Hans-Joachim Simm: Zu Paul Celans Gedicht „Die Krüge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Die Krüge“ aus Paul Celan: Die Gedichte. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Die Krüge

Für Klaus Demus

An den langen Tischen der Zeit
zechen die Krüge Gottes.
Sie trinken die Augen der Sehenden leer und die Augen
der Blinden,
die Herzen der waltenden Schatten,
die hohle Wange des Abends.
Sie sind die gewaltigsten Zecher:
sie führen das Leere zum Mund wie das Volle
und schäumen nicht über wie du oder ich.

 

Ende und Anfang

Das Gedicht „Die Krüge“ entstand 1949 in Paris, wo Paul Celan seit 1948 lebte, und wurde 1952 in seinem Gedichtband Mohn und Gedächtnis veröffentlicht. Gewidmet ist es dem Wiener Kunsthistoriker und Freund Klaus Demus.
Bereits gegen die frühen Gedichte Celans, zu denen „Die Krüge“ gehören, wurde der Vorwurf erhoben, sie seien dunkel und unverständlich. Diese Kritik ist insgesamt unzutreffend. Kurz vor seinem Tod hatte Celan an seinen Verleger Siegfried Unseld geschrieben:

Meine Gedichte sind weder hermetischer geworden noch geometrischer; sie sind nicht Chiffren, sie sind Sprache; sie… stehen, auch in ihrer Wörtlichkeit… im Heute.

Das vorliegende Gedicht macht die Sprache zum Gegenstand, indem es geläufige Wendungen umkehrt, bekannte Bilder, die auch in vielen anderen Gedichten Celans prägnant sind, auf den Kopf stellt und ihnen damit eine entgegengesetzte Bedeutung gibt.
Zunächst wird der Begriff „Zeit“ metaphorisch mit Alltagsgegenständen, mit den „Tischen“, verknüpft. Der Tisch, auf dem Speisen und Getränke bereitstehen, der Tisch als Symbol des Lebens und des Maßes, ist nicht nur ein Gegenstand des Alltags, er kann auch der Altar sein, auf dem geopfert wird. Hier aber scheinen die Tische leer zu sein; an ihnen wird nicht gegessen und keine Zwiesprache gehalten, nicht mit den Menschen und nicht mit Gott hier ist kein Leben mehr. „Lang“ sind die „Tische der Zeit“: Die Zeit wird gedehnt, zur Ewigkeit erweitert, die glückselig oder trostlos sein kann.
Überraschenderweise trinken an den langen Tischen der Zeit die Krüge; sie trinken selbst, statt daß aus ihnen getrunken wird. Der Krug, das antike Aufbewahrungsgefäß, empfängt und gibt, er spendet das reinigende Wasser des Lebens, er ist, so Celan, das „Behältnis der Liebe“. Doch das sind die Krüge Gottes in diesem Gedicht gerade nicht, sie sind nicht die liebenden – aber auch nicht die zornigen – Engel des Herrn, denn sie verschlingen alles, das Lebendige und ebenso das Tote, sie sind die Urnen (die lateinische Bezeichnung für „Krüge“), in denen die Asche der Toten aufbewahrt wird. In den Gedichten „Das Geheimnis der Farne“ und „Assisi“ wird „in Krügen kredenzt die lebendige Schwermut“, trägt der „irdene Krug das Siegel des Schattens“.
Die Krüge Gottes „zechen“ mächtig, gemeinschaftlich.
„Wir tragen dich zechend zu Grabe“, schreibt Celan in dem Gedicht „Marianne“. Die Krüge nehmen das Leben zurück, das sie gegeben haben; sie verneinen die Schöpfung, sie sind wie die Schwarzen Löcher des Universums. Doch damit stellen sie zugleich ein neues, ein noch unbekanntes Gleichgewicht her.
Die Krüge verschlingen alles, „sie trinken die Augen der Sehenden leer und die Augen der Blinden“, alles, was Licht wahrnimmt, und ebenso das, was nicht sehen kann, das Wissende und das Unwissende, das Helle und das Dunkle. Celan verkehrt Gottfried Kellers „Abendlied“-Verse „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, / Von dem goldnen Überfluß der Welt“ geradezu in ihr Gegenteil.
Getrunken werden „die Herzen der waltenden Schatten“, die Herzen sowohl der Toten, der Opfer, der Ermordeten, die im Schattenreich walten, als auch der Täter, die noch in dieser Welt regieren und doch nur Schatten sind. „Schatten um Schatten. / So atmen die Brände der Zeit“, heißt es an anderer Stelle in Mohn und Gedächtnis. Die Welt ist leer, vernichtet – oder aber sie ist bereit zu einer neuen Ordnung, zu neuem Leben.
Denn sogar der Tod selbst wird verschluckt, „die hohle Wange des Abends“. Die Krüge Gottes sind stärker noch als die Vernichtung und als die Verleugnung, „sie sind die gewaltigsten Zecher“. Die Krüge Gottes sind unbegrenzt, bodenlos. Sie werden niemals zu voll, „sie schäumen nicht über wie du oder ich“. Sie sind nicht von schäumender Rache getrieben, sie zeigen keine Emotionen, sie sind gelassen und unbewegt. Sie bewahren, was sie verschlingen, sie sind „Mohn“ und „Gedächtnis“, Vergessen und Erinnern, Ende und Anfang.

Hans-Joachim Simmaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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