgelehnt, als sie mich dazu eingeladen haben. Ich habe aber mitbekommen, daß das über den Hans Carl Artmann geht, der schätzt meine Sachen, und er wollte, daß ich das dort mache. Das wäre eine Ablehnung ihm gegenüber gewesen und das wollte ich nicht. Jetzt muß ich mir was einfallen lassen. Ich habe die Formulare ausgefüllt und da reingeschrieben, das Seminar heißt: „Die Geburt des novemberklubs aus dem Geiste des Dekabrismus“. novemberklub ist die Band, bei der ich mitgemacht habe. Warum novemherklub? Es geht natürlich auch um die Novemberrevolution in Deutschland, da gab es die Novembergruppe, eine Künstlergruppe, und in der DDR gab es diese staatstreue Singebewegung, eine der schlimmsten Bands hieß Oktoberklub. Was ich versuchen will, ist, in Österreich, in diesen Sprachraum, der sehr an Nabelschau orientiert ist, ein bißchen Engagement reinzubringen.24

MillotJa, das sind alles Möglichkeiten, die es zu DDR-Zeiten nicht gab. Aber hätten Sie sich dafür interessiert, wenn es solche Möglichkeiten vor der Wende gegeben hätte?

Papenfuß: Ja. Die Zeitschrift Sklaven geht auf ein Projekt zurück, das wir vor zehn Jahren, in derselben Konstellation, d.h. Stefan Ret, Stefan Döring und ich, hatten. Wir wollten eine Zeitschrift herausgeben, die das Spektrum der Untergrund-Zeitschriften erweitert, die sehr kunstorientiert waren. Es war uns halt nicht politisch genug. Wir wollten mit Soziologen und Wissenschaftlern zusammenarbeiten, diese Dimension wollten wir noch reinbringen. Das war unser Konzept. Das wurde natürlich sofort durch Anderson, Schedlinski usw. der Stasi untergejubelt. Aber man kann nicht wirklich sagen, daß sie uns verhindert haben. Ich glaube, wir waren nur stockfaul. Wir hatten einen Superplan und kannten im Prinzip auch alle Leute, nur wir waren einfach faul. Und haben lieber noch ein Bier getrunken, und noch ein bißchen drüber geredet.

MillotSo wie es jetzt ist?

Papenfuß: Ja. Damals hätten wir wahrscheinlich eine hunderter Auflage davon gemacht, oder 200, und heute machen wir 1.000. Das ist dasselbe. Das ist genauso underground, wie wir damals gemacht hätten, im Grunde hat sich nicht sehr viel geändert. Das Problem wäre gewesen, daß wir damals mit all den Leuten zusammengearbeitet hätten, die später wirklich Aktivisten geworden sind: Jens Reich oder Gert Poppe[footnote]Jens Reich und Gert Poppe sind ostdeutsche Bürgerrechtler., die waren in unserem Programm. Deswegen bin ich froh, daß wir das nicht gemacht haben. Das wäre mir heute peinlich, wenn ich gestehen müßte, daß ich vor zehn Jahren mit denen zusammengearbeitet habe.

MillotWarum ist Ihnen das peinlich? Warum haben Sie sich mit der Bürgerbewegung nicht verstanden?

Papenfuß: Das war mir alles zu makrameemäßig, zu gehäkelt, zu viel selbstgewebte lila Gewänder und selbstgestrickte Pullover, zu viele Kerzen, zu viel Protestantismus. Sie dürfen nicht vergessen, daß die Kirche den Leuten nicht nur einen Raum geboten hat, sondern ich habe mit ansehen müssen, wie sie alle gebetet haben, und das, nein, nie wieder!

MillotWas die Bürgerbewegung im Wendejahr versucht hat, einen anderen deutschen Staat aufrechtzuerhalten z.B., da hätte ich mir vorstellen können, daß Sie damit einverstanden wären.

Papenfuß: Ich will aber keinen deutschen Staat! Dreck, weg damit! Als wir 1984 das Projekt hatten, diese Zeitschrift zu machen – was wir übrigens auch völlig vergessen hätten, hätten wir das nicht in unseren Stasi-Akten wieder gelesen –, waren viele von den Leuten aus der Bürgerbewegung dabei, Wissenschaftler, Soziologen, manche waren auch in der Akademie – es waren Leute, die einen Blick für soziale Relevanz hatten. Und den haben sie aber im Zuge der Machtergreifung, im Zuge des Runden Tisches verloren. Das ist eine interessante Wendung. Ich denke, daß die Beiträge, die wir damals von denen zum Teil sogar schon hatten, wirklich wichtig gewesen wären. Wie soll ich sagen: Opposition in der DDR ist ein sehr, sehr weites Feld. Prenzlauer-Berg-Untergrund-Gewusel auf der einen Seite, aber es gab auch Leute in den Institutionen, es gab Trotzkisten, die in der Akademie gearbeitet haben. Sicher gab es große Berührungsängste, aber es gab auch Leute, die vermittelt haben.

MillotExperimentelle Texte zu schreiben heute hat überhaupt nicht mehr denselben provokativen oder kritischen Stellenwert wie in der DDR. Würden Sie das auch sagen?

Papenfuß: In der DDR war „experimentell“ ein bißchen wie ein Schutzschild. Man hat „experimentell“ dazu gesagt, um sich damit Freiraum zu verschaffen. Heute ist es ziemlich irrelevant, ob es experimentell ist oder nicht. Klar, wenn jemand völlig traditionelle Gedichte schreibt, was es auch gibt, sagt man, es sind traditionelle Texte. Aber in dem Sinne greifen auch die Texte, die wir machen, auf eine bestimmte Tradition zurück, nur auf eine andere. Eigentlich ist es mir völlig egal, ob es traditionell oder experimentell oder sonst wie genannt wird. (Pause) Man muß sich auch Gedanken drüber machen, was Provokation ist. Wieviel Energie will man für eine Provokation ausgeben. Ist Provokation Ohnmacht? Provoziert man an der richtigen Stelle? Ich glaube, ich würde heute eher versuchen, in den Sozialprozeß einzugreifen, und nicht so viel Energie bei der Provokation verausgaben. Wir hatten in der DDR wirklich sehr geringe Chancen, in den sozialen Prozeß einzugreifen. Daher wahrscheinlich die ganze Provokation. Heute könnten wir im Prinzip eingreifen. Aber ob wir wirklich wollen? Und dann wäre es an dieser Stelle Quatsch, zu viel Energie für Provokation auszugeben. Es ist auch schwerer, heutzutage provokant zu sein. Ja ja, ich habe schon noch ein paar Nischen entdeckt.

MillotSind das für Sie Gedichte, die Sie heute schreiben, oder wie nennen Sie diese Form?

Papenfuß: Ich nenne es Gedichte. Na gut, mit verschiedenen Umschreibungen, in den Zyklen steht manchmal drunter: „Klartexte“, oder „Schnelle Eingreiftexte“. Aber es sind natürlich normale Gedichte. Vor sieben Jahren habe ich angefangen, mehr epische Sachen zu schreiben, lange, quasi erzählende Texte. Eigentlich normale Epen. „mors ex nihilo“25 ist ein epischer Text. Es ist kein langes Gedicht, es erzählt. Solche Texte gibt es auch in anderen Bänden, in dreizehntanz gibt es z.B. „krampf-kampf-tanz-saga“26. Das war für mich neu, hat mich auch überrascht, auf einmal so etwas geschrieben zu haben. Ich habe ja nie einzelne Gedichte geschrieben, sondern es gibt ein Thema, das mich interessiert und bewegt, und auf das arbeite ich hin. Das ist immer ein Zyklus, nie ein einzelnes Gedicht. Irgendwann war das logisch, zwingend, daß da ein längerer, durchgehender Text entsteht. Es passiert selten, alle Jahre einmal, daß es überhaupt dazu kommt, weil ich dazu viel Konzentration, mehr Ruhe brauche. Das ist schwieriger, als Fragmente für einen Sinnzusammenhang zu machen. Ein Gedichtzyklus, das sind Ausschnitte, ich füge die zusammen, zu einem Mosaik, während so ein epischer Text mehr aus einem Guß ist. Übrigens ist ein Unterschied zwischen jetzt und vorher, daß im Prinzip diese Texte immer schon verkauft sind, bevor ich sie zu Ende geschrieben habe. Da hatte ich immer Verträge und die Vorschüsse schon längst verbraten, bevor die Texte überhaupt fertig sind. Ich mache zwei bis drei Bücher im Jahr. Für verschiedene Verlage. Und ich stehe immer ein bißchen unter Zeitdruck in den letzten zwei bis drei Jahren. Wenn ich zu lange an einer Sache arbeite, falle ich zu sehr aus. Es ist wichtig, daß es einem zu einem bestimmten Zeitpunkt weggenommen wird. Ich arbeite selbständig, habe nie einen Lektor gehabt, mir hat nie jemand gesagt:

Verändere das, nimm das weg.

Ist nie passiert, würde ich mir auch verbitten, Bücher erscheinen so, wie ich sie schreibe. Also muß ich mir die Texte selber wegnehmen, nach einer bestimmten Zeit.

MillotObwohl Sie regelmäßig veröffentlichen, haben Sie Geldschwierigkeiten.

Papenfuß: Die Zahl der geschriebenen Bücher hat nichts zu bedeuten, dafür gibt es zu wenig Geld. Auch, wenn man drei Bücher im Jahr macht. Normalerweise lebt man von Lesungen. Ich hatte auch nie ein Stipendium, doch, ein Mal ein halbes Jahr. Ich habe von Lesungen gelebt, und es sind einfach weniger geworden im letzten Jahr. Die Honorare werden immer niedriger. Vor zwei, drei Jahren waren das 1.000, 1.500, und jetzt ist es völlig normal, eine Lesung für 400 Mark zu machen, Lesungen mache ich mehr im Westen. Im Osten gibt es eine Art Einverständnis, das ist eine komische Sache. Wenn ich irgendwo hinkomme und eine Lesung mache: ich bin halt einer von ihnen, der schon damals, was weiß ich, kühn das Wort geschwungen hat… Ein synthetisches Einverständnis. Kann gemütlich sein, aber bringt nicht viel. Weil es auch nicht stimmt. Bis 1989 hatten wir einen ziemlich abgehobenen Untergrund-Status. Wir waren nicht Sprachrohr einer Generation, das waren ganz andere: Uwe Kolbe, Steffen Mensching und Hans-Eckardt Wenzel. Sie sprechen auch für mehr Leute. Ich spreche für relativ wenig Leute. Damals wie jetzt. Ich konnte 1989 in der DDR 5.000 Bücher verkaufen innerhalb kürzester Zeit. Nicht weil die Leute sich dafür interessierten oder weil sie das toll fanden, sondern weil das was anderes war. Es war eine andere Stimme, eine andere Form der Artikulation, die ungewöhnlich war, das war eher Neugier als Verständnis oder Identifikation. Es wurde eher wohlwollend konstatiert, daß sowas auch möglich ist. Heute interessieren sich die Leute in dem Sinne auch nicht dafür. Natürlich werde ich nicht mehr 5.000 Bücher verkaufen wie in der DDR. Es ist auch wirklich ein Unterschied, ob mein Buch so viel kostet wie in der DDR, also 9,80 Mark, oder jetzt 20 bis 30 Mark. Aber 2.000 bis 3.000 Bücher, das ist schon ganz gut.

 

GESPRÄCH MIT BERT PAPENFUSS 16. AUGUST 2009

Sibylle GoepperZuerst möchte ich wissen, was Sie vom Begriff „Wende“ halten. 

Bert Papenfuß: Im Freundeskreis benutzen wir das Wort eigentlich kaum. Manche sagen „Mauerfall“. Ich benutze „Wende“ gar nicht, in der letzten Zeit, seitdem ich an diesem Film27 arbeite und mir alles damit Zusammenhängende zum Hals raushängt, rede ich immer vom friedlichen Zusammenbruch. Zwanzig Jahre friedlicher Zusammenbruch, das ist das Thema mit dem wir uns gerade beschäftigen. Ich sage auch gern Kladderadatsch. Der Begriff wurde 1848 in Berlin verwendet. Es gab diese misslungene Revolution und danach, schon währenddessen eigentlich, entstand ein satirisches Magazin, das Kladderadatsch hieß und damit die misslungene Revolution meinte. Diese wurde in den Heften thematisiert, insofern ein gutes satirisches Magazin, zumindest im Jahre 1848.

GoepperSie reden nicht von friedlicher Revolution?

Papenfuß: Nein, es war doch keine Revolution. Es hätte eine werden können, wenn 1990 was anderes passiert wäre. Aber was ist 1990 passiert? Das Volk hat sich eben nicht emanzipiert, hat das Ruder nicht übernommen, sondern hat sich auf den Westen verlassen und einfach vereinnahmen lassen, hat sich zum profitablen Geschenk gemacht. Man hätte es ernst meinen können mit dem Volkseigentum. In der DDR waren ja viele Begriffe verschwommen. Es wurde sowohl der Begriff „Staatseigentum“ benutzt als auch „Volkseigentum“, die waren fast synonym, es gab keinen richtigen Unterschied. Man hätte zum Beispiel das Eigentum wirklich in Volkseigentum umwandeln können, das heißt die Leute hätten die Fabriken übernehmen und eine eigene Ökonomie aufbauen können. Ich meine, 1990 hat sich ja herausgestellt, dass das System DDR reformierbar war und leider waren nun gerade die Leute, die sich politisch engagiert haben, also diese sogenannten Bürgerrechtler, nicht besonders links. Heute sind sie reaktionär, wie man sieht. Sie sind in allen möglichen Parteien, sogar in der CDU. Damals hat der Westen auch gemerkt, dass es schnell gehen muss, weil es sonst zu Unruhen führt. Es ist auch relativ viel passiert Anfang 1990: Häuserbesetzung, linksradikale Organisationen wurden gegründet. Der Westen musste also schnell handeln. In der Kommission, die die Wahl vorgezogen, also praktisch beschleunigt hat, saßen noch relativ viele Stasi-Leute. Die waren sehr verunsichert und wollten wahrscheinlich auch keinen Volksstaat. Und dann wurde eben ganz schnell die D-Mark eingeführt und damit war es vorbei.

GoepperIm Interview vor fünfzehn Jahren haben Sie Cécile Millot erzählt, dass Sie am Abend der Maueröffnung vor dem Fernseher mit einer Freundin saßen und dass Sie einfach ins Bett gegangen sind. Scheint Ihnen diese Reaktion mit dem Abstand immer noch angebracht?

Papenfuß: Na ja, klar. Ich meine, es ist ja vorher schon einiges passiert. Diese Montagsdemonstrationen gingen im September in Leipzig los, später gab es dann auch Demos in Berlin. Am 7. Oktober abends ging’s los und am 8. eskalierte es dann. Damals war ich mit Freunden auch daran beteiligt, wir saßen in der Kneipe und hörten, da ist eine Demo auf der Schönhäuser Allee. Wir sind dort hingegangen. Die Stasi war schon da und hatte die Gethsemanekirche umstellt, weil dort drinnen eine Mahnwache stattfand. Am Abend des 7. Oktober waren relativ viele Leute verhaftet worden und um darauf aufmerksam zu machen, fand dort eben diese Mahnwache statt. Wir sind auch in die Kirche reingegangen und haben uns die Situation angeguckt. Es war ein bisschen langweilig da, es gab nichts zu trinken, es war nicht viel los, wir sind wieder rausgegangen und zur Demo der Schönhauser gekommen. Ich fand es sehr gespenstisch. Ich habe überhaupt nichts gegen Demos, ganz im Gegenteil, ich bin sehr für Randale, aber schon dort war zu merken, dass es nicht darum geht: „Wir sind das Volk“ zu sagen, sondern dass sehr viel reaktionäre Deutschland-Scheiße hochkam. Es ging dem Großteil der Leute auf der Straße nicht mehr um eine Reform der DDR, sondern die wollten wirklich „Deutschland einig Vaterland“. Das lehnte ich ab. Wir sind dann verhaftet und ein bisschen verprügelt worden, haben ein oder zwei Tage im Knast gesessen. Die Stimmung im Knast war lehrreich, da habe ich viel mitgekriegt. Wir waren sehr zusammengepfercht, der Knast war völlig überfordert, es waren viel zu viele Leute drin. Da haben wir mit den Leuten gesprochen, mit den normalen Leuten. Das gesamte Spektrum der DDR-Bevölkerung war dort und schon in den Gesprächen habe ich mitgekriegt, dass die Tendenz reaktionär ist. Insofern, als die Nachricht im Fernsehen kam, dass die Mauer aufgemacht wurde, dachte ich:

Mein Gott, auch das noch.

Da war klar, dass es zu einem Untergang führt und zu einer Übernahme durch Westdeutschland. Weil der Bruderbund mit der Sowjetunion nicht mehr richtig funktionierte, weil Honecker eben diese Politik nicht mitgetragen hat. Es war klar, dass es einen Rückhalt der Sowjetunion nicht mehr gibt. Damit war das Land sozusagen ausgeliefert. Aber es gab doch noch ein paar linke Tendenzen, es gab die Vereinigte Linke und so einen Haufen Organisationen, die sich dann gegründet haben, die wirklich versucht haben, linke Positionen zu vertreten, so was wie Volkseigentum herzustellen und eine pluralistische Regierung usw., aber es hat eben nicht stattgefunden, sie hatten nicht genug Stimmen.

GoepperWaren diese Bewegungen nicht an den Runden Tischen beteiligt?

Papenfuß: Doch, sie waren vertreten, aber die Wahl wurde eben vorgezogen und dann wurde die CDU gewählt und damit war das vom Tisch. Einige von diesen Organisationen gibt es heute noch. Das Neue Forum z.B. hat sich auch damals gegründet. Sie waren aber quasi links, also auf gar keinen Fall linksradikal. Wir aber haben die Sache damals nicht ernst genommen. Ich kann mich erinnern, dass ich bei der Wahl die Wydox gewählt habe. Wydox war so eine kleine Partei, die wurde hier im Prenzlauer Berg gegründet von ein paar Rockmusikern, Freunden von uns… Na ja, gut, da habe ich eben die Wydox gewählt und den Unabhängigen Frauenverband. Ich wusste, das hatte alles sowieso keinen Sinn, denn alle würden die CDU wählen. Da habe ich meine Stimme meinen Freunden und dem Unabhängigen Frauenverband geschenkt, aber ich habe natürlich nichts erwartet. Anfang 90 war schon ein wichtiger Aufbruch. Es gab noch mal einen Impuls für die Subkultur, das Tacheles wurde besetzt und andere Gebäude hier in Berlin. Es entstanden die ersten Szenekneipen und Orte für Konzerte, Performancesachen und Lesungen und so weiter. Es passierte relativ viel in diesen wenigen Monaten. Aber andererseits war ich in der Zeit auch viel unterwegs. Es war gerade die Zeit, in der alle Leute hier herausgeholt und auf Welttournee geschickt worden sind. In der Zeit, im Januar, Februar 1990 war ich in allen Goethe-Instituten der Welt und habe eigentlich von der konkreten politischen Entwicklung hier in Berlin relativ wenig mitgekriegt. Ich stieß erst dazu, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war.

GoepperIn der Art und Weise, wie z.B. in der Prenzlauer-Berg-Szene gearbeitet wurde, bedeutet diese Epoche schon einen Einschnitt, oder?

Papenfuß: Ja natürlich, das war natürlich schon erst mal eine Öffnung, neue Möglichkeiten. Man konnte Verlage gründen – wir haben einen Verlag gegründet, das Druckhaus Galrev – und konnte Zeitschriften publizieren. Freunde von mir haben eine Zeitschrift gegründet, die Wochenzeitung Die Andere. Das war, glaube ich, die erste Gründung – sie wurde gleich im Oktober 1989 gegründet. Dort bin ich dann 1991 eingestiegen und habe mit zwei Freunden zusammen, Jürgen Schneider und Rudi Stoert, von September bis November den Kulturteil für diese Zeitung gemacht, habe mich aber mit den Herausgebern und Redakteuren nicht gut verstanden. Ich war eigentlich zu sehr „Subkultur“ für diese Art Zeitung. Aber das führte dann dazu, dass wir uns 1993 zusammengesetzt haben, Stefan Döring, Stefan Ret und ich – also Leute, die heute noch in der Redaktion der Zeitschrift Gegner28 sind – und wir haben uns Gedanken gemacht: „Mein Gott, wir haben einen Verlag…“ – das war damals ein großer Verlag, sie haben diese Zeitschriften herausgegeben, nicht nur Die Andere, sondern auch eine Frauenzeitschrift und Kinderzeitschrift und eine zweite Zeitung usw. und Bücher publiziert, die in großen Auflagen erschienen. Dann haben Döring und ich also überlegt:

O.k., was jetzt, was können wir jetzt machen?

Wir hatten noch so ein paar Lieblingsautoren, Außenseiter des Kulturbetriebs, die wollten wir dann publizieren. Wir haben aber kein richtiges Konzept dafür entwickeln können, geschweige denn ein finanzielles Konzept, haben dann daraufhin 1994 die Zeitschrift Sklaven gegründet, aus der später der Gegner geworden ist. Leider ein bisschen zu spät, weil die politische Situation schon total umgebrochen war. Es war daran nichts mehr zu rütteln. Der Anschluss war vollzogen. Wir hätten es im Januar 1990 machen sollen…

Goepper: Betrachten Sie 1989 auch als Zäsur für Ihre literarische Tätigkeit oder haben Sie einfach weitergeschrieben, was Sie vor dem Mauerfall geschrieben haben? 

Papenfuß: Mein Schreiben hat sich schon geändert. Aber das hat, glaube ich, wenig mit der politischen Situation zu tun, sondern mit meiner persönlichen Entwicklung. Ich glaube, dass die Texte in den 80er Jahren privater waren, wir – ich meine die Autoren und Künstler aus dem Prenzlauer Berg – haben uns mit der konkreten Politik oder mit der Kulturpolitik der DDR wenig auseinandergesetzt. Wir haben unseren Gegenentwurf gebastelt. Wir haben versucht, eine Gegenkultur zu vertreten, bzw. eine Basis dafür zu schaffen. Wir haben wenig auf konkrete Anlässe reagiert, das hat sich dann später geändert. Merkt man in den Zeitschriften wie Sklaven und Gegner usw., und in den Texten, die ich heute schreibe, dass sie mehr auf konkrete politische Ereignisse Bezug nehmen.

GoepperIch habe in der Tat das Gefühl, dass Sie weniger verschlüsselt schreiben. Woran liegt das?

Papenfuß: Na ja, wir hatten in der DDR eigentlich gute Arbeits- und Lebensbedingungen. Wir mussten uns nicht den Arsch aufreißen, um das Geld für die Miete aufzutreiben, für Lebenshaltungskosten. Wir haben relativ gemütlich gelebt und hatten wirklich viel Zeit, uns Gedanken zu machen. In den 70er Jahren war die Doktrin des sozialistischen Realismus noch sehr fühlbar. Dem haben wir mit unserem Entwurf, der auf den Ergebnissen der klassischen Moderne, Dadaismus und Avantgarde, Futurismus usw. basierte, etwas entgegengesetzt.
Wir hatten viel Zeit, um uns mit formalen Problemen auseinanderzusetzen und in die Tiefe zu gehen. So viel Zeit habe ich heute nicht mehr. Diese formale Erkundung von Möglichkeiten der Sprache haben wir in den 70er und 80er Jahren gemacht… Heute ist es natürlich auch so, dass diese ganze Wortspielerei so sehr in der Werbung und der Öffentlichkeit präsent ist, dass man mit diesen Methoden gar nicht mehr arbeiten könnte. Man würde sozusagen mit der Reklame konkurrieren. Nun, glaube ich, kommt es darauf an, ein klares Wort zu sagen, wenn man eine klare Position hat, was ja nicht immer der Fall ist. Ich versuche, wenn ich mich mit einer Thematik auseinandersetze, die auch in ihrer Ambivalenz zu zeigen. Ich bin kein Agitator, ich bin zwar Anarchist, aber ich vertrete nicht in jedem Text den Anarchokommunismus, sondern versuche, die jeweilige Thematik umfassend zu erschließen und auszudrücken.

GoepperSie arbeiten mit Zitaten, die auf den ersten Blick verwirrend sein können, wie z.B. von Mao oder Stalin. Ist das Ihre Art und Weise, mit der Tradition zu arbeiten?

Papenfuß: Diese Zitate, die gab es – glaube ich, bei uns allen – früher auch schon. Nur dass wir keine Quellen angegeben haben. Damals hat man diese Zitate benutzt, um sie zu verballhornen, es hat Spaß gemacht, Parteilosungen oder irgendwelche politische Parolen durch den Kakao zu ziehen. Aber heute setze ich sowas gezielt ein und gebe auch die Quelle an. Auch weil ich gern mal vergesse, wo ich irgendwas herhabe. Von Mao habe ich nur Gedichte benutzt, er hat ja ganz gute geschrieben. Es gibt verschiedene Übersetzungen ins Deutsche, ich habe sie miteinander verglichen und mir dann die besten Stellen ausgesucht. Stalin habe ich zur Sprachwissenschaft zitiert, klar. Da geht es eigentlich um die Theorien von Nikolai Marr29, der war – bzw. wurde – ein marxistischer, wenn man so will, Linguist. Mit seinen Theorien habe ich mich beschäftigt und auch mit der Polemik gegen ihn. Marrs Theorie war sozusagen Dogma in der Sowjetunion und das hat Stalin irgendwann gestört. Er hat eine polemische Schrift gegen Nikolai Marr verfasst, um dieses Dogma abzuschaffen. Wenn ich sowas thematisiere, ist das Teil meiner Auseinandersetzung mit verordneter Sprache.

GoepperHat sich vielleicht die Sprache, die Sie benutzen, auch geändert, um ein breiteres Publikum zu treffen?

Papenfuß: Nein, das Publikum, das wir heute ansprechen, ist nicht breiter als früher, wahrscheinlich sogar geringer. Ab 1986 hat sich die kulturpolitische Situation in der DDR geändert. Es wurden Texte von uns gedruckt, zwar sehr wenig. Für mich ging das eigentlich erst 1989 los. Mein erster offizieller Gedichtband in der DDR hatte eine Auflage von 5.000 Exemplaren, die schnell ausverkauft waren. Heute wären solche Auflagen gar nicht mehr möglich, würde kein Mensch verkaufen, könnte auch Suhrkamp nicht verkaufen. Die Leute interessieren sich nicht dafür. Ich denke, dass wir die Leute anders ansprechen als vor dreißig Jahren. Vor dreißig Jahren haben wir private oder zwischenmenschliche Sachen in einer experimentellen sprachlichen Weise artikuliert, das hätte heute keinen Sinn mehr, weil die Leute heute mit ganz anderen Problemen beschäftigt sind, die haben mit ihrer Lebenshaltung überhaupt zu tun. Die haben keine Zeit und keine Energie, um in die Tiefe zu gehen. Ich meine, guck dir an, wie es heute läuft; Fernsehen, Computer usw. überall, alle werden total zugeschissen. Viele können sich der Sache gar nicht erwehren und glauben den Quatsch dann wirklich.

GoepperWissen Sie, ob Sie heute eher im Westen oder im Osten gelesen werden? 

Papenfuß: Das kann ich nicht genau beurteilen. Es gibt ja in Deutschland verschiedene Szenen. Es gibt diesen offiziellen Literaturbetrieb, die Literaturhäuser, die offizielle und staatlich geförderte Ebene. Und dann findet ja viel statt in Läden wie z.B. dem Kaffee Burger, was ich auch lange Zeit organisiert habe. Bin aber jetzt ausgestiegen, ich habe das zehn Jahre lang gemacht und es stand mir bis hier… Viel alternative Kultur findet in Kneipen und Bars statt. Das ist zum großen Teil wirklich Unterhaltungsliteratur: Lesebühnen, Open Mikes, Poetry Slams. Die bemühen sich, leicht fassliche, pointierte Texte zu schreiben, passen sich dem medialen Zuschiss und Main Stream an. Damit habe ich wenig zu tun, wobei aber die Veranstaltungen, die wir machen, oft weil wir mit Musikern arbeiten, in denselben Räumen stattfinden, wo sich Lesebühnen etabliert haben.

GoepperBesteht für Sie der Sinn der Lyrik darin, dass man der allgemeinen Tendenz widersteht? Und glauben Sie, dass Lyrik als „Gegnerin“ in unserer medialen Gesellschaft überhaupt eine Chance hat?

Papenfuß: Ja, ich denke, dass Lyrik und Essayistik die Medien sind, mit denen man den Machtstrukturen etwas entgegensetzen kann. Also ich würde niemals auf die Idee kommen, einen Roman zu schreiben. Erstens würde es mir selber keine Freude machen, und dann glaube ich auch, dass ich den Affront, den ich gerne gegen die Main Stream-Kultur führe, nicht in einem Roman realisieren kann. Roman ist keine adäquate kontroverse Form, Roman ist konservativ. Niemand stirbt mit einem Arzt- oder Wenderoman auf den Lippen. Narrative Prosa interessiert ein Publikum, das zu den Lesungen in der Literaturwerkstatt oder im Literarischen Colloquium geht. Da gibt es augenscheinlich einen Bedarf, und es gibt auch Leute, die den Bedarf erfüllen. Aber dieser Literaturbetrieb ist mir zu eingeschlafen. Ich find’s auch gut, dort mal eine ruhige Lesung zu machen, und mich nicht mit der Stimme vor randalierenden Rockern und Punks durchsetzen zu müssen. Das ist natürlich eine andere Welt. Ich bewege mich im Spektrum zwischen Literaturhaus und Kneipenlesung oder Musikfestival. Das ist meine Spannbreite. Die Art Texte, die ich schreibe, sind nicht kompatibel für den Mainstream, doch sprechen sie Leute an, die sich eher für Musik interessieren, weil die Texte eben… rocken. Bei mir ist es in letzter Zeit mehr in diese Richtung gegangen, offensiv und laut und schräg, es muss rocken – das macht auch mir Spaß, übrigens.

Goepper1994 meinten Sie, dass sich eine Phase des Widerstands im kulturpolitischen Umfeld wieder abzeichnete. Ist es inzwischen zu diesem Widerstand gekommen und sind die verschiedenen Tätigkeiten, die Sie gerade erwähnten, eine Ausdrucksform dieses Widerstands?

Papenfuß: Das Kind war in den Brunnen gefallen und der Vater mit dem Staat ausgekippt, wie man so sagt. Die DDR wurde an die BRD angeschlossen, doch dann stellte sich heraus, es gibt immer noch einen renitenten Rest. Für den haben wir dann versucht, eine Plattform zu schaffen, zuerst mit der Zeitschrift Sklaven, später Gegner usw. Daraus entstand so eine Art Bewegung. Wir publizierten die Zeitschrift… übrigens haben wir nicht nur Leute aus Prenzlauer Berg veröffentlicht, sondern alle, die hergekommen sind und was zu sagen hatten. Viele Freunde von uns, die wir schon von früher kannten aus Westdeutschland oder Westberlin, doch dann kam eine neue Generation dazu, ich meine, wir waren damals auch nicht mehr die jüngsten, ich war 1989 wahrscheinlich 33. Wir haben gemerkt, diese Zeitschrift reicht nicht, wir müssen in die Öffentlichkeit gehen, wir müssen selber Veranstaltungen machen… Wir haben Veranstaltungsreihen gegründet, die dann teilweise in offiziellen Räumen stattfanden, z.B. wenn sie mal vom Kulturamt Prenzlauer Berg mit ein bisschen Geld unterstützt wurden, oder eben in Kneipen oder Zwischenverwertungsräumen wie z.B. eine Zeit lang im Prater in der Kastanienallee. Mit diesen Veranstaltungsreihen sind wir viel rumgezogen – Sklavenmarkt hieß eine, sie war mit der Zeitschrift Sklaven direkt assoziiert. Oft hatten wir Probleme mit den Inhabern der Kneipen, irgendwann – mittlerweile war es schon 1999 – hatte ich die Schnauze voll und sagte: Dann mache ich lieber eine eigene Kneipe auf und wir ziehen den Sklavenmarkt und anderes dort durch. Na gut, dann habe ich mit zwei Kollegen zusammen das Kaffee Burger übernommen, einer war Gastronom. Ich brauchte ja Leute, die sich ein bisschen damit auskennen, wie man eine Kneipe führt. Na ja, das hat Freude gemacht in den ersten drei, vier Jahren und dann irgendwann hat’s keinen Spaß mehr gemacht, es war einfach zu viel. Außerdem hatte sich das Publikum sehr geändert. Als wir 1999 anfingen, gab’s immer noch dieses Umfeld vom Sklavenmarkt, ich wusste, es gibt 100, 150 Leute, die zu dieser Art Veranstaltungen kommen, die wir damals gemach haben, sowohl Ostberliner als auch Westberliner. Zum Anfang gab es dieses Publikum und dieses Umfeld, aus dem wiederum viele neue Literaten und Künstler entstanden. Das war auch eine Generationsfrage, es kamen junge Leute. Der Nachwuchs war einfach da. Wladimir Kaminer gehörte auch dazu, wurde dann bekannt und berühmt. Die Situation in der Torstraße änderte sich, der Internationalisierung folgte die Gentrifizierung. Es entstanden Hostels, das fremdsprachige Publikum konnte mit deutschen Lesungen relativ wenig anfangen. Ich hatte Mühe, zwischen den Russendiskos, sonstigen Tanzveranstaltungen, englischsprachigen Lesungen und unterhaltsamen Lesebühnen noch meine Art Literatur mit sozialer Kenntlichkeit unterzubringen. Dem Unterhaltungsbetrieb und den Verdienstgelüsten der zahlreichen Angestellten hatte ich nichts mehr entgegenzusetzen, und ließ mich Ende 2008 auszahlen.

GoepperSie beschäftigen sich in Ihrer Lyrik mit revolutionärer Tradition und Geschichte, mit dem Ursprung des Kommunismus. Was interessiert Sie heutzutage in der Lyrik der Anderen?

Papenfuß: Es gibt heute natürlich Autoren, auch junge Autoren, die ich schätze und die ich herausgebe oder übersetze. Alexander Krohn, von dem ich jetzt das zweite Buch herausgebe, oder das dritte. Und Kai Pohl. Beide zusammen haben die Zeitschrift floppy myriapoda gegründet. Sie haben die richtige Intention, sind gegen den offiziellen Kulturbetrieb und haben die formalen Mittel, sich und ihre Kritik adäquat zu artikulieren.

GoepperKritik der Gesellschaft gegenüber?

Papenfuß: Na ja, was heißt Gesellschaft? Was ist eine Gesellschaft? Haben wir eine, oder keine? Was wir im Augenblick durchleben, ist eher eine Klassenstruktur oder eine Schichtenstruktur. Als Gesellschaft kann man das nicht bezeichnen. Es gab wenig gute Ansätze in der DDR, aber die haben wenigstens probiert, die Klassen abzuschaffen, ist natürlich nicht gelungen, aber sie haben es wenigstens versucht. Der Kladderadatsch, den wir jetzt haben, ist eine Klassengesellschaft sowieso, aber mit noch unangenehmeren Folgen dazu. Ich verstehe nicht, dass sich die Leute nicht schämen, von einer Unterschicht zu sprechen, oder den Begriff Mittelstand zu benutzen. Nazis wollten einen Ständestaat. Wie kann man da von Ständen sprechen? – Die Leute, die ich jetzt zu unterstützen versuche, indem ich ihre Sachen publiziere, übersetze oder in Zeitschriften mit ihnen zusammenarbeite, die haben natürlich eine kritische Haltung der Politik des Westens gegenüber und sind in der Lage, diese auch formal entsprechend zu artikulieren. Manchmal kann ich meine Erfahrung einbringen und ein bisschen helfen. Bei Alexander Krohn, eigentlich ein Rockmusiker und Weltreisender, war das zum Beispiel der Fall. Den habe ich kennengelernt, als er anfing zu schreiben, das war schon eine enge Zusammenarbeit.30 lch bin kein Handwerker und ich bin wahrscheinlich auch kein guter Lehrer, aber ich glaube, irgendwas hat er von mir gelernt.

GoepperDas bedeutet, für Sie soll Lyrik den Weg weisen – und die nächste Frage wäre, in welche Richtung? Dass es keine Klassen mehr gibt?

Papenfuß: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft, na klar. In der DDR haben die politisch Verantwortlichen, glaube ich, diesem Ziel gar nicht getraut. Die Partei hieß nicht Kommunistische Partei der DDR, sie hieß Sozialistische Einheitspartei. Die Russen haben sich eben als Kommunisten bezeichnet, weil ihre Partei so hieß. Für Linksradikale in der Sowjetunion war klar, dass dort nicht gerade der Kommunismus aufgebaut wird. Auch für Russen oder Sowjetbürger war er sehr weit entfernt. In der DDR wurde von der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ gesprochen, die anzustreben sei, von der sich die Partei erhoffte, dass sie emanzipatorisch wirkt und dass die Leute besser, gleicher und so weiter werden. Der Entwurf, den wir in den 80er Jahren hatten, war ein linksradikaler; wir wollten eine egalitäre emanzipierte Gesellschaft ohne hierarchische Strukturen… In der Theorie findet man zwischen Kommunismus und Anarchie wenige Unterschiede, der realisierte Kommunismus wäre ja eine Anarchie. Diese Debatte gibt es ja schon seit langer Zeit, seit 150 Jahren, und sie wird immer wieder neu aufbrechen. Problem ist, wenn man wirklich eine Menge Leute erreichen will, dann kann man nicht mit einer Negation daherkommen. Anarchismus ist eine Negation, keine Herrschaft. Und Ismen führen, wie wir wissen, in erster Linie zu Schismen. Ich denke, mit An- oder Anti- und sowas, mit negativen Begriffen sollte man irgendwann aufhören. Das Wort Kommunismus ist von der Bedeutung her ja völlig in Ordnung, eine Gesellschaft von Gleichen. Der Begriff ist schon gut, aber durch die Geschichte der sogenannten kommunistischen Parteien diskreditiert. Ich benutze den Begriff Kommunismus nicht gerne, Anarchie schon, aber ich denke, für Anarchie sollte man sich so langsam ein neues Wort einfallen lassen. Damit man ein paar mehr Leute erreicht. Ich arbeite daran.

GoepperSie arbeiten derzeit ebenso am Zyklus „Rumbalotte continua“31Was ist das für ein Projekt?

Papenfuß: 1998 habe ich probiert, eine Rockoper zu schreiben, Rumbalotte nämlich, habe mich mit sozialrevolutionären Ideen der Piraten, der sogenannten „Likedeeler“ oder „Gleichteiler“ in der Ost- und Nordsee beschäftigt. Sie waren von 1380 bis 1401 aktiv. 1400 oder 1401 ist der bis heute populäre Klaus Störtebeker, einer ihrer Anführer, hingerichtet worden. Das habe ich als Aufhänger genommen, Piratengeschichte zu erzählen, um dann sozialrevolutionäre Modelle durch die Jahrhunderte weiterzuverfolgen. Diese Rockoper ist leider nie zustande gekommen. Ich habe einen Riesenentwurf mit Regieanweisungen geschrieben, hatte auch schon alle Musiker zusammen, habe gedacht, die Bands warten alle darauf; an einem so großen Projekt mitzuwirken. Es ist aber eigentlich gescheitert, weil der Entwurf größenwahnsinnig war, auf drei Tage konzipiert, eigentlich für ein Festival. Die Bands haben nicht wirklich darauf gewartet, es war einfach nicht mehr diese größere Gruppierung von Leuten, mit denen ich früher zusammengearbeitet habe. Die eine Band wollte mit der anderen nicht mehr zusammenspielen, der durfte gar nicht dabei sein, weil er Stasi-IM war usw., die Zersplitterung war zu weit vorangeschritten. Ich habe auch kein Theater gefunden und keinen Theaterregisseur, den es interessiert hätte. Natürlich bin ich zu Castorf32 gegangen und habe ihm das vorgeschlagen, auch Christoph Schroth33 in Cottbus. Die wollten es nicht wirklich haben. Dann habe ich gesagt, o.k., ich habe nicht die richtigen Leute gefunden, habe das ganze Manuskript überarbeitet, der Regieanweisungen und allen inszenatorischen Schnickschnacks entkleidet, und 2005 als Gedichtband veröffentlicht.34 Die Thematik hat mich aber weiterbeschäftigt, diese linken sozialrevolutionären Tendenzen in der Geschichte, welche Bedeutung sie für uns heute haben, dieses Thema habe ich in Rumbalotte continua weiterverfolgt… Jetzt erscheint gerade die sechste Folge, nächstes Jahr noch eine. Es werden insgesamt sieben Folgen von Rumbalotte continua sein, und dann möchte ich mich mit anderen Sachen beschäftigen, mal wieder in die Struktur der Sprache dringen. Ich glaube, da ist noch viel zu machen. Man kann weniger hierarchische Sprachmodelle entwickeln, was natürlich wieder ein bisschen experimenteller wird. Man muss etwas gegen das Wortgeschlecht tun. Ich glaube das Wortgeschlecht ist nicht produktiv. Es gibt formale Mittel, dagegen zu kämpfen und die Sprache weniger hierarchisch aufzubauen. Ich würde mich auch gerne mit der Natur beschäftigen. Mir gefällt die aktuelle Landschaft nicht, also diese zu „Nutzfläche“ verschandelte Landschaft. Auch im real existierenden Sozialismus hieß es:

Macht euch die Erde untertan.

Wenn man mit dem Flugzeug drüber fliegt und diese ganzen Felder sieht, ist es doch schrecklich. Ich hätte gern mehr Wald, würde gern mehr Waldfrüchte essen. Die Flüsse müssten wieder zurückgebaut werden. Kanäle und Straßen gibt es auch zu viele. Ich würde Mecklenburg-Vorpommern gerne wieder aufforsten, so wie es früher war, vor der Scheiß-Bronzezeit.

GoepperNaturlyrik, das kann bedeuten, dass man auf die Kindheit zurückgreift, auf eine Metaphorik, die etwas mit der Landschaft der Jugend zu tun hat, praktisch auf eine DDR-Metaphorik.

Papenfuß: Nein, eine DDR-Metaphorik versteht kaum noch jemand, junge Leute würden das gar nicht verstehen. Wenn ich allerdings mit Freunden zusammensitze und wir über das reden, was wir früher gemacht haben… aber das wird selten genug literarisch thematisiert.

GoepperHaben Sie keine literarischen Modelle unter den älteren DDR-Autoren? 1994 sagten Sie, dass Wolf Biermanns Ausbürgerung für ihre Generation total irrelevant gewesen sei. Heißt es, dass Sie überhaupt keine literarische Beziehung zu Autoren der älteren Generationen hatten?

Papenfuß: Doch, na klar, hatten wir, natürlich, aber zu Wolf Biermann nun eben gerade nicht, den mochten wir nicht. Mittlerweile kann ihn kaum jemand noch leiden, obwohl er überall auftritt. Für uns, das kann ich auch für Döring u.a. sagen, spielte Barock eine gewisse Rolle. Quirinus Kuhlmann ist einer meiner Lieblingsautoren. Oder der Expressionist und Biosoph Ernst Fuhrmann, den kaum jemand kennt. Ich arbeite mit Andreas Hansen zusammen seit Jahren an einer Fuhrmann-Bio-Bibliografie. Für uns ist er ein wichtiger Autor, spielt darum in Gegner eine Rolle, war ein guter Freund von Franz Jung, der wiederum für uns auch ein wichtiger Autor ist, weil er aus der Avantgarde kam, Spätexpressionismus, Berlin-Dada, dann aber zum politischen Aktivisten wurde und die KAPD mitbegründet hat. In den 20ern, 30ern sind viel wesentlicher unsere Wurzeln zu suchen. Abgesehen von noch früheren Einflüssen wie Barock. Auch Volkslied und Minnesang spielten irgendwie immer eine Rolle.
Rainer Kirsch, Volker Braun… Klar, die kannten wir aus dem Buchladen. Als ich mit dreizehn, vierzehn anfing, Lyrik zu lesen, bin ich zum Buchladen gegangen und habe sie mir angeguckt und zum Teil auch gekauft, Georg Maurer, Franz Fühmann… Die Kontakte zwischen der älteren Generation und uns entstanden relativ schnell Ende der 70er Jahre. Sascha Anderson und Stefan Döring zum Beispiel nahmen an Schriftstellertreffen mit Heinz Kahlau teil, waren auch zum Poetenseminar in Schwerin und haben dort Leute kennengelernt. Ich habe nie an solchen Sachen teilgenommen, habe aber, als ich 1976 nach Berlin kam, Richard Pietraß kennengelernt, der die ersten Texte von mir 1977 in der Zeitschrift Temperamente publizierte, habe dadurch dann Karl Mickel kennengelernt und Gerhard Wolf usw. Klar, Mickel war für uns ein wichtiger Autor, Volker Braun auch, weniger für mich, eher für Leonhard Lorek und Eberhard Häfner, die er auch gefördert hat. Die hatten eine Beziehung zu Braun, andere zu Heiner Müller, ich eher zu Mickel und Elke Erb. Wichtiger als das gegenseitige Gutfinden war das Gespräch, der Austausch.

GoepperIch entdecke andere wichtige intellektuelle Figuren aus der Vergangenheit in Ihren Texten: Bakunin, Louise Michel und ein bisschen näher, von unserer Epoche, Ernst Bloch. Haben Sie auch Gleichgesinnte bei den zeitgenössischen Künstlern?

Papenfuß: Bakunin, Michel oder Bloch haben sich mit der sozialrevolutionären Thematik auseinandergesetzt, ihre Gedanken und Theorien fließen in meine Arbeit mit ein. Was heutzutage die Arbeitszusammenhänge angeht; bei floppy myriapoda sind wir zur Zeit zehn Leute in der Redaktion. In der Gegner-Redaktion sind fünf Leute. Das sind Kreise von Gleichgesinnten, die da zusammenarbeiten. floppy myriapoda ist eher lyrikorientiert, in der Zeitschrift Zonic, für die ich seit 2004 arbeite, geht es hauptsächlich um Rockmusik. Gegner ist politisch, publiziert historische Texte zur Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung. Das sind verschiedene Kreise, die sich alle kennen und als Veranstalter auch wieder quer zusammenarbeiten. Das ist schon ein relativ großes Umfeld. Alexander Krohn macht jetzt eine Buchhandlung auf worauf er schon jahrelang hingearbeitet hat – er hat einen Verlag35, in dem er kleine Bücher herausgebracht hat, ganz billig gedruckt, sonstwo in der Welt, in Laos oder in Libanon, oder irgendwo, wo er gerade war und wo es billig war, so was herzustellen und zu drucken. Der Laden ist spezialisiert auf Klein- und Kleinstverlage, mit denen wir auch zusammenarbeiten, wie z.B. Peter Engstler oder Karin Kramer, Krohn ist eine Generation jünger, ist neu eingestiegen und zieht natürlich nochmal mehrere Verbindungen mit. Er kennt Leute, die wir nicht kennen usw.

GoepperWie fühlen Sie sich im aktuellen gesamtdeutschen Literaturbetrieb?

Papenfuß: Ich bin wie gesagt eine Randfigur des Literaturbetriebs, ein Außenseiter oder sowas. Bin wahrscheinlich literarisch gerade noch so relevant, dass ich im Literaturbetrieb überhaupt eine Rolle spiele, ansonsten gehöre ich eher der Subkultur an. Da fühle ich mich wohler. Bis 1999 oder 2000 hatte ich relativ viele Stipendien, Förderungen, hin und wieder Preise. Ich konnte schon davon leben. Es wäre aber heute für mich schwer, wenn ich wieder in den Literaturbetrieb rein wollte. Leute, die mich unterstützt haben, wie z.B. Dieter Forte, sind heute Rentner. Gefördert wird ja in erster Linie die jüngere Generation, dafür bin ich jetzt zu alt. Im Augenblick habe ich Geld, bin jetzt aus dem Kaffee Burger ausgestiegen und werde ausbezahlt. Ich krieg noch ein paar Jahre Geld. In der DDR haben wir ja auch nicht von Lyrik gelebt, sondern von Kunst eigentlich, von Lyrik-Grafik-Editionen, es gab Sammler für diese Art Kunstbücher. Wie gesagt, in den 90er Jahren hatte ich viele Stipendien. Als ich 1999 Kaffee Burger aufgemacht habe, habe ich aufgehört, mich zu bewerben, weil ich gemerkt habe, dass eine Abhängigkeit zum Literaturbetrieb entsteht. Das war mir unangenehm, das wollte ich nicht. Ich stehe lieber auch finanziell auf eigenen Beinen, dann gehe ich lieber arbeiten. Stefan Döring z.B. macht Kneipen. 1990 war die erste – das Café Kiryl, 1994 die nächste – den Torpedokäfer, später das Übereck, jetzt das kleine Luxus für zwanzig Leute. Er hat in den 90er Jahren kaum geschrieben. Döring ist ein wichtiger Treffpunkt für uns, jedenfalls jeden Sonnabend und Sonntag. Von der Kneipe kann er leben, und wieder in Ruhe nachdenken. Er ist jetzt auch wieder in der Gegner-Redaktion, dort arbeiten wir wieder zusammen. Es gibt gerade auch dieses neue kleine Büchlein von ihm.36 Stefan braucht mehr Gelassenheit, um zu schreiben. Bei mir ist es anders, ich schreibe auch im Stress. Mir wäre diese Gelassenheit eher langweilig. Ich glaube, ich brauche Betrieb und Stress. Aber Leute sind unterschiedlich.

GoepperSchreibblockaden hatten Sie nie?

Papenfuß: Nee, also Schreiben habe ich immer gerne gemacht und ich mache es heute immer noch gerne. Die Intention ist, mit dem, was man schreibt, auch wenn es schwierige Lyrik ist, in die Gesellschaft hineinzugehen. Die „integrative“ Dimension ist im Laufe der Zeit stärker geworden. Wenn man sich die Problematiken anguckt, mit denen ich mich heute auseinandersetze – sozialrevolutionäre Geschichte bis heute, oder die Frage, wie kann man sich in die Gesellschaft einbringen, wie kann man in einer Gesellschaft wirken, wie sollte sie überhaupt strukturiert sein, was wollen eigentlich die Leute –, dann bin ich heute integrativer als früher. Das haben wir in der DDR nur in sehr geringem Maße getan, wir waren wirklich eine sehr eingeschworene Gemeinde hier im Prenzlauer Berg und hatten viel Zeit. Haben uns viel mit uns selbst beschäftigt und füreinander geschrieben. Wir hatten keine Öffentlichkeit, hatten nur diese Szene-Öffentlichkeit und diesen Kultstatus. Wir waren nicht in der Lage, der Bevölkerung irgendwas zu geben. Wir haben es nicht verstanden.

GoepperMeinen Sie, Sie hätten damals integrativer sein müssen?

Papenfuß: Dann hätten wir uns wiederum zu sehr in Staatsnähe begeben müssen, wären dann natürlich mit Zensur konfrontiert gewesen und hätten das wahrscheinlich nicht gemacht. Deshalb war das Gute für uns, dass wir uns unsere eigene Kulturlandschaft aufgebaut haben mit eigenen Zeitschriften, mit eigenen Veranstaltungsorten und so weiter. Gerade das hat uns ausgemacht. Aber Anfang 1990 hätten wir uns mehr in den kulturpolitischen Prozess einbringen müssen, aber wir waren zu beschäftigt und zu gedankenlos. Ich kannte den Westen ja schon in Ansätzen, aber andere waren noch gar nicht im Westen, sie mussten ihn erst mal explorieren, sich das einfach angucken und ihre Erfahrung machen und sehen, wie man selbst in anderen Verhältnissen, im Kapitalismus, reagiert. Als Lebensumstand kannten wir das ja nicht, wir kannten nur diesen misslungenen Entwurf einer klassenlosen Gesellschaft in ferner Zukunft.

GoepperVorhin konnten Sie mir nicht wirklich sagen, wer Ihre Leser sind. Merken Sie allerdings Unterschiede zwischen dem „ost-“ und dem „westdeutschen“ Publikum?

Papenfuß: Wenn ich heute schreibe, dann habe ich das Publikum im Auge, das normalerweise zu Lesungen kommt, die ich hier in Berlin, also im Prenzlauer Berg und auch in Kreuzberg mache. Es ist kein großer Unterschied, die einen Leute sind aus dem Westen, die anderen aus dem Osten, aber die Grundhaltung ist sehr ähnlich. Das vermischt sich auch, zu den Lesungen in Kreuzberg kommen die Leute aus dem Prenzlauer Berg und umgekehrt. Es sind politisch engagierte, renitente Leute, meistens mit anarchistischem Anspruch. Ich habe diese Leute vor Augen, nicht die Leute, die jetzt insbesondere zu belletristischen Lesungen kommen. Was ich mit Literatur mache, ist der Versuch, überhaupt den Impuls zu wecken, dass Leute die Gesellschaft heute kritisch sehen, ihre Rolle begreifen und dass es ihnen drauf ankommt, emanzipatorisch einzutreten für das, was sie möchten. So was kann man schon wecken. Ich weiß, Leute kommen ganz gerne zu meinen Lesungen, viele Leute sagen, ich höre es lieber, wenn du das vorliest. Aber ich denke, die Essays, die auch in Rumbalotte continua drin sind, die sollte man eigentlich selber lesen. Möglichst lese ich die nicht vor. Ich lese sowieso nicht gerne Prosa vor. Aber trotzdem ist es manchmal wichtig, schon für mich sowieso zur Selbstverständigung, aber auch um den Leuten ein bisschen mehr zu vermitteln, was über Lyrik hinausgeht, weil man einfach mehr Substanz erklären kann. In den Diskussionen im Anschluss wird aber sowieso nicht über Literatur gesprochen, nicht über die Texte, die man vorgelesen hat, eher über Politik. Das ist ja richtig, das ist es ja, was ich am Schluss möchte. Ich möchte ja, dass man sich mit der sozialen Situation auseinandersetzt. Denn das ist ein professioneller Staat, mit dem wir er es seit zwanzig Jahren zu tun haben. Die Dachdecker, Tischler, Zuhälter und Cop Killer37 in der DDR waren Anfänger. Der Staat heute ist subtiler und viel mächtiger.

Goepper1993 haben sich mit alternativer Ökonomie beschäftigt. Machen Sie das immer noch?

Papenfuß: Nee. 1993 habe ich eine Aktion hier gemacht mit ein paar Freunden zusammen. Wir haben eine alternative Währung im Prenzlauer Berg geschöpft, haben Künstler eingeladen, sie gebeten, Geldscheine zu entwerfen. Die wurden dann gedruckt – es gab fünfundfünfzig verschiedene Geldscheine – und circa fünfundzwanzig Läden, die diese alternative Währung akzeptiert haben. Im Zuge dessen habe ich mich damals mit Geldtheorie, mit Schwundgeld usw. beschäftigt, habe auch Vorträge gehalten. Aber es war eine Kunstaktion, wahrscheinlich eine gelungene Kunstaktion, hat viel bewirkt und wird heute noch thematisiert hin und wieder, aber politisch war es kein Schritt vorwärts. Das Problem ist die gesellschaftliche Struktur, die Geld auf eine perfide Art und Weise benutzt. Das Problem ist nicht das Geld an sich. Diesen Aspekt der gesellschaftlichen Problematik, den haben wir damals ausgeblendet, haben uns zu sehr auf das Geld fokussiert, d.h. wie das Geld funktioniert, wie Geld eigentlich funktionieren sollte; eben keine Zinsen, Abschaffung der Börse usw., das haben wir damals thematisiert, und haben auf diese Weise eine Arabeske am real existierenden Kapitalismus gedrechselt. Diese Geschichte mit alternativer Ökonomie, das war ein kleiner Aspekt aus der gesamtgesellschaftlichen Problematik rausgezogen und aufgeblasen zu einer Kunstaktion. Es hat wirklich Spaß gemacht, nicht nur den Beteiligten, sondern auch der Bevölkerung, die wirklich dieses Geld benutzt hat, damit eingekauft hat und stolz war, etwas anderes als Westgeld in den Händen zu haben. Das war alles sinnvoll, passte genau in der Situation. Es gab eine Grundskepsis dem Westgeld gegenüber. Heute gibt es sie nicht mehr. Heute entwickeln Leute eine andere Skepsis in Bezug auf die Krise, aber niemand reflektiert mehr, was Geld eigentlich ist oder wie Geld eigentlich funktionieren sollte. Die gesellschaftlichen Probleme sind inzwischen viel größer als damals.

GoepperUnd Sie geben trotzdem nicht die Hoffnung auf, etwas dagegen unternehmen zu können?

Papenfuß: Natürlich nicht, klar. Ja, ja. Einwirken.

 

 

 

Vorwort

Der vorliegende Band geht aus zwei Interviewreihen hervor, die in Abstand von fünfzehn Jahren mit Lyrikerinnen und Lyrikern bzw. Autorinnen und Autoren, die in der DDR gelebt haben, stattfanden. Ausgangspunkt des Projekts waren die Überlegungen meiner Kollegin Cécile Millot von der Universität Reims (Frankreich) in Bezug auf mögliche Veränderungen in der lyrischen Sprache nach dem Mauerfall und dem Ende der DDR. Es sei wichtig, so schien ihr, die Aussagen der Dichterinnen bei der Analyse der Werke in Betracht zu ziehen und später vielleicht in einer Studie systematisch zu untersuchen. Demnach stand im Mittelpunkt der ersten Gesprächsrunde unter anderem die Frage nach den Möglichkeiten einer Kontinuität des lyrischen Ausdrucks nach dem Verschwinden des gesellschaftlichen, politischen und in vieler Hinsicht spezifisch sprachlichen Rahmens der Deutschen Demokratischen Republik. In diesem Kontext stellten logischerweise die Bilanz über vierzig Jahre DDR sowie das Bestehen bzw. Nicht-Bestehen neuer Perspektiven als Künstler und Bürger in Gesamtdeutschland einen weiteren wichtigen Teil der Gespräche dar.
Fünfzehn Jahre später vertraute mir Cécile Millot ihre sämtlichen Kassetten, Niederschriften und Unterlagen an. Dafür möchte ich mich hier noch einmal bei ihr herzlich bedanken, ebenso für den Austausch und die Hilfe beim Durchlesen der Texte in den letzten Monaten. Schnell gab ich das Vorhaben einer literaturwissenschaftlichen Analyse im Spannungsfeld der neuen Gedichte der Autorinnen und der mit ihnen durchgeführten Interviews auf, beschloss jedoch, die 1994 Befragten noch einmal zu besuchen, um ihnen erneut das Wort zu erteilen. Ein solches Material konnte und durfte keineswegs unberührt in einer Schublade verschwinden. Vor Augen hatte ich schnell eine Anthologie, die die Gespräche versammeln würde. Sie sollte u.a. einen Vergleich zwischen dem Jahr 1994 und 2009 ermöglichen und somit neben der unentbehrlichen Arbeit an den Texten zur besseren Kenntnis der Tendenzen in der Literatur der sogenannten „neuen Bundesländer“ beitragen. Dabei sollte der erste Dialog beim zweiten Treffen als Leitfaden fungieren. Ebenfalls sollten der Wandel im Literaturbetrieb und in den Produktionsbedingungen und die damit zusammenhängenden Konsequenzen für das Schaffen der DichterInnen noch einmal thematisiert werden. Dazu gab das 20. Jubiläum des Mauerfalls einen weiteren Anlass, sich aus der Distanz zu den Themen „Wende“ und „Wiedervereinigung“ zu äußern. Die ursprüngliche Fragestellung wurde dennoch leicht verändert und somit die Perspektive und der Blick erweitert: Nicht mehr allein die lyrische Sprache nach 1989 sollte ins Visier genommen werden, sondern die internen literarischen Entwicklungen allgemein. Ein besonderes Interesse galt auch den künstlerischen Verwandtschaften, die nach wie vor bestanden oder sich inzwischen durch den neuen Kontext ergeben hatten.
Von den ursprünglich neunzehn SchriftstellerInnen, die 1994 an den Interviews teilnahmen, konnten 2009 nur noch sechzehn befragt werden: 2000 war Karl Mickel gestorben, 2007 Wolfgang Hilbig und 2009, ein paar Wochen vor dem Beginn der zweiten Gesprächsreihe, Adolf Endler. Dass auf die ersten Texte wegen des Ausbleibens einer zweiten Diskussion verzichtet werden sollte, kam jedoch nicht infrage. Eindeutig war eine lange Zeit vergangen: Zwei Dichter lehnten es nun ab, beim Projekt mitzumachen, während zwei andere nicht mehr schrieben oder kaum noch. So kam es zu zwölf Treffen zwischen August 2009 und Februar 2010. In der späteren Phase der Arbeit am Manuskript fielen zusätzlich drei weniger repräsentative AutorInnen aus: Einer war Westdeutscher; der andere verfasste überhaupt keine Lyrik, bei der Dritten wurde im Laufe des Gesprächs klar, dass sie dem Thema kein Interesse mehr schenkte. Von den zwölf von mir interviewten Lyrikern sind also in diesem Band neun vertreten: Es handelt sich um Elke Erb, Jan Faktor, Kerstin Hensel, Uwe Kolbe, Katja Lange-Müller, Bert Papenfuß, Richard Pietraß, Kathrin Schmidt und Gabriele Stötzer, zu deren je zwei Interviews ein Einzelbeitrag von Adolf Endler, Karl Mickel und Wolfgang Hilbig kommt. Insgesamt umfasst das Buch einundzwanzig Gespräche, wobei hervorgehoben werden muss, dass mit fünf Frauen und sieben Männern eine – fast -geschlechtsausgewogene Präsentation gelungen ist.
Mit diesen Persönlichkeiten sind darüber hinaus vier Generationen vertreten: Adolf Endler, Karl Mickel und Elke Erb stehen für die in den 30ern Geborenen, Wolfgang Hilbig und Richard Pietraß für die in den 40ern, Jan Faktor, Katja Lange-Müller, Gabriele Stötzer, Bert Papenfuß, Uwe Kolbe und Kathrin Schmidt für die in den 50ern, Kerstin Hensel für die in den 60ern. Diese altersbedingten Generationen stehen wiederum den in Bezug auf die Literatur der DDR – auf mehr oder weniger glückliche Weise verwendeten analytischen Kategorien gegenüber, wie „Ankunftsliteratur“ für die 60er38, Literatur der „Hineingeborenen“ für die 80er39 bis hin zur „Wendeliteratur“40 nach 1989/90. Solche literaturgeschichtlichen Begriffe heben die Breite und Fülle des angebotenen Spektrums hervor, was fraglos wichtig ist, damit Relevantes aus dem gelieferten Material gefolgert werden kann. Doch deckt der Inhalt der Anthologie gleichzeitig auf, dass solche Etikettierungen weder eindeutig noch ausreichend sind. Personen, Werdegänge und Produktionen gehen keinesfalls in solchen Kategorisierungen auf. Das Phänomen der sogenannten „Prenzlauer-Berg-Szene“ in den 80ern lässt sich z.B. nur teilweise mit der Kategorie „Generation“ erfassen. Adolf Endler und Elke Erb, beide der älteren Generation angehörig, waren an den Tätigkeiten der subkulturellen Kunstmilieus aktiv beteiligt, während Autorinnen wie Kathrin Schmidt oder Kerstin Hensel, die den Akteuren des Untergrunds (Jan Faktor, Bert Papenfuß u.a.) vom Alter her näher waren, nur peripher Kontakte zu ihnen hatten. Für Letztere ist z.B. die Beziehung zu Karl Mickel, die sich im Rahmen der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ entfaltete, viel wichtiger gewesen.
Genauso wenig gültig und ausreichend ist der Hinweis auf den alleinigen Jahrgang, um die sehr unterschiedlichen Wege von Wolfgang Hilbig und Richard Pietraß, die vom Alter her nur fünf Jahre trennen, zu vergleichen. Wenn es darum geht, die möglichen Zäsuren im Leben und Schreiben des Ersteren zu untersuchen und seine Sicht auf die Dinge zu erklären, scheint die Referenz auf die Übersiedlung viel aufschlussreicher zu sein. Das Verlassen der DDR in den 80ern stellt einen der zahlreichen Einschnitte dar, die aus den Interviews hervorstechen – was die Vorstellung einer rein von den historischen Ereignissen des Jahres 1989/90 herbeigeführten „Wende“ in den Werken durchaus relativiert. Die Erfahrung der Übersiedlung wird außerdem von zwei weiteren jüngeren Autorinnen geteilt: Uwe Kolbe und Katja Lange-Müller. Anhand ihrer Aussagen würde sicher lohnen zu untersuchen, ob die Unterschiede in der Auffassung der Geschehnisse um und nach 1989 nicht vielmehr vom Gegensatzpaar „Weggegangene“ versus „Hiergebliebene“ mitbedingt sind. Auf diese Weise wäre eine andere, wahrscheinlich fruchtbare Spezifik in die Analyse miteinbezogen.
Auch wenn Berlin für die Autorinnen und Autoren eine zentrale Rolle spielt, ist den Biografien zu entnehmen, dass die meisten unter ihnen außerhalb der Hauptstadt der DDR ihre Kindheit verbrachten. Fast alle stammen aus der Provinz, darunter drei aus Sachsen und vier aus Thüringen. Jan Faktor wuchs seinerseits in der Tschechoslowakei auf und kam erst 1978 in die DDR. In den zwei vergangenen Jahrzehnten lebten manche nicht ununterbrochen in Berlin: Einige wählten eine Zeit lang eine andere deutsche Stadt (Uwe Kolbe Hamburg), manchmal entschieden sie sich für das Ausland (Katja Lange-Müller Österreich, Gabriele Stötzer die Niederlande). Gerade aus dieser Vielfalt entsteht die Differenziertheit, die die Relevanz der Aussagen ausmacht.
Der Vollständigkeit halber sollen zwei Ausnahmen erwähnt werden. Es handelt sich einerseits um Katja Lange-Müller, die hier aufgenommen wurde, obwohl sie eher in der Gattung der Erzählung tätig ist, und andererseits um die Tatsache, dass Gabriele Stötzer aus verschiedenen Gründen erst im Dezember 2015 zum zweiten Mal interviewt wurde. Auch wenn sie stricto sensu aus dem Rahmen fielen, gehörten beide Künstlerinnen unbedingt dazu: Obwohl sie keine Lyrik schreibt, erwies sich Katja Lange-Müller im Laufe des Gesprächs als eine leidenschaftliche Leserin von Gedichten. Bei Gabriele Stötzer stellte sich schnell heraus, dass der größere Abstand zu den Ereignissen ihr Interesse an den angeschnittenen Themen keineswegs verringert hatte. Man staunt, wie gegenwärtig und lebendig die DDR und die Wendezeit sechsundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall bei ihr noch sind.
So erhoffe ich mir, dass sich der Leser von der Tragweite der präsentierten Texte, die weit über die einfachen Erinnerungen von Zeitzeugen hinausgehen, überzeugen lässt. Das Gegenüberstellen der Betrachtungen und Empfindungen fünf und dann zwanzig Jahre nach 1989 dürfte auch für den Forscher lehrreich sein – egal ob man die Aussagen, Gesichtspunkte und Ansichten der Autorinnen zu einem bestimmten Zeitpunkt miteinander vergleicht oder sich insbesondere für die Entwicklung eines ganz bestimmten Dichters interessiert. Solche analytischen Ansätze entsprechen natürlich der Perspektive der Literaturgeschichte. Doch nicht nur sie besitzt Wert: Genauso wie die Fragen die Persönlichkeit und die Anliegen der AutorInnen zum Zeitpunkt des Treffens berücksichtigen und widerspiegeln, versteht sich die daraus entstandene Anthologie als eine Einladung, auf die Stimme der einzelnen Autorin und des einzelnen Autors zu hören und vor allem ihre literarischen Werke wieder-, weiter- und neu zu entdecken. Dies erklärt, warum auf eine ausführlichere literaturwissenschaftliche Analyse, die Gefahr laufen könnte, zu Pauschalisierungen zu verleiten und in der der reine ästhetische Diskurs eher schlecht abgeschnitten hätte, weitgehend verzichtet wurde.
Zum Schluss muss allerdings eine Übereinstimmung unter den meisten hier vertretenen Autorinnen unterstrichen und kommentiert werden: Sobald sie danach gefragt wurden, stellte sich heraus, dass fast alle mit dem Begriff „Wende“ Probleme hatten. „Diffus“, „abrupt“, „vage“, „irreführend“, „regressiv“, „inflationär“, „irrelevant“ lauteten die Kritiken. Womöglich spielte auch die Tatsache mit, dass der Begriff nicht von der Opposition, sondern von Erich Honeckers Nachfolger Egon Kreuz geprägt wurde. Dieser Grund wurde aber nicht angeführt. 2009 stieß der Gegenvorschlag „friedliche Revolution“, der überall auf den Straßen und in den Medien wahrzunehmen war, ebenfalls auf Ablehnung: Es konnte keine Revolution gewesen sein, denn es floss kein Blut, es kam zu keinem neuen System, sondern ein System wurde übernommen, das Wort sei historisch zu stark konnotiert… Einige sprachen dennoch von „stiller“, ja sogar „antisozialistischer Revolution“ und zeigten damit, dass mancher Schriftsteller doch von einer weiter gefassten Auffassung des Worts ausging. In einigen Fällen wurde immerhin lieber und je nachdem von: „Mauerfall“, „Ende des Ostblocks“, „friedlichem Zusammenbruch“ oder „Kladderadatsch“ gesprochen. Dennoch musste die Mehrheit der Befragten eingestehen, sie hätten keine bessere Variante für den mangelhaften, aber immerhin bündigen und praktischen Ausdruck „Wende“.
Mit diesen Vorbehalten wurde eigentlich auch am Titel des Projekts, der ursprünglich „Lyrik nach der Wende“ lauten sollte, einiges bemängelt. Gerade die allgemeine Zielrichtung der Gespräche wurde – manchmal sogar heftig – infrage gestellt: Sie sei zu „schlicht“ und „banal“, hieß es. Nicht zuletzt schlug der Verlag selbst vor, den Begriff durch das Datum „1989“ zu ersetzen, wovon ich mich schnell überzeugen ließ. Beharren wollte ich dagegen auf dem geplanten Untertitel „Gewendete Lyrik?“, brachte doch in meinen Augen das Fragezeichen sehr wohl den Zweifel in Bezug auf eine solche „Wende“ in der Lyrik zum Ausdruck. Zudem hatten sich die AutorInnen, entgegen ihren anfänglichen Bedenken, auf die Fragestellung und später auf das Bearbeiten der Interview-Texte letztendlich eingelassen. Umso schöner und befriedigend ist es, heute feststellen zu können, dass auf diese „falsche“ und „zu simple“ Frage dicht, klug, ausdifferenziert und äußerst vielfältig geantwortet wurde. Ob man es ausschließlich auf die sogenannte „Wende“ zurückführen kann bzw. sollte oder nicht: Fest steht, dass sich vieles im Gedicht und im Werk der AutorInnen seit dem Mauerfall ereignet hat. Im Laufe der Diskussionen entstand die breiteste Skala von Haltungen und Entwicklungen, die man sich vorstellen kann: von der puren Gleichgültigkeit über politische Radikalisierung, reflexhaftes, teilweise unbewusstes Thematisieren, inhaltliche und stilistische Öffnung, abwartendes Schweigen bis hin zum nur mühsam zu überwindenden Kollaps. Was dabei zählt: Jede und jeder auf seine Weise zeigt wie hochkomplex und einzigartig der Schöpfungsprozess ist und dass man in der Tat beim Versuch, das Rätsel zu lösen, ob sich nun etwas durch das Verschwinden der DDR im Schreiben der hier befragten AutorInnen verändert hat, unbedingt ein starkes Gespür für Nuancen und Abstufungen entwickeln sollte. Denn das Gedicht sowie seine Urheberin oder sein Urheber stehen ein für alle Mal zwischen Kontinuität und Wandel, kollektiver Geschichte und individuellem Lebensweg, gesellschaftlichem Bewusstsein und autonomem ästhetischem Diskurs. Darüber, dass die Dichterinnen selbst diesen Gedanken so deutlich und eindeutig hier noch einmal gelten lassen, kann man sich nur freuen.

Sibylle Goepper, Vorwort, Juni 2016

 

Hat sich die „Wende“

auf die Dichter ausgewirkt, die in der DDR sozialisiert wurden? Dichten sie anders? Und ist das wiedervereinigte Deutschland dieser Dichter Ort? Dazu befragten 1994/95 Cécile Millot und 2009/10 Sibylle Goepper Lyrikerinnen und Lyriker, die in der DDR gelebt haben. In den Interviews, die eine Einladung an den Leser sind, sich mit dem Werk jedes einzelnen Autors zu befassen, zeigt sich eine breite Skala von Haltungen und Entwicklungen: von der puren Gleichgültigkeit über politische Radikalisierung, reflexhaftes, teilweise unbewusstes Thematisieren, inhaltliche und stilistische Öffnung, abwartendes Schweigen bis hin zum mühsam zu überwindenden Kollaps. Egal ob man die Aussagen aller Autoren zu einem bestimmten Zeitpunkt vergleicht oder sich für einen Dichter interessiert – die Gespräche dokumentieren einen wichtigen Abschnitt deutscher Geschichte und schreiben so ein spannendes Kapitel zur zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik und Literatur.

Mitteldeutscher Verlag, Klappentext, 2016

 

Die Worte wenden: Gespräche über Lyrik nach 1989

– Ein neues Buch versammelt Gespräche über „Lyrik nach 1989“ und den Umgang der Dichter mit Sprache, Politik, Geschichte. Sie wurden jeweils 1994 sowie nach 2000 befragt – und die Spur führt auch in die Gegenwart. –

Der Reiz liegt auch im Abstand. 15 bis 20 Jahre liegen zwischen den Gesprächen. Für die fünf Lyrikerinnen und sieben Lyriker wählen die Herausgeberinnen die Bezeichnung „deutsche Dichter aus der DDR“. Was besser ist als die Zuschreibungen „ostdeutsche Künstler“ oder gar „DDR-Autoren“, vor allem engt er nicht ein.
Nicht alle konnten zweimal zu ihrem Schreiben und den Bedingungen für ihr Schreiben, zu Unbehagen und Erfahrungen befragt werden, Karl Mickel starb im Jahr 2000, Wolfgang Hilbig 2007, Adolf Endler 2009. Neben ihnen kommen Elke Erb, Kerstin Hensel, Katja Lange-Müller, Kathrin Schmidt und Gabriele Stötzer zu Wort, Jan Faktor, Uwe Kolbe, Bert Papenfuß und Richard Pietraß. Andere wollten sich kein zweites Mal äußern oder sind verstummt.
Anliegen der Interviewerinnen – zunächst Cécile Millot, später dann Sibylle Goepper – war es, zum einen, nach den Möglichkeiten einer Kontinuität des lyrischen Ausdrucks zu fragen, ausgehend von der These, dass es neben den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen auch einen „in vieler Hinsicht spezifisch sprachlichen Rahmen der Deutschen Demokratischen Republik“ gibt. Zum anderen soll der Wandel des Literaturbetriebs thematisiert, der Schwerpunkt von der Sprache auf allgemeine Entwicklungen verlagert werden.
Cécile Millot und Sibylle Goepper schauen gleichermaßen von außen auf das Thema, wie sie es von innen erforschen. Sie lehren als Dozentinen an den Universitäten in Lyon und Reims, zu ihren Gebieten gehören die DDR-Literatur und die Literatur der neuen Bundesländer beziehungsweise die inoffizielle Literatur in den letzten Jahren der DDR, Wende- und Nach-Wende-Lyrik.
„Was man erforschen müsste, ist, was sich in den Leuten selbst an Denken und aus dem Denken an Sprache bewegt“, sagt Gabriele Stötzer 1994. Sie hatte in Erfurt gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert, wurde zu einem Jahr Haft verurteilt, durfte in der DDR nicht veröffentlichen, war Mitbegründerin der Gruppe Frauen für Veränderung und konstatiert, „dass der Westen in den Osten eingezogen ist, der Osten aber nicht in den Westen.“ Sie habe vor dem Mauerfall „viel verzweifelter geschrieben“, sich „sehr alleine gefühlt“ – danach sei sie „wie ein Schmuddelkind aus dem Osten“ behandelt worden.
Als Stötzer im Juni 1989 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt las, damals hieß sie noch Gabi Kachold, sei sie „vollkommen ausgebuht“ worden, weil sie „gegen die drei patriarchalischen Ordnungen geschrieben hatte“: gegen den Staat, gegen ihren Vater und gegen ihren Ehemann. „Das war den Leuten dort zu viel.“ Wer damals ihre Performances in Leipzig erlebt hat, wollte meist wegen der Provokationen dabei sein. Nichts war egal, und das war wichtig.
Der Bachmannpreis ging in jenem Sommer ’89 an Wolfgang Hilbig für einen Auszug aus seinem Roman Eine Übertragung, die Geschichte eines Heizers und seiner „Schwarzarbeit des Schreibens“. Im Gespräch mit Millot erklärt Hilbig die Sprachen der DDR: eine offizielle und eine inoffizielle. Er sagt, „es gibt heute weiterhin offizielle Sprachformen, die immer mehr die Tendenz haben, sich von der Wirklichkeit zu entfernen.“ Er nennt die Sprache der Ökonomie und die der Werbung, konnte aber 1994 noch nicht sagen, „inwieweit es die Sprache der Politiker auch betrifft“.
Aus Sicht Adolf Endlers war der normale Umgangston, der ja auch „ständig Stereotype und Schablonen“ hervorbringt, „nicht weit entfernt von der Sprache der Westdeutschen“. Als typisch ostdeutsch bringt er die Floskel „Dafür sind wir im Herbst ’89 nicht auf die Straße gegangen“ ins Spiel. Im Übrigen seien Schreibweisen wie seine in Deutschland hier wie dort nicht verbreitet, „also, wenn ich in einer Volksbuchhandlung in Glauchau oder Dresden gelesen hätte, wäre es womöglich nicht verstanden worden. Es war ein bestimmter Kreis.“
Apropos Straße, Sprache, Dresden: Nicht nur nebenbei inspirieren die Gespräche dieses Buches zu Überlegungen, warum in diesen Tagen Sprachlosigkeit derart zerstörerisch auf sprachliche Verwahrlosung trifft, Gleichgültigkeit auf Hass. Die Ursachen mögen auch in Ignoranz, Ängsten und fragwürdigem Sprachempfinden auf Seiten der Politik liegen; im Alltag fehlen Nischen der Verständigung in Auseinandersetzung mit Kunst. Wie man in den Wald hineinschweigt, so schwallt es heraus.
Uwe Kolbe sagt, dass in seine Texte politische Intention „vielleicht nur als aufrührerische Haltung“ eingegangen ist. Immerhin. Im Schreiben, Hören, Lesen könnte Ratlosigkeit erkannt werden. Empathie könnte sich entwickeln. Kathrin Schmidt beschreibt „ein Mitfühlen mit Volker Braun oder ein Sich-Identifizieren mit Volker Braun in den 70er Jahren und vielleicht auch noch in den 80er Jahren war eigentlich schon ein Akt schwerer politischer Distanz zur DDR“. Mitgefühl als politische Aktion.
Von Volker Braun sind übrigens gerade neue Gedichte erschienen: Handbibliothek der Unbehausten. So ein Dach überm Kopf kann aus Wörtern bestehen, nur eben nicht aus Parolen.

Janina Fleischer, Leipziger Volkszeitung, 6.10.2016

 

Fakten und Vermutungen zu Sibylle Goepper
Fakten und Vermutungen zu Cécile Millot

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