Hans Maier: Zu Novalis’ Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Novalis’ Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ aus Novalis: Werke

 

 

 

 

NOVALIS

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit wieder gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

 

Poetischer Exorzismus

Novalis-Gedichte haben etwas Beschwörendes; es muß an dem ebenmäßigen Takt und den nachdrücklichen Reimen liegen, die den Leser gefangennehmen. Magie ist im Spiel. Es sind carmina im Wortsinn, Bann- und Zaubersprüche; der Dichter beherrscht den Umgang mit den verschiedenen Takten und Rhythmen, und er kennt vor allem die Kunst des Einsatzes, des stimmungsgründenden ersten Verses („Lobt doch unsre stillen Feste“… „Hinunter in der Erde Schoß“… „Himmlisches Leben im blauen Gewande“… „Ich sehe dich in tausend Bildern“).
Hier wählt er schlichte Knittelverse; sie holpern sogar ein wenig an einigen Stellen, aber das stört den Zauber nicht. Das Gedicht ist eine einzige Satzperiode, zusammengehalten durch ein viermal wiederholtes „wenn“ und ein korrespondierendes „dann“. Dieses Wenn-Dann schillert, wie im Deutschen fast unvermeidlich, zwischen konditionaler und temporaler Bedeutung; man kann es lesen als Beschreibung eines Experiments unter bestimmten Bedingungen oder als prophetische Verheißung einer neuen Zeit. Der Sinn ist klar: etwas wird weg-beschworen, etwas anderes wird herbeigewünscht, etwas muß gehen, damit ein anderes kommen kann. Es ist ein poetischer Exorzismus, und er ist wirksam; denn am Ende fliegt „das ganze verkehrte Wesen“ vor einem Geheimwort auf und davon – so einfach ist alles.
Wer und was fliegt da fort? Es ist „die dürre Zahl und das strenge Maß“ (so in den „Hymnen an die Nacht“); es sind die Zahlen und geometrischen Figuren, die der Schreiber in Klingsohrs Märchen „mit vieler Emsigkeit auf einen Faden“ zieht (im Roman Heinrich von Ofterdingen); es ist jenes Denken, das „Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe“ verketzert und „die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle“ macht („Die Christenheit oder Europa“) – es ist das, was Novalis der Aufklärung, aber auch dem scholastischen Denken zum Vorwurf macht: daß sie die lebendige Natur vernichten für ein Gedankenkunststück, ein „unendliches Automat“ („Fragmente und Studien“).
Eigentlich, meine ich, ist der Schluß des Gedichtes ein wenig enttäuschend: man erwartet jetzt eine weitere Steigerung, die aber ausbleibt; das Ergebnis der vielen Bann- und Beschwörungsworte ist einzig, daß etwas verschwindet, fortfliegt, weg ist. Müßte jetzt aber nicht auch etwas Neues, Nie-Dagewesenes auftauchen? Ein besonnter Strand, ein Land Orplid? Eine kleine Ansicht vom Reich der Freiheit? So wie in Eichendorffs verwandter ars poetica am Schluß vermeldet wird:

Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort?

Doch wir haben übersehen, daß in Novalis ausladenden Wenn-Sätzen Verschwindendes und Kommendes schon ineinander übergehen. Es tritt nicht nur etwas ab, Zahlen
und Figuren, Gelehrte und die inLicht und Schatten streng gegliederte physische Welt – auch die Zeugen des Kommenden sind schon da: Singende und Liebende inmitten einer Weltgeschichte, die nun ganz zu Poesie geworden ist… Und dieser Welt wird „Wahrheit“ zuerkannt – wie es im Heinrich von Ofterdingen heißt:

Es ist mehr Wahrheit in ihren: Märchen als in gelehrten Chroniken.

So ist eine Steigerung, eine Pointierung am Schluß kaum mehr möglich.
Der alogische Zauber dieses Gedichtes trotzt allen Einwänden des Verstandes, vom „frechen Licht“ der Aufklärung nicht zu reden. Ein sehr deutsches Gedicht überdies – wer es gelesen hat, weiß viel über Deutschland, das alte, neue, allermodernste.

Hans Maieraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989

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