Hermann Burger: Zu Gottfried Benns Gedicht „Astern“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Astern“ aus dem Gottfried Benn: Statische Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Astern

Astern – schwälende Tage,
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.

Noch einmal die goldenen Herden
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?

Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du −
der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu,

noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewißheit wacht:
die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.

 

Die Kunst der Schwebe

Vier diagnostische Symptome nennt der Arzt Gottfried Benn in seinem Aufsatz „Probleme der Lyrik“, nach denen beurteilt werden kann, ob ein Gedicht von 1950 identisch ist mit der Zeit oder nicht: das Andichten der Natur, den übertriebenen Gebrauch des Vergleichswortes „wie“, das Prunken mit Farbadjektiven und den seraphischen Ton. „Dieser seraphische Ton ist keine Überwindung des Irdischen, sondern eine Flucht vor dem Irdischen.“
Keine der vier genannten Todsünden wird man in „Astern“ finden, dafür das punktuelle Zünden der Welt im lyrischen Subjekt, wie Emil Staiger das Wesen dieser Gattung definiert hat. Es handelt sich um einen Traum von großer Magie, angesiedelt zwischen Sommer und Herbst, meisterhaft in der Balance der a-Assonanzen gehalten, welche das Bild der Waage in der ersten Strophe musikalisch umsetzt.
„Astern“ und „Nacht“ sind die Pole, zwischen denen sich das septemberleichte Spiel mit der Vergänglichkeit entfaltet, tief im bukolischen Mythos verankert, denn die Frage, was das „alte Werden“ unter den sterbenden Flügeln „vorbrüte“, führt uns auf den Fruchtbarkeitskult der Demeter zurück. Der große Dichter belade sich mit Wirklichkeiten, heißt es in „Probleme der Lyrik“, „eine Zikade, nach der Sage aus der Erde geboren, das athenische Insekt“. Die Götter sind es, die über die Jahreszeiten gebieten, das Wort „alt“ meint „archaisch“, und die Fluten, welche die Zugvögel streifen, sind die stygischen. Der Dichter steht ganz im Bann dieser großen Beschwörung, doch er bescheidet sich mit dem „Vermuten“, wo längst „Gewißheit wacht“. Er nimmt den Zauberstab auf mit dem dreimaligen „noch einmal“.
Das in den „schwälenden Tagen“ verhalten glosende Licht – man riecht die Würze von Krautfeuern – weitet sich zu den „goldenen Herden der Himmel“, und beiläufig unterzogen klingt das Glöcknen der Rinder mit. Das Flügel-Motiv kehrt wieder in den Schwalben am Schluß, wahrhaftig ein großer Dichter, der diesem Herbst-Klischee noch eine neue Note abgewinnt. Denn nicht gen Süden wenden sich die Vögel, sie „trinken“ Fahrt und Nacht, tauchen ein ins Dionysische.
Es wird ganz kurz angetippt in der dritten Strophe mit dem „Rausch“. Die Rose, in Verknüpfung mit dem Du, wäre die Blume der Unmittelbarkeit, das Zeichen des Entflammtseins. Doch der Gedankenstrich macht diesem Traum ein Ende. Es ist die Zeit der Astern, und die stellt man der Geliebten aufs Grab. Was lichterloh brannte, nun schwält es dahin.
Doch dieser Prozeß vollzieht sich in jener Lautlosigkeit, durch die im September mit seinen messinggehämmerten Stunden der Tod den Sommer unterwandert. Er „stand und lehnte“, stützt sich auf, hat nicht mehr die ungebrochene Kraft wie im Juli und August. Kein Zweifel, das Gedicht, sicher eines von den wenigen, die, wenn sie bleiben in seinem Werk, das Schaffen des Poeten rechtfertigen, ist durchwaltet von einer klassischen Symmetrie und Gelassenheit.
Es veranschaulicht die Kunst der Schwebe, bannt die Stunde des Zögerns, trotzt dem Untergang das lichtdurchflutete „Verweile doch“ ab. Hätte man sich ein Werk aus dem Impressionismus dazu zu denken, wäre Claude Monet der Maler, der, auf Lokalfarben verzichtend, seinen schwälenden Dunst hätte einfangen können. Und, man prüfe nach, ein einziges Farbadjektiv: „golden“. Kein einziges „wie“. Alles festgemacht am Irdischen, das Prinzip „Zikade“, athenisch.

Hermann Burger, aus: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

1 Antwort : Hermann Burger: Zu Gottfried Benns Gedicht „Astern“”

  1. Georg sagt:

    Zu sicher mit den eigenen Interpretationen – teilweise treffend im ersten Teil. Ab Zauberstab geht’s dann dahin, ueberladenes Bildungsbuergertum – mit den Rindern fast schon bis zur Laecherlichkeit.
    Goethe mal kurz anklingen lassen – ok.
    Aber die Gewissheit dominiert ja – die Nacht gegen das Licht – aber auch das Werden und die Fahrt als ein Weiter.

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