Hermann Burger: Rauchsignale / Kindergedichte / Kirchberger Idyllen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hermann Burger: Rauchsignale / Kindergedichte / Kirchberger Idyllen

Burger-Rauchsignale / Kindergedichte / Kirchberger Idyllen

AN ALLE LINKSEXTREMISTEN

Errötet hier, und nicht drüben, wo Polizeihunde
den Park an der Ilm und Goethes Gartenhaus
aaaaabewachen,
damit keine Gedichte auf den Bäumen wachsen,
zündet euch hier eure Pfeife an,
um zwischen nervösen Sauggeräuschen
den Wohlstand, dem ihr euren Tabak verdankt,
ins Pfefferland zu wünschen, und nicht drüben,
wo eine Pfeife Nihilismus ein halbes Vermögen an
aaaaaFreiheit kostet;
geht meinetwegen auf die Straße,
demonstriert im fünften Semester gegen eure Väter
die ein Konto eröffnen, damit eure Dummheit
durch systematische Einschränkung zu akademischer Würde reift,
tut das besser hier, denn drüben
würde euch das Echo der leeren Straßen erschlagen.

Ihr Mensa-Chinesen,
ihr Ho-Tschi-minh-Nieser,
ihr Pubertätsmarxisten,
ihr Vogelscheuchen der Demokratie,
kaum dem Dritten Reich entrissen mit Hilfe jener Weltmacht,
auf deren Flagge ihr heute kotzt,
gebt ihr den braunen Großvätern Gelegenheit, lächelnd
im Album zurückzublättern: so ist’s recht, meine Jungen,
frisch drauflosgeschlagen! Das ist mal wieder der alte Schneid!

Das fette Schwein läuft von selber ins Beil.
Drüben sieht man Kinder an den Nägeln kauen,
und jenseits der chinesischen Mauer, heißt es,
gebe es mehr Mäuler als Reis.
Sie schnalzen mit der Zunge nach rosigem Fleisch.
Drum mästet euch hier, ihr Sparschweine der Unvernunft,
denn drüben, in euren Pferchen,
gibt’s herzlich wenig zu fressen.

 

 

 

Nachwort

Rauchsignale
1967 veröffentlichte der fünfundzwanzigjährige Germanistikstudent Hermann Burger im Zürcher Artemis-Verlag sein erstes Buch, den Gedichtband Rauchsignale. Ein sprechender Titel: Wer Rauchsignale sendet, so scheint es, will bemerkt werden, will Zeichen setzen, vielleicht sogar Hilferufe. Der junge Burger hatte aber zu viel Geschmack, um seine Botschaft auszuposaunen. Er war diskret und ließ seine Titelchiffre wie beiläufig in einem Gedicht aufscheinen. Nämlich in „Marmorera“, einem Landschaftsbild, das phantastische Züge annimmt. Der Lai da Marmorera, der große Stausee vor dem Bündner Julierpass, wird in Burgers Gedicht zu einem „Trauermeer“, darin ein „Kahn, / das dürre Herzblatt“, eine „Toteninsel“ ansteuert. Der Kahn nähert sich einer Grotte, und das lyrische Ich sucht der Lockung eines geheimnisvollen „Grottenmundes“ zu widerstehen:

Aus dem Rachen lockt
ein Flötenton so silbern leise,
und es winkt
das Rauchsignal.

Es ist wirklich ein ,Wink‘, der von dem Ungeheuer ausgeht, das auf Mitteilung und Botschaft angewiesen scheint, sei sie auch noch so rätselhaft und deutungsbedürftig. Man mag die Zuordnung von „Flötenton“ und „Rauchsignal“ konventionell finden, aber Burger betont damit doch so etwas wie das Zusammen von Artistik und Engagement.
Eine andere Referenz zum Buchtitel liefert der Kontext der damaligen literarischen Situation. Ein so kenntnisreicher Leser wie Hermann Burger dürfte den seinerzeit prominenten Lyriker Heinz Piontek gekannt haben, somit auch dessen das Rauchmotiv evozierenden Band Die Rauchfahne (1953 und in erweiterter Neuausgabe 1956). Piontek versteckte die titelgebende Zeile im Schlusszyklus „Vergängliche Psalmen“:

Abschied ist immer Verlust… wie die Rauchfahne des Hirtenfeuers oben im Wind.

Wer dann noch den späteren Burger vor Augen hat, wird bei den Rauchsignalen an den Cigarrenrauch denken, der gleich zu Anfang aus den Kirchberger Idyllen aufsteigt („Neble das Südzimmer ein“) oder an das „Cigarristische“, das für Hermann Arbogast Brenner, Burgers Alter Ego und Protagonist seiner unvollendeten Roman-Tetralogie Brenner, neben dem „Cimiterischen“ und dem „Circensischen“ zu den „drei hohen Cs“ seines Lebens gehört.
Wie weit dagegen seine „Rauchsignal“-Gedichte in eine Zukunft wiesen, die von Depressionen, Impotenzängsten und Suizidneigungen geprägt war, mag Hermann Burger selbst unbewusst geblieben sein. Was ihn seinerzeit umtrieb, waren symbolische Bewältigungsversuche. Sie fanden ihren Ausdruck in Metaphern und Verschlüsselungen, wie sie zu den „esoterischen“ (wie Burger selbst sagt) Tendenzen der Lyrik der fünfziger und frühen sechziger Jahre gehörten. Somit lohnt ein Blick auf die Szene, die der junge Dichter betrat. Ich beschränke mich auf das Erscheinungsjahr der Rauchsignale und auf jene Neuerscheinungen von damals, die aus der Konvention herausragten.
1967 sammelte die experimentelle Poesie ihre ersten Resultate (Franz Mon, Lesebuch); es zeigte sich die politische Lyrik entweder als radikale Unterstützung der studentischen Opposition (Erich Fried, Anfechtungen) oder als ihre reformistische Korrektur (Günter Grass, Ausgefragt). Mit Nicolas Born (Marktlage) und Rolf Dieter Brinkmann (Was fraglich ist wofür) meldeten sich die ersten Wortführer von Pop, Underground und Neuer Sensibilität. Alle diese Stimmen wollten das Neue, die Veränderung und ließen sich so dem geläufigen Stichwort ,Avantgarde‘ zuordnen.
Nicht so Burger, auch wenn er sich auf diese Konkurrenz einließ. Er hatte mit den etwa gleichaltrigen Kollegen Born und Brinkmann wenig oder nichts zu tun. Burger fiel aus der forcierten Aktualität heraus; er suchte das Neue eher im Alten. Seine Neigungen reichten auf Klassik und Romantik, ja aufs Biedermeier zurück und fanden in der klassischen Moderne ihren Fokus, nämlich in Dichtenden wie Paul Celan und Ingeborg Bachmann.
1967 war Celan mit Atemwende, seinem fünften Gedichtband, in sein Spätwerk eingetreten (wenn man bei einem Siebenundvierzigjährigen davon sprechen kann). Über ihn sollte Burger 1973 seine Dissertation Paul Celan: Auf der Suche nach der verlorenen Sprache schreiben. Die 1926 geborene Bachmann dagegen war zur Erscheinungszeit der Rauchsignale als Lyrikerin nahezu verstummt. Sie ließ ihrem zweiten Gedichtband Anrufung des Großen Bären (1956) nur noch einzelne Gedichte folgen, jedoch kein weiteres Lyrikbuch. Burger widmete ihr 1978 den Essay „Undine bleibt: Zu Ingeborg Bachmanns Gesamtwerk“.
In Rauchsignale ist Bachmanns Einfluss kaum zu übersehen. Vielleicht war es die gewisse Abgeschlossenheit ihrer Lyrik, die sie für Burger interessant machte. Manche Referenzen sind überdeutlich. So etwa Burgers Wendung in dem Gedicht „Drüben“: „Drüben versinkt / eine Küste / im weißen Schlaf“, die eine wohlbekannte Bachmann-Zeile aufruft: „Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand“ aus dem Titelgedicht der Gestundeten Zeit (1953). Ebenso ist „Undine komm, / komm und wach auf / im weißen Bett meiner Sprache“ eine unverkennbare Bachmann-Allusion. Anderes ist indirekter, verschlüsselter. So die Anrede des Bruders in „Der stumme Bruder“, die auf „Das Spiel ist aus“ in der Anrufung des Großen Bären verweist.
Den „stummen Bruder“ hat Burger geradezu programmatisch an den Anfang seines Erstlings gesetzt. Während Bachmanns „Das Spiel ist aus“ eine geschwisterliche Intimität beschwört, sucht Burger im „Stummen Bruder“ gegenläufig den Kontrast:

mein Gegenblut,
mir ins Fleisch geschrieben

Das Ich bittet den Bruder:

Lehr mich deine Sprachlosigkeit,
grins, wenn ich nicht versteh,
wir wollen schweigen zu zwein.

Der Versuch, sich mit Sprache aus der Sprachlosigkeit zu befreien, führte Burger in jene Dialektik von Sprechen und Schweigen, wie sie Paul Celan geradezu paradigmatisch formuliert hatte. So in dem berühmten „Sprachgitter“, 1957 geschrieben und 1959 zum Titel seines dritten Bandes geworden. Er spielt auf das Sprachfenster (fenestra locutoria) der Nonnenklöster an, das die Kommunikation zwischen Kloster und Außenwelt regulierte. „Sprachgitter“ ist mehreres zugleich, wie Alfred Keiletat in seinem Aufsatz „Accessus zu Celans Sprachgitter“ (1966) ausgeführt hat:

Begrenzung, Behinderung, Einschränkung – aber auch Ermöglichung des Sprechens, ein Gitter zwischen Sprechenden.

Von solcher Dialektik gibt es in Burgers Gedicht „Worte“ einen Nachhall. Dort lautet der Schluss vergleichsweise versöhnlich und ins Dekorative gewendet:

Lächelnd
weiten sich Ringelblumen und Augen
im Gitter meiner Worte,
schwarz weiß auf Schweigegrund.

Erst in den Kirchberger Idyllen findet Burger eine prägnante, dinghafte Antwort auf Celans Schlüsselwort. Dort ist ein „Sprachgitter“ das schmiedeeiserne ,Leichentor‘, das den Friedhof gegen den Ort abgrenzt:

Sprachgitter derer, die mundtot verschimmeln in lehmfeuchten Schächten,
Auch nicht von außen benutzt: Schüsselworte sind rar.

An Schlüsselworte war 1967 noch nicht zu denken. Dennoch sind die Rauchsignale mehr als Etüden unter Einfluss, mehr als die Fingerübungen eines jungen Mannes, der seinen Platz in der deutschsprachigen Lyrik der sechziger Jahre sucht. Selbst der konventionelle Titel markiert bei aller Nähe zur Tradition eine Distanz. Es gibt in den vielen Referenzen dieser frühen Gedichte auch den Versuch, das Vorgegebene ins Eigene zu übersetzen.
Man kann darin – mit einiger Vorsicht – erkennen, was Harold Bloom als Strategie der Einverleibung beschrieben und Simon Zumsteg auf Burgers spätere Idyllen „Turmhahn“ und „Ruine Horen“ bezogen hat.
In den Kirchberger Idyllen geht die Einverleibung wirklich auf die Tradition zurück, als Versuch, aus der Spannung zur Historie ein Neues zu schaffen. Das Ziel zumindest stand Hermann Burger erstaunlich früh vor Augen, nämlich schon zur Zeit seines lyrischen Debüts. Zeugnis davon ist seine Stellungnahme „Schreiben Sie, trotz Germanistik?“ in der Zeitschrift zürcher student vom 4. Juli 1967. Der Text war ihm so wichtig, dass er ihn noch 1983 an den Schluss seines Sammelbandes Ein Mann aus Wörtern stellte. Darin setzte er gegen die gängige Ansicht, die Kenntnis der Tradition (alias Germanistik) hemme die literarische Produktivität, die Annahme:

Ein Mörike-Gedicht kann ohne weiteres den Anstoß (freilich nur den Anstoß) zu etwas Neuem geben, wenn ich es aus seiner heiligen Unantastbarkeit herauszulösen vermag.

Dreizehn Jahre später lieferte Burger den Beweis dafür in seinen Kirchberger Idyllen.

Kindergedichte – ein Projekt
Auf dem Weg zu den Kirchberger Idyllen entstand eine Reihe von Gedichten, die sich einer zyklischen Idee verdankten, aber nicht zu einem Ganzen auswuchsen, sondern bei drei verstreut publizierten Gedichten stecken blieben. Der geplante Zyklus Kindergedichte sollte zunächst – entsprechend dem Titel der von Kindheit an geliebten Märchensammlung Bertha Mercators – Aus Kinderwelt und Märchenwald heißen. In einem nachgelassenen Typoskript hat Burger seine Intention verdeutlicht:

Diese Gedichte, die alle in einem festen Versmass gehalten sind und zum Teil sogar reimen, sind nicht als Rückkehr zur erprobten Verstechnik des 19. Jahrhunderts zu verstehen, sondern – wie andere Experimente auch – als ein Versuch, aus dem Engpass hinauszukommen, in den sich die esoterische Lyrik manövriert hat.

Ein Sonett – fährt Burger fort – dürfe in der augenblicklichen Situation „geradezu als ein Experiment“ angesehen werden. Nur folgte der Dichter in den drei veröffentlichten Kindergedichten nicht der Sonettform, sondern wählte freiere Strophenformen.
„Das alte Karussell“ ist die Vorfassung jenes Gedichts, das später unter dem Titel „Das alte Kinderkarussell“ den Band Ein Mann aus Wörtern eröffnet. Es revitalisiert das stillgelegte Rösslispiel und damit die Kinderzeit und führt zuletzt zur explosionsartigen Selbstdestruktion des Karussells. „Turm-Wilhelm“ folgt dem zweiten Text aus Mercators Sammlung und ist die Schauermär von Wilhelm, der um Mitternacht in den Glockenturm eines Kirchturms hinaufklettert und am Glockenrand den Halt verliert. In den Kirchberger Idyllen („Auf dem Turm“) kommt Burger auf dieses „altteutsche Märchen“ zurück.
Schließlich „Beim Betrachten einer ländlichen Idylle aus den Münchener Bilderbogen“. Dieses Gedicht, eine satirische Moritat in Paarreimen, ist das interessanteste der drei Stücke. Es zeigt in mehreren Varianten die Idylle als einen Baukasten, dessen Steine beliebig vertauscht werden können:

Gemessen am synoptischen Pläsier
verblasst der Text zu Variante vier:

Die Sonne kräht, der Landmann weint,
das Kindlein geht, der Rabe scheint,
der Bote fliegt, die Bäuerin wacht,
der Gockel pflügt, der Hofhund lacht.

Das Gedicht dekonstruiert im Gefolge seiner Vorlage, dem Münchener Bilderbogen Nro. 824: „Lustige Variationen“ (1883), Zug um Zug die intakte Idylle. In der surrealen Vertauschung der Bild-Möglichkeiten löst sich der Sinn aller Bilder auf:

So frag ich hin, so frag ich her,
die Bilder antworten nicht mehr.

Im gleichen Zug wird auch das Schreiben von Idyllen fragwürdig. Denn so lautet der Gedichtschluss:

Hört die Moral von der Geschicht:
Man spiele mit Idyllen nicht!

Das ist auch an die eigene Adresse gerichtet. Damit formuliert Burger, wenngleich scherzhaft-ironisch, einen Grund, warum er das Projekt der Kindergedichte aufgab; das Spiel war zur Spielerei geworden. Für eine Weiterarbeit an der Idylle brauchte es einen neuen Ansatz; einen neuen Stoff, eine neue Form.

Kirchberger Idyllen
Die Kirchberger Idyllen erschienen im September 1980 in der populären COLLECTION S. FISCHER und durften schon deshalb mit einiger Resonanz rechnen. Entscheidend aber war, dass ihnen Burgers literarischer Durchbruch vorangegangen war: mit dem Roman Schilten (1976) und dem Erzählband Diabelli (1979). Hermann Burger galt fortan als eines der hoffnungsvollsten Talente der jüngeren deutschsprachigen Literatur. Für Schilten etwa erhielt er 1977 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 1980 folgte der Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis und 1983 der erstmals vergebene Bad Homburger Friedrich-Hölderlin-Preis für seinen zweiten Roman Die Künstliche Mutter (1982). Die Kirchberger Idyllen wurden allseits als „Seitenstück zu Schilten“ wahrgenommen und von der Kritik, vor allem der schweizerischen, freundlich und zumeist verständnisvoll rezipiert. Einer deutschen Rezensentin blieb es vorbehalten, vom „Neo-Klassizismus“ der Kirchberger Idyllen zu sprechen („so etwas wie ein aufgewärmter Braten“).
Das Kirchberger Pfarrhaus zu Küttigen, das an den dortigen Friedhof grenzt, ist Entstehungsort und zugleich Zentralthema der Idyllen. Burger gibt sich als dortiger „Pfarrhaus-Verweser“ und Mörikes Wiedergänger. In seinem Nachlass findet sich ein Exzerpt aus der Pfarrhauschronik, das zum Ausgang seiner weiteren Arbeit wurde. Darin sind vor allem die vergangenen „Querelen des Pfarreialltags“ registriert, und einiges davon wurde offenbar gleich poetisch bearbeitet und in Distichen gefasst – so etwa eine Streiterei von 1915 um den Kirchenofen:

Aera Berg: Der Pfarrer bemängelt den Ofen der Kirche,
Kohlenmonoxyd hat ihn beim Reden geschwächt.

Eisbildung sprengt die Schüssel des oberen Abtritts, der Siffon
Seinerseits ist zerstört, Reparatur wird erlaubt.

Etüdenmäßige Materialverarbeitung geht offenbar der eigentlichen Inspiration voraus. Entsprechend werden später derlei in holprige Distichen gefasste Monita im Druck eliminiert. Nach und nach also entstehen die wirklichen Idyllen, meist spontan, aber auch angeregt von Stoffsammlungen aus Handwörterbüchern, Fachlexika oder dem Bücherbestand auf dem ,Pfarrhaus-Estrich‘. Für die meisten der überlieferten 45 Idyllen gibt es mehrere Hand- und Maschinen-Abschriften, wovon die letzte jeweils datiert ist.
Burger schrieb die Idyllen des Grundbestandes in zwei Schüben, in einem Sommer- und in einem Winterzyklus: im Juni/Juli 1979 und von Dezember 1979 bis zum April 1980. Danach setzt der eigentliche Kompositionsvorgang ein. Der Autor fasst jeweils zehn Idyllen zu vier Duodezheften zusammen, nachdem er fünf Texte mit überwiegend liturgisch-kirchlichen Themen ausgeschlossen hat. Sie sind nun in diesem Band abgedruckt. Diese 40 Texte sind von unterschiedlicher Länge und erscheinen, wie erwähnt, sämtlich in der Form des klassischen Distichons. Es ist ein Doppelvers aus Hexameter und Pentameter, seit alters für Elegien, Idyllen und Epigramme in Gebrauch, aus der griechisch-römischen Antike in die deutsche Klassik überkommen und in Mörikes Zeit. 1980 allerdings, beim Erscheinen der Kirchberger Idyllen, mussten Distichen inmitten der allseits dominierenden Freivers-Lyrik anachronistisch erscheinen, zumal sie vielen Lesern (bis hin zu den Radiosprechern) unvertraut waren. Eben diese scheinbare Antiquiertheit dürfte den Artisten und Prestidigitateur, wie Burger sich gern nannte, gereizt haben, die alte Form noch einmal zu versuchen.
Irmgard Wirtz hat in ihrem Essay „Zwischen Kohlenkeller und Elfenbeinturm“ (2010) auf die zyklische Struktur der Kirchberger Idyllen verwiesen. Anders als es der Klappentext der Erstausgabe mit seinem Hinweis auf die vier Jahreszeiten suggeriert, folgt die Komposition gewissermaßen dem Bauplan des Pfarrhauses. So spricht das lyrische Ich in den beiden ersten „Heften“ aus dem oberen Teil, nämlich der ,Studierstube‘ und dem ,Pfarrhaus-Estrich‘, während es in der Folge sich in der Unterwelt aufhält, im ,Kohlenkeller‘ und im ,Bullaugen-Abort‘. Man kann diese zyklische Bewegung als Flucht auffassen, doch eher noch als Suchbewegung. In ,Pfarrhaus-Estrich‘ wird sie ins Biographische transponiert:

Suche noch immer das ewig verschollene Bilderbuch, such es
aaaHier auf den Brettern der Welt, gäb meine Bibliothek
Um noch einmal zu sehn, wie die Frösche am Erntefest tanzen,
aaaJonas vom Walfisch verschluckt, Wichtel, zerrissen im Wald.

Der oberen Welt der Bücher und Bibliotheken korrespondiert in den Duodezheften 3 und 4 grotesk genug die Unterwelt von ,Kohlenkeller‘ und ,Bullaugen-Abort‘. Das illustrieren sehr deutlich zwei Fotos, die sich in einem Sammelband zum Gedächtnis Hermann Burgers finden. Das erste präsentiert den Autor, proper mit heller Hose, im Kohlenkeller des Pfarrhauses. In der Idylle „Kohlenkeller“ gibt der Dichter den homme machine, den „Heizer mit Pleuelarmen“, als Herrn der „tuffigen Pfarrhaus-Carceri“. Freilich phantasiert Burger dort auch:

wie es wäre: lebendig begraben im finsteren Erdreich,
aaaOhne Sauerstoffsarg, keine Klingel am Arm,
Zählend die Schläge der Glocke, doch ohne zu wissen, ist’s Mittag
aaaOder schon Mitternacht –…

Das ist eine Emanation von Todesangst (die auch Todessehnsucht werden kann), an der Burger zeit seines erwachsenen Lebens litt. Auch hier aber ist nota bene eine literarische Referenz im Spiel: „Lebendig begraben“ heißt ja der Titel jenes Gedichtzyklus von Gottfried Keller aus dem Jahr 1846, auf den Burger schon in Schilten wiederholt anspielt. Das neunte Gedicht daraus – dessen letzter Vers lautet: „Jedoch umsonst ist nur der Tod für dich!“ – beginnt mit der Strophe:

Zwölf hat’s geschlagen – warum denn Mittag?
Vielleicht der Mitternacht ja galt der Schlag,
Daß oben nun des Himmels Sterne gehn,
Ich weiß es nicht und kann es ja nicht sehn!

Dem Scheintod im Kohlenkeller korrespondiert das Ab-Gestorbensein im Ab-Ort, im ,Bullaugen-Abort‘, wie ihn das zweite Foto zeigt. In Burgers kompositorischen Erwägungen hat das vierte Duodezheft offenbar eine besondere Rolle gespielt. Es sollte wohl zunächst an der Spitze des Buches stehen und setzt mit „Bullaugen-Abort“ auf jeden Fall einen starken Akzent. Das ,Cloacistische‘ (als ein viertes C) ist der denkbar schärfste Affront gegen die Idyllentradition. Von diesem Ort, einem wenig amönen locus heißt es:

Höckelte dort ohne Notdurft und lauschte den Reden der Gäste,
aaaWissend, dass keiner mich sah, weil ich die Tarnkappe trug.
Genius loci: dachte, ich sei für die Leute gestorben,
aaaWeste auf meinem Abort, horchend, was draußen geschah.

In einer Vorstufe lautet die Stelle:

Blieb ohne Notdurft sitzen und dachte, ich sei eine Statue,
aaaSei für die Gäste schon tot, und sie vermissten mich nicht.
So konnt’ ich ungestört atmen, horchen und spähen und riechen,
aaaGlücklich, dass niemand gewusst, wie ich hiess, wer ich sei.

Das ist deutlich ungeschickter, wenngleich – im „spähen und riechen“ – mit einem Plus an Sinnlichkeit. Aber die Rumpelstilzchen-Identifikation gehört ins Märchen, nicht in die Realität. Die definitive Fassung fasst die Dialektik von Ich und Gesellschaft präziser: Der Dichter ist (wie bei einem Scheintod) der Gesellschaft abhandengekommen, doch erhält sich (eben dadurch) seine Fähigkeit, die Realität wahrzunehmen, zu horchen, „was draußen geschah“. Dennoch zeigen der Scheintod im Kohlenkeller und das Ab-Gestorbensein im Ab-Ort etwas von der Existenzgefährdung des Dichters, die ihn 1988 zur Ankündigung seines Selbstmords im Tractatus logico-suicidalis führt.
Aber Idyllen mit solchem Stoff, solcher Thematik – sind das noch Idyllen, gar Idyllen in der Nachfolge Mörikes? Zunächst einmal besteht kein Zweifel daran, wie intensiv der Germanist Burger sich mit Mörikes Idyllen befasst hat. Dessen 1863 geschaffene Bilder aus Bebenhausen waren schon 1975 Gegenstand seiner Probevorlesung zur Erlangung der venia legendi vor der ETH Zürich gewesen; eine überarbeitete Version dieser Vorlesung erschien im Jahr darauf in den Schweizer Monatsheften und fand später Aufnahme in den Band Ein Mann aus Wörtern. Burger resümiert das Resultat seiner Analyse wie folgt:

Ich meine, dass der ganze Zyklus nur unter einem Doppelaspekt zu begreifen ist: höchste Perfektionierung der Mimesis einerseits; Zurücknahme, Relativierung dieser artistischen Leistung anderseits im Bewusstsein der epigonalen Situation. Ich brauche das Wort ,Epigone‘ im ursprünglichen Sinn von ,der Nachgeborene‘, der Erbe, der über die Inhalte verfügt und sich deshalb der formalen Perfektion zuwenden kann.

Wendet man dies auf die Kirchberger Idyllen an, ergibt sich eine Verschärfung der ästhetischen Situation. Die Perfektionierung der Mimesis führt in die Negation des Schönen, die Relativierung der artistischen Leistung in die Parodie, den Gegen-Gesang. Burgers oft bewusst holprige Distichen sind Wiedergänger der Verse Mörikes.
Damit erledigt sich die Vorstellung, Burger habe zur Gattung Idylle gegriffen, um eine zeitferne Weltsicht, eine altmodische Behaglichkeit zu restaurieren. Im Gegenteil: Die Kirchberger Idyllen camouflieren Schreibattitüde und Vokabular. Selbst das Rollen-Ich als „Pfarrhaus-Verweser“ und dilettierender Poet ist Maske. Der Leser ist eingeladen, an diesem Rollenspiel teilzunehmen, doch ist ihm gelegentlich ein Blick hinter die Maske vergönnt. Bereits im Eingangsgedicht „Studierstube“ wird denn der Leser zuletzt mit der auch poetologisch ernst zu nehmenden herakliteischen Erkenntnis beschieden:

Zweimal im selben Fluss schwimmt man nicht gegen den Strom.

Eine entschiedene Absage an eine naive Fortsetzung von Tradition.
Burgers Distichen-Gedichte sind Anti-Idyllen, man kann auch sagen unmögliche Idyllen. Man hat für sie Jean Starobinskis Begriff der idylle impossible ins Spiel gebracht. Irmgard Wirtz bestimmt sie näher so:

Die Idylle ist demnach eine poetologische Herausforderung, weil sie in der Zukunft oder in der Vergangenheit Topoi benützt, deren Unmöglichkeit sie für die Gegenwart ausstellt.

Das erlaubt die These: Die Kirchberger Idyllen gehören in ihren Negationen zur avancierten Moderne. Sie heben die Gattung Idylle im Sinne Hegels auf: Sie destruieren sie und bewahren sie zugleich auf.
Diese Rettung oder besser Transponierung einer alten Substanz lässt sich nicht durch bloße handwerkliche Variation erreichen, sie hat auch eine aggressive Komponente: die Strategie der Einverleibung. Darauf hat Simon Zumsteg in seinem Aufsatz „Einschreibesysteme 1836/1980“ (2006) aufmerksam gemacht. Er geht mit Harold Bloom davon aus, dass jeder Autor, der sich gegen seine Vorläufer etablieren will, Strategien entwickelt, die ihn selbst als Dichter begründen. Indem Burger Mörike und dessen Texte in seine Idyllen einschreibt, schreibt er gewissermaßen seinen Vater ein. So kommt Zumsteg zu einem Resümee mit fast religiösem Beiklang:

Der Vater kehrt zurück, aber im Gewand des Sohnes.

Darf man diesen Gedanken noch ein wenig weiterführen? Wenn man die produktive Einverleibung (wiederum dialektisch) als eine neue Zeugung begreift, versteht man auch, dass sich die Kirchberger Idyllen lebendiger erhalten haben als mancher Gedichtband aus den achtziger Jahren, der seinerzeit als zukunftsweisend ausgerufen wurde.

Harald Hartung, Nachwort

 

Ulrike Steierwald: 10 Minuten Lyrik – Hermann Burger: „Worte“

 

Editorische Notizen

Hermann Burgers lyrisches Schaffen besteht im Wesentlichen aus drei Komplexen: Erstens aus den frühen Gedichten, die er ab 1963 mit dem Plan einer späteren Buchveröffentlichung verfasst und zum Teil zudem verstreut publiziert hat – darunter auch solche, die keine Aufnahme in die daraus letztlich hervorgegangene Sammlung Rauchsignale von 1967 gefunden haben; zweitens aus den Zwischenresultaten des unverwirklicht gebliebenen Projekts Kindergedichte, mit dem er sich von Ende 1971 bis 1978 getragen hat; und drittens aus den Kirchberger Idyllen, die zwischen Sommer 1978 (,Clematis‘) und April 1980 (,Bunnen‘) entstanden, dann aber nicht alle in den gleichnamigen Band von 1980 eingegangen sind. Aus dem Rahmen dieser drei Entstehungszusammenhänge fallen einzig die Gedichte „An alle Linksextremisten“ vom Frühjahr 1968 und „Der Wasserfall von Badgastein“ vom Herbst 1987.

 

Beitrag zu diesem Buch:

Paul Hübscher: Hermann Burger: Rauchsignale / Kindergedichte / Kirchberger Idyllen
litteratur.ch, 5.4.2014

 

Hermann Burger. Der Komet

Unvergesslich sein Schluchzen, wenn alle Masken, die Diener, Patienten, Bittsteller, Unterhunde, Doppel- und Wiedergänger, alle Attitüden, mit deren Hilfe er seine Sprachgenialität laut werden ließ, von ihm abgefallen waren, alle Wortschälle, Neologismen, Inventionen, Kapriolen, Hyperbolen, Palmierereien weggebrochen von innen her. Abgestürzt der Überflieger – nur noch Scherben ringsherum, und mittendrin hockend er, verzweifelt wie ein Kind, das von aller Welt verlassen worden ist. Und dem war so, denn die WeIt außer ihm war erstaunlich klein und hatte ihm zuzudienen mit ihren fremd klingenden Namen, Titeln, Wörtern, abseitigen Fachbegriffen, aus dem Orkus von Schruns-Grächen stöhnenden, längst dem Vergessen anheimgefallenen, katzbuckelnden Gruß- und Ergebenheitsformeln.
So schluchzte er, schamhaft die Hand vor den Augen, den Mund verzogen. Dann deckte er sein Gesicht aut schneuzte sich, war für einmal, der er eigentlich war und den er hinter sich zu lassen hoffte, und konnte reden über sich selbst. Stockend. Worüber er dann sprach, war das Allerinnigste, das man ihm in der Kindheit zur „Unterleibsmigräne“ („Die künstliche Mutter“) verteufelt hatte – dies seine feste Überzeugung – und das er nie würde leben können.
Jahre gab es, da war er häufig zu Gast oder wir waren es bei ihnen: seiner strahlenden Frau Anne Marie und den beiden Buben Hermann und Matthias („Hermannli“ und „Tisli“) im Pfarrhaus auf dem Kirchberg von Küttigen, im Süden die Aare-Schachen, im Norden der walddunkle Jura, Homberg und Achenberg. Da war er launig und lieb, erkundigte sich sogar nach dem andern. Es war seine glücklichste Zeit, Hoffnung und Aufbruch. Damals schrieb er an Schilten und den menschenfreundlich den Lebenden und den Toten, die ihm näherstanden, zugewandten, an Realien überreichen Kirchberger Idyllen.
Jahre, da blieb er weg, es gab uns nicht mehr. Er lebte der Förderung seiner Geltung und der Pflege der Öffentlichkeit, polierte den Ferrari, trug ein überständiges Bürgergehabe zur Schau, umgab sich mit seinem Kinderspielzeug und stieß andre vor den Kopf. Was wäre ohne Anne Maries Tapferkeit im Durchtragen aus ihm geworden? Selbst als er oben – wenn auch nicht zuoberst – beim Schlossherrn residierte (➙ J. R. von Salis), versuchte er diesen zu übertrumpfen. Ich weiß es von beiden, vom einen triumphierend, vom andern nachsichtig geniert ob der Unfeinheit. Er musste sogar gezwungen werden, seine Postadresse „Schloss Brunegg“ – er hätte dann zumindest postalisch ex aequo mit dem Schlossherrn residiert – in „Pächterhaus Schloss Brunegg“ umzuändern, damit die an ihn gerichteten Briefe nicht im falschen Kasten eingeworfen wurden. Pure Kinderei.
Unerträglich war Hermann, gemessen an seinem Leiden, das Leiden anderer; es musste, verbal zumindest, zur Schnecke gemacht und zur Strecke gebracht werden – und wurde auf beiden Seiten darob nur größer. Als Beispiel ein Notat aus Erikas letztem Prosabuch:

Mit uns zu Tisch sitzen Hermann Burger und Marianne Hauri-Zwahlen (➙ Marianne Zwahlen), die streiten. Wer hat die schlimmere Krankheit, H. oder M.? Beide sind depressiv, schildern ihre Umstände, Zustände. Beide werden sie ,freiwillig‘ aus dem Leben gehen, Hermann zehn Jahre früher als Marianne, die sich in diesem Frühling vom Zug überfahren ließ. Alles vorbei und all-präsent. (Am Fenster, wo die Nacht einbricht, S. 151)

Auch ich erinnere mich schmerzlich an jene Konfrontation; sie war von Seiten Hermanns derart gnadenlos, dass ich vom Teetisch im Garten aufstand und vor Mariannes unverdienter Demütigung ins Haus floh. Hermanns sprachliche Überlegenheit zermalmte und entwürdigte Satz für Satz ein Leiden, das nicht kleiner als das seine war, zum lächerlichen Furz. Denn er hatte das Leiden gepachtet; sein war das Leiden der ganzen Welt.
Die Perioden des Lichts und der Sprachgenialität wurden kürzer, die Angst wuchs und mit ihr die Versprechen, die, wie er mir gestand, nicht einzuhalten waren. Die Bühne für sein Welttheater aus dem von ihm lust- und liebevoll gepflegten Krähwinkel wurde Stück für Stück abgebrochen, auch das wusste er genau. Die Zeiten im Karchel, im Nebnet, wo er sich selbst einlieferte, wurden länger, er harrte versackt, ein Haufen Finsternis, ein essender, trinkender, rauchender, ausscheidender Zombie, und wenn ein Gedanke sich einstellte, war’s, sagte er mir bei unserer vorletzten Begegnung, wie ein tödlich drohender Blitz.
Schilten, die Kirchberger Idyllen, Diabetli und Blankenburg sind für mich seine wichtigsten Bücher. In Blankenburg – Hermanns in seiner Verstörung glanzvollem Bericht über die Hadesfahrt – findet sich der Satz, der Grund-Satz, die Voraussetzung seiner Existenz als Schriftsteller klar und nüchtern formuliert:

Es ist das Gelesene bei ihm, das zum Auffangen des Erlebten dient, und ohne Gelesenes hat er nichts erlebt…

Anlässlich seines letzten Besuchs im Februar 1989 vereinbarte er mit uns zwei Termine. Mit der Dichterin – für ihn Irlande von Elbstein-Bruyère – hier im Haus Kapf, mit mir – für ihn jener Bert May, den ich im Roman Urwil (AG) als Herrn auf dem Schloss über dem Dorf angesiedelt hatte – in Schlossrued. Die Dichterin hätte ihn in die geheime Geschichte des Hauses und der Jagdtrophäen ihres Vaters einweihen dürfen, ich als Kunsthistoriker und Schlossherr mit ihm einen erläuternden Rundgang machen sollen. Er war sachlich und, wie uns gegenüber immer, auf seine Art teilnehmend. Kein Anflug von Grandiosität. Erika war nicht wohl bei der Sache. Sie fürchtete zu Recht, dass nunmehr ihre Heimat, das Gehäuse ihres Lebens, der Geheimort ihrer Dichtung als Material für seine Sprachartistik würden herhalten müssen, vorsätzlich verquer und im Hinblick auf das Lachen oder Kopfschütteln der Leser übertrieben.
Hermann hatte im ersten Brenner-Roman bereits unseren mit Sorgfalt und Liebe den Garten bestellenden Oberhilfsgärtner Seppi Niffeler (➙) zu einem stammelnden, torkelbesoffen herumkommandierten Halbidioten gemacht; durchaus nicht aus Verachtung des Menschen, dem er, wenn überhaupt, vielleicht ein-, zweimal begegnet war, sondern um ein paar Sprachkratzfüße mehr zu schlenkern. Wir hatten die Passagen als Angriff auf die Würde unseres Helfers empfunden. Hermanns Sprachkunst lebte bereits über lange Strecken von verbal aufgepepptem Material, das andere zum Verbrauch herbeigeschafft hatten; die Folge war wachsende Vereinsamung. Einmal mehr die Erkenntnis: Das Schwierigste für den Schriftsteller ist, über der Kunst des Wortgebrauchs das Angemessene nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist wenig beliebt, es ist nur Pflicht – auch sich selbst gegenüber. In der Groteske, der Übertreibung oder überrissenen Komik lauert der Leerlauf selbst für den Sprachartisten.
Vierzehn Tage später musste Hermann die Termine von drüben absagen. Noch ist mir der Ort, wo mich die Nachricht von seinem Tod erreichte, in genauster Erinnerung, ich könnte ihn auf einem Stadtplan von Zürich einzeichnen. Erika hatte, während ich im Büro an der Rämistraße einige Besprechungen absolvierte, eine Freundin am Sonnenberg besucht. Am späteren Nachmittag trafen wir uns wieder und fuhren nach Hause. Erika schwieg und schien mir bedrückt. Ich hatte die erste Kurve der Birmensdorferstraße oberhalb des Triemli Richtung Waldegg hinter mir, da sagte sie leise, als müsste sie sich entschuldigen:

Hermann ist gestorben.

Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit überlegt, wie sie mir die Schreckensnachricht möglichst schonend beibringen solle. Ich wollte es nicht glauben, ich widersprach heftig. Erika noch leiser:

Doch. Er hat sich das Leben genommen.

Noch während der Fahrt nach Hause stellten sich die ersten Zeilen des Gedichts „Tod im März“ ein (Aschermittwoch, 1990, S. 74ff.). Eine andere Möglichkeit, dem Schock standzuhalten, gab es nicht.
Ende jenes Jahres 1989 – die Berliner Mauer war gefallen, das SED-Regime abserviert, am Weihnachtstag waren in Bukarest sogar Dracula II. und sein Gespons, das dem geliebten Volk eine Verhungerungskur verschrieben hatte, erschossen worden –, da mischte sich ein mich seltsam absurd anmutendes Bedauern in meine Trauer: dass Hermann den von Millionen Unterdrückten ersehnten, lautlosen Zusammenbruch des morschen „Imperiums“ (Ryszard Kapuściński) nicht mehr hatte erleben dürfen. Bedauern, obwohl mir klar war, dass ihn dies wenig – wenn überhaupt – gekümmert oder gefreut hätte. Hermann Burger war ein „Eigner“, wie Max Stirner ihn definiert. Seine Welt war so groß wie sein Stirnersches Ich. Er hat sie ausgeschritten.
Hier der Schluss des Langgedichts „Tod im März“:

Wir teilen uns in die Klage
seit der letzten Umarmung
am Tor zum weißlichen Weg.
Du kehrtest dich ab
mit dem Schritt des Lauschers
den stürmenden Lichtern entgegen
am andern Ufer der Nacht.

Wir rufen, wir winken,
du watest hinaus,
die Angst auf der Lauer.

Begraben an einem windigen Tag,
gelegentlich Regenschauer,
der Chor stand in Reih und Glied.

Dein Werk offen,
du versiegelt,
„Es timbert im Tal.“
Kein Widderblut öffnet den Mund dir
und uns die Pforte der Schattenmauer.

Am 19. März 2016, während ich die erste Fassung dieses Buchs schrieb, sind wir einander zu viert noch einmal begegnet. Ich hatte das Boot auf einem kleinen Trailer festgezurrt, und wir, Maria und ich, fuhren weg. Es dämmerte. Obwohl mir die Gegend fremd war und wir sogar eine Grenze passierten, weder Zollhaus noch Posten, nur Einsamkeit und Menschenleere, fand ich das Haus auf Anhieb, es stand am Ende einer langen schmalen Zufahrtsstraße für sich unter mächtigen Bäumen, deren Laub in der Vornacht bereits schwer und schwarz herunterhing. Hermann musste uns erwartet haben. Er öffnete den Wagenschlag rechts. „Also du bist das!“ Er umarmte das Herzlieb:

Jetzt versteh ich – und wie! Er hat mir von dir erzählt.

Ich, seltsam erschöpft, hatte die Sitzlehne zurückgeklappt; nun ging er um den Wagen herum und beugte sich über mich. Wie jung sein Gesicht war, zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig, jung und lieb. Erika trat herzu, erneute Umarmungen. „Da sind wir ja alle“, sagte er, „jetzt noch das Boot wassern, der Fluss ist gleich hinter dem Haus, und wir fahren hinüber.“
Beim Erfassen von Erikas sämtlichen Gedichten bin ich auf einen Traumbericht gestoßen – einen unter Dutzenden –, den sie in den frühen Neunzigerjahren notiert haben dürfte; dieselbe Stimmung, das Boot bereits gewassert, der Ferge bereit:

STYX

(…)
Ein Fluss floss neben dem Haus. Das Boot
nahte sich lautlos, gewaltig
der Fährmann, er führte
drei Hunde an Bord. Das Boot legte an,
lang wuchs der Arm
aus gebauschtem Mantel,
zuzusteigen
lud er mich ein.

Schwarz floss der Fluss. Ein Hund
machte sich auf an Land zu springen.
Ausweichend sah ich, das Boot
glitt zurück unter Nebel und Schatten.

(…)

(Erika Burkart: Stille fernster Rückruf, 1997, S. 69)

Ernst Halter aus Ernst Halter: Das Alphabet der Gäste. Ein Versuch zu erinnern die Lebenden und die Toten, Limbus Verlag, 2021

Hermann Burger

Traum vom 21. auf den 22. März 1999.

Wir Toten sind größere Heere.

Paarweise gehen dunkel gekleidete Männer feierlich langsam in einem unabsehbar langen Zug. Es ist der „Festzug“ des Kinderfestes Reinach-Menziken. Aus dem Zug Iöst sich ein schmächtiger blasser junger Mann, gesellt sich zu mir nebenaus und gibt mir einen scheuen Kuss, den ich erwidere, Hermann Burger. (Die Kinder- oder Jugendfeste haben ihm viel bedeutet.) Er begleitet mich ein paar Schritte. So lange, sage ich, hätten wir nichts von ihm gehört, wie es ihm denn jetzt gehe. „Es ging mir sehr schlecht, es ging überhaupt nicht mehr, jetzt geht es wieder.“ Lautlos, wie er sich hergefunden hat, reiht er sich dem Zug wieder ein, während ich, an einem Tisch sitzend, in einem großformatigen Buch blättere, dessen vegetabilisch verschlungene, mit Gold hinterlegte Bilder mich fesseln. Die Frage eines unbekannten jungen Mannes, ob ich das Buch zu behalten wünsche, verneine ich.

Traum vom 8. Juni 2000, gegen Morgen.
Ich besuche Hermann in der Unterwelt. Er hat schwarze Zähne, seine Haare sind strähnig, die Augen erloschen, er ist stumm. Hermes, ein junger blonder Mann, geht geschäftig ab und zu, er hat viel zu tun, kümmert sich weder um H. noch um mich. Wie ich mich vor meine portable Klaviatur setzen will, um Klavier zu üben (Chopin), meint er, dies gehe hier nicht an, da er am Computer zu arbeiten habe. Er setzt sich vor seinen pc und beginnt zu tippen. Ich ziehe mich vom Tisch, auf welchen ich meine Tastatur stellen wollte, zurück. Hermann, irgendwo im Hintergrund stumm anwesend, scheint zur Kenntnis zu nehmen, was um ihn geschieht, Dunkles geht von ihm aus, meine Gegenwart stört ihn nicht.
Dies der Versuch, nicht Wortbares wiederzugeben. Die dort herrschende Stimmung darzustellen, ist unmöglich. Vorhölle, Hades, ein modernes, mit Elektronik ausgestattetes Inferno. Kafkaesk. Ich habe, erwacht, große Mühe, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, fühle mich zerrüttet, bedroht

(Am Fenster, wo die Nacht einbricht, S. 231f.)

FÜR HERMANN BURGER

Nur ein Zusammen-Schauer
liest diesen Teppich.
Trauer und Frage
und was an Erde
uns zusteht auf Abruf.

Das sommerlich trauliche Grün
hat er geliebt,
ohne mit ihm den Atem zu tauschen.
Wörter machte er dingfest, begriff sich
als Kohlhaas und Künstler,
Zaubrer und Kind.
(Warum ist es so schwer für die Menschen,
von ihrem Schmerz sich zu trennen?)

Wie er lachen konnte, auch weinen,
im Sog der Krankheit
in embryonischer Krümmung
auf kreisender Flucht
vor dem Todeswind.

(Die Zärtlichkeit der Schatten, 1991, S. 37)

Erika Burkart, aus Ernst Halter: Das Alphabet der Gäste. Ein Versuch zu erinnern die Lebenden und die Toten, Limbus Verlag, 2021

 

 

Marcel Reich-Ranicki: Spielmeister am Rande des Abgrunds. Eine Laudatio auf Hermann Burger, Merkur, Heft 421, Juli 1983

 

Hermann Burger – „Dichter auf dem Hochseil“ (Beiträge zu und mit Hermann Burger von 1983–2014)

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + Archiv +
Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA
Nachruf auf Hermann Burger: Zeit

Zum 20. Todestag des Autors:

Gerrit Bartels: Die Kunst des Selbstmords
Der Tagesspiegel, 28.2.2009

Beatrice von Matt: So zog ihn der Tod treppab
Neue Zürcher Zeitung, 26.2.2009

Katrin Hillgruber: Das Werk des Übertreibungskünstlers
deutschlandfunk.de, 25.2.2009

Zum 25. Todestag des Autors:

Thomas Strässle: Dichter auf dem Hochseil
Neue Zürcher Zeitung, 1.3.2014

Hermann Burger – mit Stumpen und Ferrari in den Literaturhimmel
srf.ch, 5.3.2014

Heini Vogler: Sein Leitmotiv war der Tod
srf.ch, 8.3.2014

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Katja Schönherr: Der Aargauer Sprachzauberer mit Hang zur grossen Geste
SRF, 9.7.2022

Jean-Martin Büttner: Ein Artist des Todes
Die Zeit, 7.7.2022

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