Harald Hartung: Zu Jürgen Beckers Gedicht „Gedicht über Schnee im April“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jürgen Beckers Gedicht „Gedicht über Schnee im April“ aus Jürgen Becker: Schnee. –

 

 

 

 

JÜRGEN BECKER

Gedicht über Schnee im April

April-Schnee; schnell; noch einmal
ist fünfzehn Minuten
Winter und völliges Verschwinden
der Krokus-Gebiete
aaaaaaaaaa aaaaaaaund
fünfzehn Minuten, in Zukunft,
sagt Warhol, ist Ruhm. Schnell,
ein Gedicht über Schnee im April,
denn schnell ist weg
Stimmung und Schnee
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund plötzlich,
metaphorisch gesagt,
ist Schnee-Herrschaft verschwunden
im Krokusgebiet
und die Regierung des Frühlings regiert.
Nun Frühlings-Gedicht.
Und schnell. Winter ist morgen, wieder,
und neue Herrschaft,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaanein,
nicht morgen: in fünfzehn Minuten,
mit Schnee, wie schnelles Leben,
sagt Warhol, metaphorisch gesagt,
wie Schnee, Verschwinden, April.

 

Die fünfzehn-Minuten-Utopie

Jürgen Beckers „Gedicht über Schnee im April“ scheint sich auf einen Wettlauf von Realität und literarischer Wiedergabe einzulassen. Das durch Zeichensetzung isolierte „schnell“ läßt sich sowohl auf den Vorgang des Schneiens, besser: das plötzliche Vorhandensein und Verschwinden von Schnee, als auch auf den Akt des Schreibens beziehen.
Doch die Lektüre macht bald deutlich, daß der Wettlauf – wie im Märchen vom Hasen und Igel – nicht wirklich aufgenommen wird. Der reale Vorgang induziert den artistischen Prozeß, der sich selbst reflektiert. Des Autors auf dem Sprung lebende Sensibilität gilt weniger der Übersetzung eines Naturvorgangs als der Herstellung eines Textes, darin die einzelnen Momente nicht Abbildungen, sondern Analogien von wirklichen Vorgängen meinen.
Was als sinnliche Reaktion auf Eindrücke erscheint, ist von programmatischer Reflexion bestimmt:

und
fünfzehn Minuten, in Zukunft
sagt Warhol, ist Ruhm

Der künstlerische Prozeß steht unter dem unbarmherzigen Gesetz der Zeit. Warhols Diktum erscheint als Umkehrung des Horazischen exegi monumentum aere perennius. Dem Vergleich dient das flüchtigste Material: Schnee, nicht Erz.
Sowenig Becker klassizistisch den Anspruch auf Dauer erhebt, so nah scheint er dem Klischee von Inspiration.
Ironisch setzt sich das Gedicht mit den Bedingungen des Schreibens unter dem Druck literarischer Konvention auseinander. Es weiß, daß es am Ende einer Tradition von Naturlyrik steht. Es ironisiert die Metaphernsprache der traditionellen Naturlyrik und bestätigt sie dadurch, daß es an die Stelle der alten Topoi keine neuen zu setzen weiß. Indem es den Topos „Herrschaft des Frühlings“ aufnimmt, möchte es den Herrschaftscharakter literarischer Konvention treffen und zugleich die Möglichkeit andeuten, wie dem durch die Nutzung des glücklichen Moments zu begegnen ist. Kunstmachen erscheint als schnell vorübergehende Möglichkeit:

Nun Frühlings-Gedicht.
Und schnell. Winter ist morgen, wieder,
und neue Herrschaft

Und das wird gesagt im April, nicht im tiefsten Winter!
Daß neue Herrschaft droht, weist über die Natur ins Humane und Gesellschaftliche, auf die dürftige Zeit. Nicht ohne Grund bricht der Satz hier ab. Statt den Charakter „neuer Herrschaft“ auszuführen, kehrt er – in einer correctio („nein, / nicht morgen: in fünfzehn Minuten“) – zum Motiv der Spontaneität zurück. „Schnelles Leben“: das ist das vergängliche, verschwindende Leben, aber auch das spontane.
Das Gedicht schließt mit dem Wort „April“ an seinen Anfang. Formal verdeutlicht solche Zirkelstruktur die Intention, poetische Tätigkeit als etwas Spontanes zu erweisen, als psychische Reaktion, die den Menschen entlastet. „In the future everybody will be world famous for fifteen minutes“, hatte Warhol wirklich gesagt. Everybody – heißt das nicht: Dichten kann jeder?
Jürgen Becker, vorsichtiger, spart everybody aus. Aber in „Umgebungen“ animiert er uns, den Wettlauf aufzunehmen:

Versuch mal, versuchen Sie mal schnelles Aufschreiben dessen, was gerade im Moment in der Nähe greifbar, sichtbar und hörbar ist: in jedem Fall werden dabei Wörter und somit Gegenstände und Vorgänge gegenwärtig, die ohne eine besondere Intensität der Sinne meistens nicht wahrgenommen werden; wir sind alle ziemlich unempfindlich geworden.

Nichts, solange wir dieser Fünfzehn-Minuten-Utopie nachhängen.

Harald Hartungaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00