Hermann Burger: Zu Paul Celans Gedicht „UMSONST malst du Herzen ans Fenster:…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „UMSONST malst du Herzen ans Fenster:…“ aus Paul Celan: Mohn und Gedächtnis. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

UMSONST malst du Herzen ans Fenster:
der Herzog der Stille
wirbt unten im Schloßhof Soldaten.
Sein Banner hißt er im Baum – ein Blatt, das ihm blaut, wenn es herbstet;
die Halme der Schwermut verteilt er im Heer und die Blumen der Zeit;
mit Vögeln im Haar geht er hin zu versenken die Schwerter.
Umsonst malst du Herzen ans Fenster: ein Gott ist unter den Scharen,
gehüllt in den Mantel, der einst von den Schultern dir sank auf der Treppe, zur Nachtzeit,
einst, als in Flammen das Schloß stand, als du sprachst wie die Menschen: Geliebte…
Er kennt nicht den Mantel und rief nicht den Stern an und folgt jenem Blatt, das vorausschwebt.
„O Halm“, vermeint er zu hören, „o Blume der Zeit“

 

Mohn und Gedächtnis

Die Dichtung, meine Damen und Herren –: diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!1

 

Wir versuchen, an der scheinbar leicht verständlichen Stelle ins Gedicht einzutreten, wo es heißt:

einst, als in Flammen das Schloß stand, als du sprachst wie die Menschen: Geliebte…

Dieser Vers ist aus der Entsagung heraus gesprochen. Der Sprecher befindet sich außerhalb der Zone menschlichen Sagens. Rückschauend erinnert er sich jedoch, einmal Menschenworte gebraucht zu haben, einst, als in Flammen das Schloß stand; das heißt, zunächst einmal ganz allgemein ausgedrückt: als er in Liebe entbrannt war. Feuer tritt bei Celan häufig als Attribut der Liebenden auf. Das Gedicht „Nachtstrahl“ beginnt mit dem Vers: „Am lichtesten brannte das Haar meiner Abendgeliebten“,2 und an einer andern Stelle ist von einem „Hauch wie von Feuer“3 die Rede, der um die Geliebte schwebt. Daß der Sprecher sich aber nicht in der ersten Person Einzahl einführt, sondern sich nur zögernd mit dem erlebenden Subjekt identifiziert, indem er das „du“ wählt, zeigt deutlich, wie groß sein Bedürfnis ist, Abstand zu gewinnen. Erst aus der Distanz des Du wird es dem Ich möglich, seine frühere Verstricktheit in menschliche Schicksale zu überblicken. Aber im Du spricht Celan auch sein lyrisches Ich an, das ihm noch fremd ist und wohl immer fremd bleiben wird.
An die vergangene Zeit der Liebeswirren erinnert sich der Dichter – so wollen wir den Mann am Fenster der Einfachheit halber künftig nennen –, der „Herzen“ an ein Schloßfenster malt, durch das man in den Hof hinunterblickt. Träumerische Wehmut liegt in dieser Gebärde. Da wird im Staub nachgezeichnet, was einst brennende Intensität war. Vielleicht ist die Scheibe auch nur behaucht, und die Herzen verschwinden wieder nach geraumer Weile wie ein Bild, das vor dem inneren Auge kurz aufleuchtet und wieder verblaßt. Diese Situation entspricht genau dem Vorgang des Erinnerns. Die Fensterscheibe wird zur transparenten Scheidewand von oben und unten, außen und innen; die Herzen sind die Zeichen, welche die Vergangenheit magisch beschwören sollen. Man könnte so weit gehen und sagen: erst die Herzlinien ermöglichen den Blick in den Schloßhof. Indes nimmt der beobachtende Dichter unten auf dem Platz Vorgänge war, die das kindlich-naive Herzenmalen in Frage stellen und ihm das resignierte „Umsonst“ entlocken. Ein „Herzog der Stille“ tritt auf und wirbt „Soldaten“ für einen Feldzug. Auch bei dieser Metapher dürfte Celan von einer konkreten Vorstellung ausgegangen sein: Der Wind treibt im Schloßhof die verwelkten Blätter zu Haufen zusammen. Der Herzog der Stille steht im Dienst einer Macht, die man dem Schweigen gleichsetzen kann. Wer aber ist der Gegner dieses Schweigeheeres, welches ist das Streitobjekt? Die eigentliche Schlacht wird verschwiegen, ja wir sind nicht einmal im klaren darüber, ob überhaupt ein Kampf stattgefunden hat oder noch stattfinden wird. Die Anwerbung und das Hissen des „Banners“ deuten eher auf das letztere. Dagegen scheint zu sprechen, daß der Herzog die „Schwerter“ versenkt. Wird hier etwa nicht mit Waffen gekämpft? Sind die „Halme der Schwermut“ und die „Blumen der Zeit“ als Beute oder Ausrüstung zu verstehen?
Man ist versucht, den Herzog in etwas eigenwilliger Etymologie nicht von „Heer“ (derjenige, der vor dem Heer zieht), sondern von „Herz“ abzuleiten. Dann nämlich gewinnt diese in dünnem Goldstaub flimmernde, halb mittelalterliche, halb surrealistische Herbstlandschaft eine neue Perspektive: sie wird im wörtlichsten Sinne zur Landschaft der Seele. Der Blick durchs Fenster ist ein Blick des Dichters in sein eigenes Gemüt. Man möchte sich gerne vorstellen, daß sich das Geschehen im Schloßhof innerhalb der gemalten Herzlinien abspielen würde, womit das Zeichen für die Innenwelt des Schauenden zugleich den Rahmen des Geschauten abgäbe. Jede andere Deutung, die diesen Aspekt ganz beiseite läßt, trägt meiner Meinung nach der schwermütigen Introversion, die vor allem aus dem Frühwerk Paul Celans spricht, zu wenig Rechnung. Das Gedicht stammt aus dem zweiten, 1952 erschienenen Band Mohn und Gedächtnis.4 Diese frühe Lyrik ist – um an den letzten Satz aus dem „Gespräch im Gebirg“ anzuknüpfen – zuallererst ein Weg des Dichters zu ihm selbst. Celan ist sich dessen voll bewußt, wenn er in der Büchner-Preis-Rede im Anschluß an den Kommentar zu seiner Prosadichtung sagt:

Geht man also, wenn man an Gedichte denkt, geht man mit Gedichten solche Wege? Sind diese Wege nur Um-Wege, Umwege von dir zu dir? Aber es sind ja zugleich auch, unter wie vielen anderen Wegen, Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, kreatürliche Wege, Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst… Eine Art Heimkehr.5

Wir merken, um noch einmal auf das „du“ in den Zeilen 1 und 7 zurückzukommen, daß Celan einen möglichen Partner zwar nicht ausschließt, daß er aber, kaum hat er ihn erwähnt, wieder auf die Selbstsuche zurückkommt. Somit müssen wir präzisieren: Das „du“ vereinigt den Leser, der sich mit dem Autor identifizieren kann, und ihn selbst zu einer Person. Es leuchtet ein, daß am Anfang einer lyrischen Produktion diese Selbstsuche im Vordergrund steht. Der sich entfaltende Dichter ist gebannt von den Vorgängen in seinem Innern, fasziniert vom Wechselspiel seiner schöpferischen Kräfte. Man ist heute zu schnell bereit, diese unumgängliche Phase der Selbstbegegnungen, des Abtastens der eigenen Möglichkeiten als unfruchtbaren Narzißmus abzutun, indem man sich auf die Pflicht zum „Engagement“ beruft, als ob der Dichter seiner Gesellschaft nicht auch dadurch dienen könnte, daß er seine Existenz im Kunstwerk erfahrbar macht.
Solcher Erfahrung dient der Blick ins eigene Gemüt. Das Turmzimmer ist der Ort des Bewußtseins. Als Schauplatz für die unbewußten Vorgänge dient der „Schloßhof“. Man könnte sich mit Recht fragen, weshalb diese Zone nicht ins Gebäude hinein verlegt worden sei. Der Kerker würde sich anbieten, das Turmverlies. Doch gerade an diesem Beispiel zeigt sich, daß Celan nicht streng nach psychologischen Kriterien verfährt. Er konstruiert nicht eine lokale Metapher für das Unbewußte, sondern er schaut mit dem inneren Auge eine Landschaft, die mit ihren surrealistischen Elementen der Traumlandschaft verwandt ist. Wenn wir auch ohne psychologische Hilfskonstruktionen nicht auskommen werden, so gilt es doch in erster Linie, diese Traumlandschaft in ihrer Eigengesetzlichkeit zu begreifen. Das Banner, das der Herzog hißt, wird als „Blatt“ gesehen, das in einem „Baum“ „blaut, wenn es herbstet“. Dieses „blauen“ scheint der herbstlichen Jahreszeit zu widersprechen, wir erwarten eher „sich röten“ oder „vergilben“. Doch Celan hat eine Vorliebe für verfremdende Farbgebungen. Das ungewohnte Farbadjektiv zum Beispiel nimmt dem dazugehörigen Substantiv die konventionelle Bedeutung, ohne sie ganz zu verdrängen, und schafft sozusagen Raum für den neuen Wortinhalt. Zwei typische Beispiele dieser Technik finden wir am Anfang des Gedichtes „Der Sand aus den Urnen“:

Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens.
Vor jedem der wehenden Tore blaut dein enthaupteter Spielmann
.6

„Schimmelgrün“ deutet darauf hin, daß im Bereich des Vergessens die Sinneseindrücke morsch werden. Doch gleichzeitig enthält „grün“ einen Hinweis auf die organische Fruchtbarkeit dieser Zone. Wäre ihm dieser Aspekt nicht wichtig gewesen, hätte Celan einfach sagen können: Schimmlig ist das Haus des Vergessens. Dann die „wehenden Tore“: das Adjektiv verwischt den Eindruck des Festgemauerten, den „Tor“ und „Haus“ evozieren. Wehende Tore kann allenfalls ein Zelt haben, doch dann ist „Tor“ wieder nicht der gebräuchliche Ausdruck. So verändern die Wörter gegenseitig ihr Gewicht, und es entstehen neuartige semantische Mischungen. Der „enthauptete Spielmann“ paßt zum Vergessen. Wir denken an ein geköpftes Bewußtsein. Doch nun blutet er nicht, sondern er „blaut“. Die Laut-Assoziation ist leicht nachvollziehbar. Blau ist die geheimnisvollste aller Farben, in der Dichtung oft als Symbol tiefster Erfüllung eingesetzt. Denken wir nur an die blaue Blume des Novalis. Gottfried Benn nannte sie die „Farbe der Introvertierten“.7 Blau drückt bei Celan oft eine große Verheißung aus. Gewitterhaft blau ist das Auge der Geliebten, das der Erde den Himmel reicht.8 Die leere Mandel nimmt am Schluß des Gedichtes „Mandorla“ das tief leuchtende Königsblau des Auges an, das dem „Nichts in der Mandel“9 entgegensteht. Im Blau wird ein „schattenverheißendes Baumwort“10 gesprochen. Das blauende Blatt ist ein Zeichen seelischer Fruchtbarkeit und Aktivität.
Diese Fruchtbarkeit scheint an den Herbst gebunden zu sein. Der Sommer ist in Celans Dichtung die Jahreszeit der Fülle, der Liebe, des unreflektierten Erlebens. Von ihr spricht der Dichter nicht ohne Bitterkeit. Sie klingt an im „einst“ unseres Gedichtes. Im hitzigen Sommerwerden die Brände gelegt. Doch nicht nur die Liebe, auch die Zeit wird als verzehrender Brand empfunden. Der Strom der Zeit trifft oft als Sandstrom in Erscheinung. Im Sand erkennen wir den Erlebnisniederschlag, den der Dichter in Urnen sammelt und von dem er sich nährt, wie es im Gedicht „Der Sand aus den Urnen“ heißt:

Du füllst hier die Urnen und speisest dein Herz.11

Das Bild des Sandstroms zeigt die Vergänglichkeit der Sommer-Erlebnisse. Jeder Dichter kennt die Angst, das Leben zerrinne ihm zwischen den Fingern, bevor er aus dem Sand sein Gold gewaschen habe. Der Sommer ist somit eine Chiffre für jene Phasen im Leben eines Künstlers, in denen er nur aufnimmt, sich vollsaugt mit Stoff. Im Herbst dagegen wird geerntet und gekeltert, was für den Dichter heißt: geläutert und gesichtet. Dann bricht die Zeit der Erinnerung, des Gedächtnisses an:

STUMME HERBSTGERÜCHE. Die
Sternblume, ungeknickt, ging
zwischen Heimat und Abgrund durch
dein Gedächtnis
.12

Der Herbst hat zwei Gesichter. Zwischen Sommer und Winter vereinigt er die extremsten Gegensätze von Leben und Tod in sich. Was von den Erlebnissen wert ist, geerntet zu werden, bewahrt der Dichter im Gedächtnis, der Rest fällt dem Vergessen anheim. Sommer und Herbst gehören bei Celan zusammen wie die Goetheschen Begriffe Systole und Diastole. Seine Formel für den Antagonismus lautet: „Mohn und Gedächtnis“. Das Bild stammt aus dem Gedicht „Corona“, wo es heißt:

wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis.13

Es ist eine für Celan typische Konstruktion. Das Konkrete verschmilzt mit dem Abstrakten, das eine bedingt das andere. Im Mohn klingt das Rauschhafte, Betäubende, aber auch Vergängliche des Lebens an, das nach der bewahrenden Kraft des Gedächtnisses ruft; umgekehrt bedarf das Gedächtnis der Lebensfülle. Zeichen für diese Wechselbeziehung ist der Baum in unserem Gedicht. Das Blatt wird in der Krone gehißt und somit sichtbar emporgehoben. Der Baum aber streckt seine Wurzeln ins Erdreich des Schloßhofes. Im Vorgang des Blauens ist angedeutet, daß sich das organische Blatt, nachdem es von den Wurzeln genährt worden ist, zum geistigen Wahrzeichen verwandelt, indem es zum Banner wird. Celan weiß sehr wohl um die Notwendigkeit der Wurzelkräfte für das schöpferische Gedeihen. Im Gedicht „Vor einer Kerze“ stehen die Verse:

im Namen der Drei, deren Ringe
am Finger mir glänzen, sooft
ich den Bäumen im Abgrund das Haar lös,
auf daß die Tiefe durchrauscht sei von reicherer Flut
14

Um dieses Rauschen in der Tiefe einzufangen, strecken die Bäume nicht nur ihre Wurzeln aus, sondern sogar Haare, welche die Funktion von feinsten Tastorganen übernehmen. Die reichere Flut ist nicht nur der passive Schatz von Bildern und Erfahrungen, die sich im Dichter abgelagert haben. C.G. Jung würde hierfür den Begriff des kollektiven Unbewußten verwenden. Das persönliche „Es“ wäre der Abgrund und Urgrund, in den die Seele, stark bildlich gesprochen, ihre Fühler ausschickt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Celan als Sprachwissenschaftler, der sämtliche Bedeutungsschichten eines Wortes auszuschöpfen gewohnt ist, den Nebensatz „wenn es herbstet“ auch noch so meint, daß das „Es“ eine Art Ernte durchführt und daß sich, ähnlich wie im Traum, Bilder aus dem Strom lösen und ins Bewußtsein aufsteigen. Denn „herbsten“ bedeutet in der Weinbau-Terminologie auch „ernten“, „keltern“. Doch dies bleibt reine Vermutung.
Wir wissen, daß der Künstler der Flut von Bildern, die aus dem Unbewußten strömen, in viel stärkerem Maße ausgesetzt ist als jeder andere Mensch, doch macht ihn diese Empfänglichkeit allein noch nicht zum Maler, Musiker oder Dichter. Die rauschende „Flut“ ist zwar die unabdingbare Voraussetzung für das schöpferische Tun, aber wenn der Schaffende dieser Macht seine formende Kraft, seinen Kunstverstand nicht entgegenzusetzen vermag, wird er von ihr zerstört. Darin unterscheidet er sich ja vom reinen Träumer oder gar vom Psychopathen, daß er die Bilder, welche jene überwältigen, in seine Sprache umsetzt. Dies ist ein Grund, weshalb die Psychologie zum Kunstwerk nur einen beschränkten Zugang schaffen kann. Die psychologische Deutung hört dort auf, wo das spezifisch Dichterische beginnt. In der Formel „Mohn und Gedächtnis“ ist auch diese Antinomie aufgehoben. Wir denken ja nicht nur an den roten Klatschmohn, sondern auch an den „papaver somniferum“, den Schlaf-Mohn, dessen Kapselfrüchte wichtige Opiumalkaloide enthalten. Der Drogen-Rausch ist ein sehr anschauliches Bild für die unkontrollierte Tätigkeit des Unbewußten. Aber das Rauschgift allein hat noch keinen zum Dichter gemacht, sofern der ordnende Geist, für den die Chiffre „Gedächtnis“ auch stehen mag, nicht am Werke war. Das Geheimnis des Kunstwerks gründet weder in der Fruchtbarkeit des Unbewußten noch im rationalen Denken allein, sondern es beruht auf dem Ineinanderwirken beider Kräfte; und es ist nicht erstaunlich, daß den Dichter Paul Celan am Anfang seines Schaffens diese für seine künstlerische Entwicklung so wichtige Wechselbeziehung fasziniert. Ob es ihm gelinge, die Dämonen seiner Unterwelt zu bannen oder nicht, ist eine existentielle Frage. Sie schwingt in allen diesen frühen Gedichten mit. Hält der Dichter die ungeheure Spannung zwischen den Polen Mohn und Gedächtnis durch, oder droht ihm, wie so vielen vor ihm, das Schicksal geistiger Umnachtung? Immer wieder sucht er neue Metaphern für diese Polarität, und oft haben sie einen erotischen Beiklang wie im zitierten Beispiel, wo er den „Baumen im Abgrund“ das Haar löst. Wenn die Liebenden in Corona sagen: „wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis“,15 so heißt das deutlich, daß das höchste Glück identisch ist mit dem harmonischen Ineinandergreifen beider Bereiche. Die Frau verkörpert das überpersönliche Reich der Mütter, der Mann das geistige Prinzip, die ordnende und hervorbringende Kraft.
Im Gedicht „Die Ewigkeit“ gibt uns Celan noch einen weiteren Hinweis auf die Bedeutung der Mohn-Chiffre. Dort ist der Mund, der die vom Nachtbaum geflüsterten Namen, die Zeit und die Herzen küßt, „frisch wie der Mohn des Vergessens“.16 Vergessen ist das Gegenteil von Gedächtnis. Nach all dem Gesagten haben wir uns aber dieses Vergessen nicht nur negativ vorzustellen, als Bewußtseins-Verlust. Aus dem Vergessenen, das der Psychologe das Verdrängte nennen würde, setzt sich ein Teil des Unbewußten zusammen. Die Aktivität des Vergessens zeigt sich deutlich im schimmelgrünen „Haus des Vergessens“,17 wo nicht nur Erlebnisse verschimmeln, sondern auch etwas Neues aufkeimt, was dazu führt, daß die enthaupteten Spielmänner blauen vor den Toren. Das verfremdende Adjektiv „wehend“ unterstreicht, wie durchlässig die Tore sein müssen. Im für René Char bestimmten Gedicht „Argumentum e silentio“ finden wir die Polarität noch einmal ausgedrückt:

An die Kette gelegt
zwischen Gold und Vergessen:
die Nacht.
Beide griffen nach ihr.
Beide ließ sie gewähren
.18

Die Formel „Gold und Vergessen“ enthält dieselbe Mischung von Konkretem und Abstraktem wie „Mohn und Gedächtnis“, nur in umgekehrter Legierung. Hier kommt es darauf an, das Gedächtnis bildlich zu definieren als einen Hort kostbarer Schätze, die dem Vergessen entrissen wurden. Golden sind sie aber nur, weil sie durch das Vergessen hindurchgegangen sind. Das Gedächtnis ist somit weit mehr als das bloße Erinnerungsvermögen. Es ist eine Schatztruhe des Gemüts, in der sich die wesentlichen Bilder von den unwesentlichen geschieden haben. Die Qualität des Goldes insinuiert bereits, daß diese Art von Gedächtnis die Vorstufe des Gedichtes sein kann, denn die Nacht, die sowohl an das Gold als auch an das Vergessen gekettet ist, hat nichts mit dem chaotischen Dunkel zu tun, das sich bei Celan so oft mit ihr verbindet; es ist, wie die folgenden Strophen zeigen, vielmehr die „Wortnacht“,19 in der das „sternüberflogne“, „meerübergoßne“, das „erschwiegene Wort“20 gedeiht. Von der Paradoxie, daß die dichte Sprache dem Bereich der Nacht zugeordnet wird, kann erst später die Rede sein. Kehren wir zur ersten Strophe unseres Gedichtes zurück!
Wir sind ausgegangen vom blauenden Blatt, von der Funktion des Baumes, haben die Jahreszeiten-Metaphorik kurz gestreift und sind dann auf die Wechselbeziehung von Gedächtnis und Vergessen gestoßen. Die folgenden Zeilen bestärken die Vermutung, der Herzog der Stille sei so etwas wie eine Mittlerfigur zwischen den beiden Bereichen, er streite um das Gold, kämpfe für die Heimholung der Bilder aus dem Vergessen ins Gedächtnis, der Feldzug der Stille sei letztlich ein Feldzug für das erschwiegene Wort. Der am Fenster stehende und Herzen malende Dichter erinnert sich wehmütig an ein vergangenes Liebeserlebnis. Das ist aber nur die eine, bewußte Seite des komplexen Vorgangs „Er-innerung“, Sein ganzes Bemühen wäre vergeblich, wenn nicht der Abgeordnete des Herzens unten im Schloßhof auf seine Weise für das Gedächtnis streiten würde. Er hat eine gewisse Verwandtschaft mit dem blauenden Spielmann vor dem Haus des Vergessens. Sein Verhalten ist sonderbar:

die Halme der Schwermut verteilt er im Heer und die Blumen der Zeit;
mit Vögeln im Haar geht er hin zu versenken die Schwerter.

„Blumen der Zeit“ können Verschiedenes bedeuten. Zunächst denkt man an die Blumen der Jahreszeit, die wachsen, „wenn es herbstet“, also etwa an Astern, Dahlien, Herbstzeitlosen. Die naheliegendste Version sollte bei Celan nie ganz außer acht gelassen werden. Im übertragenen Sinne sind es aber auch Blumen, welche die Zeit hervorbringt: Ereignisse oder Erlebnisse. Wir sagten, die Jahreszeit des unmittelbaren Erlebens sei der Sommer. Im Sommer wird die Zeit als fließende, vergängliche Zeit empfunden. Das Bild des Sandstroms weist darauf hin, und nicht selten sieht der Dichter die Zeit als blühende und verwelkende Stunde:

Ich steh im Flor der abgeblühten Stunde.21

Im Gedicht „Auch heute abend“ wird eine Rose gespeist „aus rieselnder Stunde“,22 und dies führt uns zur dritten Bedeutung der Genitivmetapher: die Blumen der Zeit verkörpern die Zeit. Diese organisch wachsende und welkende Zeit ist nicht die elektronisch meßbare Zeit und auch nicht ein Zeitalter, sondern die Summe dessen, was die Stunden und Tage dem Dichter an Erfahrungen bringen, dieselbe Zeit, die in „Corona“ als Baumfrucht gesehen wird:

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale
.23

Das Sinnbild des Kranzes im Titel sagt bereits, daß hier von einer zyklischen Wiederkehr der Zeit die Rede ist. Die Freundschaft des Dichters mit dem Herbst – auch der Herzog kann erst, wenn es herbstet, wirksam werden – befähigt ihn, die Zeit aus ihren Schalen zu lösen. Die Summe der Erlebnisse wird geerntet. Der herbstliche, vor einer schöpferischen Phase stehende Dichter lehrt die Zeit gehen, das heißt: er verfügt über sie, er bringt ihr seinen Rhythmus bei. Die Stunden haben nicht mehr den unaufhaltsam rinnenden Fluß wie in der Sanduhr. Das Bedeutende erhält Dauer. Eine einzige Sekunde kann, nach der Zeitmessung des Dichters, Ewigkeitswert besitzen, bedeutungslose Tage dagegen schrumpfen zu einem Nichts zusammen. Die gehende Zeit ist eine seelisch aufgeladene, aktivierte Zeit. Wenn in „Brandmal“ die Zeit gepeitscht wird „bis aufs Blut“24 und die „Winzer“ die Zeit pressen „wie ihr Auge“,25 um das Sickernde einzukellern, so sind das nur andere Bilder für denselben Vorgang. Es geht darum, aus der Fülle der Ereignisse jene Essenz zu gewinnen, die im Gedächtnis und letztlich im Kunstwerk gespeichert wird. Die Rückkehr der gehenden Zeit in die Schale veranschaulicht dieses Speichern. Damit ist über den Jahreszeitenwechsel hinaus im Sinnbild der Corona der schöpferische Kreislauf angedeutet. Die Blumen und Früchte der Zeit werden geerntet, aus der Essenz entsteht die geistige Frucht, die wiederum gepflückt sein will. Das Gedicht „Die Winzer“26 wird diesen Prozeß als Gärungsvorgang beschreiben.
In unserem Text verkörpert offenbar das namenlose Heer des Herzogs die seelische Aktivität, denn unter den gesammelten Scharen werden die Blumen der Zeit verteilt, gemischt mit den „Halmen der Schwermut“. Eine für die Verwandlung der Zeitfrucht entscheidende Kombination. Darf man sich vorstellen, daß Sträuße gebunden werden aus Schwermut und Zeitblumen? Der Schwermütige ist dadurch gekennzeichnet, daß er der Last seines Gemütes nicht standhält. Die Bilder und Wahnvorstellungen, die ihn heimsuchen, sind mächtiger als der verarbeitende Verstand. Sehr treffend kommt das Wesen der Schwermut in der Metapher der schlanken Halme zum Ausdruck, die sich neigen unter der schweren Frucht. Sie gehört in der Celanschen Antinomie zum Bereich des Mohns, auch sie ist ein Mittel der Betäubung, ein Zaubertrank:

Auch wird hier in Krügen kredenzt die lebendige Schwermut:
blumig finstert sie hoch, eh sie trinken, als wär sie nicht Wasser
.27

Aber in der Verbindung mit den Zeitblumen wird sie zu einer Art Hefe, welche das Erlebte zur Gärung bringt. Schwermut ist eine Chiffre für die innerste Substanz des Dichters. In der Mischung mit ihr wird das Erlebte im wahrsten Sinne des Wortes er-innert. Es wird umgeprägt, so daß es im Gedächtnis bestehen kann. Celan formuliert diesen Akt sehr einfach in dem kleinen Gedicht, das mit den Zeilen beginnt:

ICH bin allein, ich stell die Aschenblume
ins Glas voll reifer Schwärze…
28

Die welke, verbrannte Blume muß sich vollsaugen mit gereifter Schwermut, damit sie zu neuer Blüte gelangt. Um eine ähnliche Synthese geht es dem Herzog der Stille. In seinem namenlosen Heer vollzieht sich nach der Vermischung der Blumen und Halme jene Anverwandlung der Dinge, um die sich der herzenmalende Beobachter vergeblich bemüht. Die Blumen der Zeit werden zu Herbstzeitlosen, zu überzeitlichen seelischen Engrammen des Dichters.
Weil dieser Prozeß sich im Bereich des Vergessens abspielt, ist jede bewußte und kämpferische Aktivität nutzlos. Celan hat offenbar die Vorstellung eines seelisch-vegetativen Wachstums, auf das die „ratio“ keinen Einfluß nehmen kann. Wir erfahren nur, daß der Herzog die Schwerter versenkt und somit auf die üblichen Waffen verzichtet. Mit den Schwertern wurden die Blumen geköpft, wurde die vergängliche Zeit besiegt. Die Jahreszeit für die Begegnung blanker Waffen ist der Sommer. Ganz deutlich wird der Verzicht auf die Schlacht gefordert in den zwei letzten Strophen des Gedichtes „Ein Knirschen…“:

Barhaupt ragt aus dem Blattwerk der Reiter.
Im Schild trägt er dämmernd dein Lächeln,
genagelt ans stählerne Schweißtuch des Feindes.
Es ward ihm verheißen der Garten der Träumer,
und Speere hält er bereit, daß die Rose sich ranke…

Unbeschuht aber kommt durch die Luft, der am meisten dir gleichet:
eiserne Schuhe geschnallt an die schmächtigen Hände,
verschläft er die Schlacht und den Sommer. Die Kirsche blutet für ihn
.29

Dieser engelhafte Reiter mit den Eisenschuhen an den Händen – das paradoxe Motiv unterstreicht die Sinnlosigkeit der Ritterausrüstung – gleicht am ehesten dem Dichter, ist aber noch lange nicht identisch mit ihm. Er läßt die großen Ereignisse der Zeit im Schlaf an sich vorbeiziehen und lebt im „Garten der Träumer“. Im Traum steigen die Bilder aus dem Unbewußten auf, vermischt mit den Eindrücken des Tages. Der Schlafende ergibt sich, wenn man so will, kampflos dem Unbewußten. Der in der Schlacht stehende Reiter der zweitletzten Strophe dagegen versucht, die Ereignisse bewußt zu bewältigen. Auch er stellt sich somit gegen das seelische Wachstum. Die Speere hält er wie Spaliere bereit, damit die Rose sich daran emporranke. Doch die Pünktchen am Ende der Zeile deuten auf die Vergeblichkeit des Unterfangens hin. Was zwischen den Speeren gedeiht, ist immer noch ein künstlich erzwungenes Blühen. Erst der Verzicht auf die kämpferische Aktivität wird mit der blutenden Kirsche belohnt. Obwohl der Träumer den Sommer verschlafen hat, erntet er dessen Früchte, vielmehr ihren kostbarsten Saft. Das Kirschenblut ist vergleichbar mit dem gepreßten Blut der Traube und dem Zeitsaft im Winzer-Gedicht. Die Schlacht zu verschlafen heißt für den Dichter nichts anderes, als daß er nicht bewußt erzwingen soll, was sich im Unbewußten entwickeln muß. Er kann auf seine inneren Metamorphosen weniger Einfluß nehmen, als ihm vielleicht lieb wäre. Aus dieser Sicht begreifen wir auch die zahlreichen Waffen- und Kampf-Metaphern im ersten Teil des Bandes Mohn und Gedächtnis. Bereits im Gedicht „Ein Lied in der Wüste“ zieht ein Ritter, der mit dem Degen nach dem Tod gestochen hat, „mit gefälltem Visier den Trümmern der Himmel entgegen“,30 und anstelle des üblichen Kettenpanzers trägt er eine „Brünne der Nacht“. Diese Vorliebe für mittelalterliche Rüstungsgegenstände und Waffen zeigt deutlich die Grundhaltung des Dichters am Anfang seines Schaffens. Er ist noch der Geharnischte, will noch erzwingen, was sich nur erdauern läßt. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß der schöpferische Akt zugleich ein Kampf mit den eigenen Dämonen ist, wobei der Beteiligte nie mit Sicherheit wissen kann, wer letztlich siegen wird.
In unserem Gedicht sind die Schwerter überflüssig geworden, der Herzog versenkt sie. Und gleich wie der barhäuptige Reiter trägt auch er keinen Helm, sondern „Vögel“ im „Haar“. Im Volksmund gilt einer, der Vögel im Kopf hat, als verrückt. Diese Bedeutung mag allenfalls als drohender Unterton mitschwingen. Wir vermuten eher, daß die Vögel, ähnlich wie das blauende Blatt im Baum, auf die seelische Fruchtbarkeit hinweisen. Immer wieder nimmt ja Celan zu Bildern aus der Natur Zuflucht, um das Organische des kreativen Prozesses sichtbar zu machen. Die Bezeichnung „Landschaft der Seele“ ist nirgends so wörtlich zu nehmen wie gerade in diesen frühen Gedichten. Auch Peter Paul Schwarz hat überzeugend dargelegt, daß sich in der Vorstellung Celans „die Gefühlskräfte gleichsam organisch formieren.31 Die Vögel im Haar sind eine analoge Metapher zum wachsenden Blattwerk in der Baumkrone, wie die zweite Strophe des Gedichtes „Ein Körnchen Sands“ bestätigt:

Ein Vogel,
der rundesten Träne entschlüpft,
regt sich wie Laub über dir
32

Die Träne als Zeichen des Schmerzes wandelt sich zum Ei, aus dem der Vogel schlüpfen kann. Das ist wohl die kürzeste Formel für die Metamorphose des schmerzlichen Erlebnisses. Der Vogel ist ein Symbol der Freiheit. Befreiung heißt für Celan die Freisetzung des Erlebten im Gedächtnis und in der Sprache. Nun mag man sich fragen, weshalb denn eine Doppelmetapher nötig sei, weshalb der Vogel noch mit dem Laub verglichen werden müsse. Celan nimmt das Baumgleichnis in der letzten Strophe von „Ein Körnchen Sands“ nochmals auf:

Du treibst ihm die Wurzel entgegen,
die dich flügge macht, wenn der Boden von Tod glüht
33

Das „ihm“ bezieht sich auf das im Titel erwähnte Körnchen Sands, das dem Dichter „träumen half“.34 Wir merken: Es genügt Celan nicht, die Metamorphose der Träne zum Vogel zu zeigen, er will auch die Bedingungen angeben, unter denen sie sich vollzieht. Erst wenn er die Wurzeln in die Tiefe streckt, wo das vergessene Leid um die Toten so sehr aktiviert wird, daß der Boden zu glühen scheint, erst dann gelingt die Verwandlung und Freisetzung. Flüggewerden ist somit eins mit der Regung des Laubes, der in „Umsonst…“ die farbliche Veränderung des blauenden Blattes entspricht. Der Herzog kann getrost die Schwerter versenken, weil er in diesen organischen Kreislauf eingeschlossen ist. Die Vögel im Haar sind ein weiteres Zeichen dafür, daß die Anverwandlung der Dinge im Gange ist, um die es in der ersten Strophe geht.
Refrainartig beginnt die zweite Strophe:

Umsonst malst du Herzen ans Fenster.

Die Wiederholung verstärkt die Vergeblichkeit dieses Malens. Während der Satz aber in der ersten Strophe noch einen ganzen Vers in Anspruch nimmt, figuriert er in der zweiten nurmehr als Halbzeile, und dies dürfte nicht ohne Bedeutung sein, denn Celan hätte das Gedicht leicht auf zwei Fünfzeiler bringen können, wenn er „der Herzog der Stille“ nicht unter, sondern neben die Refrainfigur gesetzt hätte. Für das Verständnis des ganzen Gedichtes ist es wichtig, daß der „Gott“ unter den Scharen zwar auf denselben Doppelpunkt folgt wie der Herzog, aber typographisch nicht mehr unter dem „Fenster“ steht. Er rückt auf die Höhe des herzenmalenden Dichters. So erhalten wir jene bedingte Analogie zwischen Gott, Herzog und Dichter, auf die es Paul Celan ankommt. Was sich mit dem Herzog noch unten im Schloßhof abspielte, steigt durch den Gott nach oben. Dieser Gott wird kaum in streng religiösen Sinn zu verstehen sein. Wie sollte Celan in einem so dichten Geflecht von Metaphern einen nackten religiösen Terminus dulden! Eher ist sein Gott – es heißt ja auch „ein Gott“ und nicht der Gott – als Chiffre für etwas Allerhöchstes im Rahmen des kreativen Prozesses zu verstehen. Der Feldzug scheint durch diesen Gott erst seinen Sinn zu bekommen. Wohl hat der Herzog das Banner gehißt, das als Blatt nun vorausschwebt, jedoch der Gott ist die Erscheinung, auf die der Beobachter am Fenster gewartet hat. Wie der Herzog macht auch er das Herzenmalen sinnlos, und er steht in enger Beziehung zum Dichter, denn er ist gehüllt in seinen „Mantel“, der ihm „zur Nachtzeit“, als das Schloß in Flammen stand, von den Schultern gesunken war. Der Mann am Fenster erkennt, im Gegensatz zum Gott, seinen Mantel. So scheint es, daß der Gott einzig und allein bedeutsam werde als Wiederbringer des Mantels, den der Dichter in den Flammen verloren glaubte.
Ganz am Anfang sagten wir, das brennende Schloß repräsentiere die Zeit des unmittelbaren Erlebens, analog zur Chiffre des Sommers, und das Feuer trete als Attribut der Geliebten auf. Die Frage ist nun, wie wir die Szene auf der Treppe auffassen sollen. Stürzte sich der Dichter nackt ins Feuer, oder hinterließ er auf der Flucht den Mantel als Pfand wie der fliehende Königssohn? Besagen die Pünktchen am Ende von Zeile 9, daß die Sprache der Menschen versagte, oder verweisen sie auf ein unaussprechbares Glück? Die Schwierigkeiten im Verständnis dieser Versgruppe rühren wohl daher, daß Celan auf jede nähere zeitliche Differenzierung verzichtet. Die Ereignisse verschmelzen in der Erinnerung zu einem Punkt, alles hängt ab von diesem „einst, als“. Es gibt somit auch keine eindeutige logische Verstrebung der Teile. Zum Beispiel wird nicht klar, ob das Aussprechen des Wortes „Geliebte“ zum Verhängnis führe oder noch als Ausdruck des höchsten Glücks zu werten sei. Wir müssen uns also wiederum auf eine paradoxe Mehrdeutigkeit gefaßt machen und prüfen die möglichen Varianten.
Im Liebesgedicht „Lob der Ferne“ finden wir einen ersten Hinweis auf die Bedeutung des Mantels:

Im Quell deiner Augen
leben die Garne der Fischer der Irrsee.
Im Quell deiner Augen
hält das Meer sein Versprechen.

Hier werf ich,
ein Herz, das geweilt unter Menschen,
die Kleider von mir und den Glanz eines Schwures:

Schwärzer im Schwarz, bin ich nackter.
Abtrünnig erst bin ich treu.
Ich bin du, wenn ich ich bin
.35

Soweit die ersten drei Strophen. Der Dichter taucht ein in den Augenquell seiner Geliebten, und zum Zeichen der restlosen Hingabe entledigt er sich der Kleider, die sein Herz „unter Menschen“, im täglichen Dasein, geschützt und vielleicht auch getarnt haben. Die Kleider repräsentieren den äußeren Schein eines Menschen, die Rolle, die er in der Gesellschaft spielt; also das, worauf es in der Liebe gerade nicht ankommt. Wenn der innere Reichtum entfaltet werden soll, kann der äußere nur störend wirken. Die Liebe ist nur dann ursprünglich, wenn sie den Menschen von seinen Hüllen zu befreien vermag und seinen Kern freilegt. Auch die Sprache kann solche Hüllen oder Tarnkappen erzeugen. Deshalb die Parallele zwischen den Kleidern und dem „Glanz eines Schwures“. Wir denken an Beteuerungen des Herzens, die man schwörend spricht in der Hoffnung, die Gebärde des Schwurs drücke aus, was Worte nicht zu sagen vermögen. Der Dichter weiß, daß nur eine utopisch reine Dichtung von der elementaren Kraft der Liebe zeugen könnte. Zeichen des Elementaren bei Celan ist das Meer im Augenquell oder eben das Feuer, wie auch im Gedicht „Wasser und Feuer“, wo eine Flamme der Geliebten das Brautkleid anmißt und sie der Dichter die „Feuerumsonnte“36 nennt. Die Zeit höchster Erfüllung ist hier wie dort die „Nachtzeit“:

hell ist die Nacht, die uns Herzen erfand.37

In der Nacht sieht Celan, ähnlich wie Novalis, jenen Raum, in dem alle Gegensätze aufgehoben sind und der die inneren Augen sehend macht.

NACHTS, wenn das Pendel der Liebe schwingt
zwischen Immer und Nie,
stößt dein Wort zu den Monden des Herzens
und dein gewitterhaft blaues
Aug reicht der Erde den Himmel
.38

Die Vereinigung von Himmel und Erde, dieser ekstatische Augenblick reinster Harmonie, kann nur gelingen, wenn die tarnenden Hüllen des Wesens fallen und sich die Liebenden schutzlos preisgeben. Erst wenn er ganz er selber ist, in der schwärzesten Nacktheit – wobei „schwarz“ offenbar als Farbe der Nacht gilt –, wird dem Dichter die Verschmelzung mit dem Du möglich, im Sinne der paradoxen Zeile:

Ich bin du, wenn ich ich bin.39

Vorausgesetzt, daß unsere Strophe in diesem Sinne von der Totalität der Liebeserfahrung sprechen will, wäre die Annahme denkbar, daß Celan den gefallenen Mantel als Tarnmantel gesehen hat. Die mittelhochdeutsche Bezeichnung „kappe“ für den Mantel mit Kapuze beruht auf einer Entlehnung aus dem Spätlateinischen. Die „cappa“ war ein Kapuzenmantel, wie er der ursprünglichen Vorstellung der Tarnkappe entsprach. Auch in den Verben „verkappen“ und „bemanteln“ wird diese Verwandtschaft spürbar. Freilich kann dies niemals die einzige Bedeutung der Mantel-Metapher sein, denn in der Ökonomie des Gedichtes scheint es wenig sinnvoll, daß der Gott unter den Scharen ausgerechnet diese äußerliche und für den Dichter wertlos gewordene Hülle trägt. Hinzu kommt, daß ein Tarnmantel den Gott unkenntlich machen würde. Und dann „sinkt“ der Mantel ja von den Schultern, und „sinken“ deutet eher auf einen schmerzlichen Verlust, ist also kaum zu vergleichen mit dem mutigen Wegwerfen der Kleider in „Lob der Ferne“.40 Man hat den Eindruck, daß der Mantel, getragen vom Gott, das Kostbarste verkörpere, was vom Schloßerlebnis übrig geblieben ist. Wir haben die zweite Möglichkeit zu prüfen: Der Dichter verliert den Mantel auf der Treppe beim Verlassen des brennenden Schlosses. Er ist eine Art Königsmantel und symbolisiert das Reich, das die Liebenden besessen haben. Dieser Besitz kann nicht von Dauer sein. Im brennenden Schloß ist ja die Zerstörung bereits vorweggenommen. Je bedingungsloser sich der Liebende preisgibt, desto unentrinnbarer der Verlust; je verzehrender die Glut, desto größer die Gefahr des Verbrennens. Der Celansche Mensch geht durch die Liebe hindurch wie durch einen brennenden Reifen. Als losgelöste Schlangenhaut, als Zeichen verbrannten Glücks bleibt der Mantel auf der Treppe liegen, und wie der Nackte, der in Lob der Ferne von sich sagt: „Abtrünnig erst bin ich treu“,41 wartet der Geflüchtete jene Metamorphose ab, die der Herzog der Stille einleitet. In der Liebe fühlte sich der Dichter eins mit der Welt, geborgen im Dasein. Wie von einem Mantel umhüllt lebten die Liebenden nach ihren eigenen Gesetzen. Auch ihre Sprache war eine bergende Hülle. Sie genügte dem Dichter, weil er den Worten vorauslebte. Im Glück fühlt man sich mit allen verschwistert, von allen verstanden, weil die Sprache nichts zu leisten hat. Sie artikuliert nur immer wieder das eine, große Glück. Der Dichter wird von den Worten wie von einem Meer getragen, und weil ihn das Glück an die Möglichkeit der Kommunikation glauben läßt, kann er sich mit der Sprache der Menschen begnügen. Doch auch die Halbzeile „… als du sprachst wie die Menschen: Geliebte…“ ist zweideutig. Aus der Fluchtperspektive nämlich wird das Aussprechen der Menschenworte zum Verrat. Sie erhalten nachträglich den trügerischen „Glanz eines Schwures“42 Die Pünktchen könnten so verstanden werden: Im Augenblick, da der Mantel abfällt, verliert der Dichter die nachtwandlerische Sicherheit, mit der er zu den „Monden des Herzens“43 vorstieß. Mit seinem Glück hat er auch die Schutzhülle der Sprache fallen gelassen. Somit wird das brennende Schloß noch vielschichtiger aufzufassen sein als bisher. Es ist diese Geborgenheit im Dasein, welche verlorengeht, die Fähigkeit, ganz in der Gegenwart aufzugehen. Solange er den Mantel trug, war der Liebende König der Gegenwart, nun ist er zum Bettler geworden und zehrt nur noch von der Erinnerung.
Entscheidend ist nun aber, daß der Mantel nicht ein Raub der Flammen wird – was einem endgültigen Vergessen des in der Nachtzeit Erlebten gleichkäme –, sondern in den Scharen des Herzogs wieder auftaucht. Wir haben im Zusammenhang mit dem Gedicht „Corona“44 von der zyklischen Wiederkehr der Zeit gesprochen, welche aus den Nüssen befreit wird und geläutert in die Schalen zurückkehrt. Dies geschieht im Herbst, zur Zeit des Kelterns. Als Zeitfrucht betrachten wir die Summe der Ereignisse. „Corona“ zeigt die Verwandlung im Sinnbild einer Frucht. Unser Gedicht stellt sie anhand einer Figur dar. Der Mantel ist so wenig zweimal derselbe, wie die zweite Schale nicht der Nußschale gleichzusetzen ist. Der Herzog, so legten wir dar, kämpfe in aller Stille für das Gedächtnis, er entreiße die Blumen der Zeit der Vergänglichkeit und bringe sie im zeitlosen Raum des Schweigens zu neuer Blüte. Mit dem Auftauchen des Gottes in der zweiten Strophe ist dieses Ziel erreicht, indem eine Gestalt von göttlicher Macht die „Ewigkeit“ des Gedächtnisses verkörpert. Die Ereignisse aus der Nachtzeit sind nun, da sich der Träger des Mantels solcherart verwandelt hat, in die Hülle eingewoben und aufgehoben. Celan selbst verwendet das Mantel-Gleichnis einmal in diesem Sinn. Im Gedicht „Die letzte Fahne“ schildert er eine wilde Jagd „in den dämmernden Marken“ seines Innern. Ein wasserfarbenes Wild wird gejagt, das am Schluß, wenn das gleichfarbige Vlies als Banner am Turm flattert, offenbar erlegt ist. Die Jäger gleichen Fischern. Sie werfen ihre Netze nach „Irrlicht und Hauch“. Der Dichter, der sich in der letzten Strophe unvermittelt selber anspricht, ist an der Jagd beteiligt. Plötzlich wirft er die bange Frage auf:

Ist dicht, was du wähltest als Mantel, und birgt es den Schimmer?45

Auch hier wieder steht das Zeichen „Wasser“ für die Tiefe und Unergründlichkeit des Elementaren. Diese Strophen gehören noch ganz in den Umkreis der Waffen- und Kampfgedichte. Erjagt, gefangen soll werden, was doch nur organisch heranwachsen kann. Der dichte Mantel aber wäre die sprachliche Hülle, die Form. Sie muß schimmern von der Feuchte und Tiefe, aus der sie hervorgeht, so wie der Königsmantel leuchtet vom göttlichen Geheimnis, das er birgt. Es erstaunt nicht, daß Celan in der gefundenen Form ein göttliches Wunder sieht, denn erst im Gedicht findet er ja zu seinem Daseinsentwurf. Im „Gespräch im Gebirg“ ist die gültige Sprache identisch mit dem Gesicht des Schöpfers, mit der Natur. Doch Celan formuliert bescheiden:

… ein Gott ist unter den Scharen.

Nicht der höchste Gott und auch nicht einer von vielen Göttern im Sinne der antiken Mythologie, sondern nur eine gottähnliche Figur. Darf man ihn den Gott des Dichters nennen? Eine Gestalt, mächtiger als die küssende Muse, in der sich all jene Dämonen und Kräfte personifizieren, die zur Hervorbringung eines Kunstwerks notwendig sind? Das Auftauchen dieses Gottes kündet an, daß die Seele tatsächlich spricht, wenn man Schillers Wort einmal positiv wenden darf. Die schöpferische Aktivität des Dichters wird verkörpert durch die herzoglichen Scharen, und nun erhebt sich, zum Zeichen des Gelingens, dieser Gott aus ihrer Mitte. Während in der ersten Strophe der Herzog sogar typographisch unter den am Fenster stehenden Dichter gestellt wird, um den Unterschied zwischen bewußtem und unbewußtem Erinnern hervorzuheben, steigert der Gott das herzenmalende Du zum ganzen, ungeteilten Ich. Weder kennt er den Mantel von früher, noch ruft er den Stern an. Wie könnte er ihn auch kennen, da „kennen“ voraussetzt, daß sich das einmal entworfene Bild einer Sache oder Person bestätigt. Der Mantel aber hat sich verwandelt. Er umfaßt nun nicht mehr bloß das einmalige und persönliche Erlebnis aus der Nachtzeit, sondern ein Stück privater Schöpfungsgeschichte. Galt er zur Nachtzeit als bergende Hülle der Menschensprache, so ist er jetzt zum Zeichen für eine Gedicht-Sprache geworden, die durch das Schweigen hindurchgegangen ist.
Nicht ganz einfach zu verstehen ist das Stern-Motiv, zumal das Verbum im Präteritum steht:

Er kennt nicht den Mantel und rief nicht den Stern an und folgt jenem Blatt, das vorausschwebt.

Welche Vergangenheit ist gemeint? Gehört der „Stern“ noch zur Nachtzeit? Zunächst denkt man natürlich an den Davidstern, das große Glaubenssymbol der Juden, das nach den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, als jeder Angehörige dieses Volkes gezwungen wurde, den gelben Stern mit dem Schimpfwort „Jude“ zu tragen, zum Symbol des Schreckens wurde. Ursprünglich aber bedeutete der Sechsstern, der aus zwei ineinander verschränkten Dreiecken gebildet wird, die Durchdringung der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Allzu gern hätten wir dieses Symbol für die zweite Strophe in Anspruch genommen. Doch da sich der Gott gerade nicht auf den Stern beruft, fällt diese Interpretation dahin. Und der Davidstern würde das ganze Gedicht in ein neues Licht rücken. Hätte er als Wahrzeichen in der Nachtzeit geleuchtet, müßte man hinter dem brennenden Schloß wohl ganz konkret die Schrecken der Judenverfolgungen sehen, in den Scharen des Herzogs die Toten, die am inneren Auge des Dichters vorüberziehen, dessen magische Beschwörungen am Fenster vergeblich wären angesichts des großen Unheils. Auch der Gott erhielte dann eine konkrete religiöse Bedeutung: er zöge mit den Toten hinüber ins Schattenreich, weil es dem überlebenden Dichter nach der Katastrophe unmöglich geworden wäre, an ihn zu glauben.
Es spricht nur für die Lyrik Celans, daß auch diese Deutung vertretbar wäre. Doch glaube ich nicht, daß man sich einzig darauf versteifen dürfte, denn in diesem Fall müßte der Dichter ja konsequenterweise verstummen. Seine entscheidende Leistung liegt darin, daß er diese Gefahr immer wieder von neuem überwindet. Der Davidstern kann allenfalls erklären, weshalb der Stern zu einem der häufigsten Zeichen im Frühwerk geworden ist. Auch im „Gespräch im Gebirg“ vertritt er die Welt der Erscheinungen, welche sich im Auge des Dichters mit dem Schleier vermischen:

… und der Stern – denn ja, der steht jetzt überm Gebirg –, wenn er da hineinwill, so wird er Hochzeit halten müssen und bald nicht mehr er sein, sondern halb Schleier und halb Stern…46 Firges sieht in dieser Chiffre den auf der Erinnerungsstufe verklärten Schmerz, gleichsam die im Vergessen versteinerte Träne, welche im Gedächtnis die Leuchtkraft eines Sterns erreicht.47 Doch darf man ein solches Schema nicht mechanisch auf alle Gedichte übertragen. Der Reichtum der Celanschen Lyrik besteht nicht zuletzt darin, daß dieselben Zeichen immer wieder neue Bedeutungen annehmen. Eine Grammatik der Chiffren kann die Lektüre erleichtern, aber niemals einen Universalschlüssel für das Verständnis liefern. In „Umsonst…“ scheint der Stern einzig ein blinkendes Zeichen aus der Nachtzeit zu sein, das einerseits andeutet, wie geschlossen der Kosmos der Liebenden war, andererseits aber auch die große Distanz zu diesem Raum hervorhebt. Der Dichter am Fenster ruft das vergangene Glück an, indem er Herzen heraufbeschwört. Der Gott aber folgt dem Banner des Herzogs, weil das Wachstum der Gedicht-Sprache nicht auf das oberflächliche Erinnern angewiesen ist. Ein gottähnliches Wesen hat es nicht nötig, die Zukunft oder Vergangenheit in den Sternen zu lesen, weil es Gegenwart stiftet. Ja man könnte zwischen den Zeilen heraushören, daß auch die Sterne im neuen Mantel eingewoben seien.
Im Schlußvers verdichtet sich das Bild der ziehenden Scharen zur Prozession. Ein Gesang steigt auf. „O Halm“, vermeint der Gott (und mit ihm vermutlich auch der Dichter) zu hören, „o Blume der Zeit“, Zum zweitenmal in dieser Strophe wird gesprochene Sprache abgebildet. In der Nachtzeit war es die Sprache der Menschen. „Geliebte“ ist eines der wenigen unverschlüsselten Wörter in diesem Gedicht. Die Liebe ist die einzige Daseinsform, in der sich das Leben mit der Dichtung vergleichen läßt, weshalb viele Liebesgedichte Celans zugleich Gedichte über das Wort sind. Wir erinnern uns an die erste Strophe aus „Nachts…“, wo das Wort vorstößt zu den „Monden des Herzens“.48 In ganz seltenen Augenblicken des Liebesglücks fällt dem Dichter als Geschenk vor die Füße, worum er in seinem Beruf oft jahrelang vergeblich ringt: er fühlt sich eins mit der Welt und braucht nicht nach einer Sprache zu fahnden, welche diese Einheit herbeizwingt. Nun, da dieses Glück zerbrochen ist, meldet sich die Sprache des dichten Mantels. Sie wird den Menschenworten in Anführungszeichen gegenübergestellt. Celan betont: das ist Gesang, Kunstsprache. Im „Gespräch im Gebirg“ heißt es:

… man könnte, aber man soll’s nicht, sagen, das ist die Sprache, die hier gilt49

Gemeint ist die ausschließlich für den Schöpfer bestimmte Offenbarung des grünweißen Gletschersees. Auch die Sprache, die in „Umsonst…“ gilt, wird zunächst vom Gott unter den Scharen vernommen. „O Halm“ und „o Blume der Zeit“ sind Fetzen aus der Bildsprache des Gedichtes, Klang gewordene Trauer über den Verlust des Liebesglücks, während das Malen der Herzen ein vergeblicher Erinnerungsversuch bleibt. Noch sind die Metaphern von einem seufzenden „o“ begleitet, als traue ihnen der Dichter nicht ganz. Und auch das Verbum „vermeinen“ unterstreicht diese Unsicherheit. Aber der Zug des Herzogs ist ja noch nicht an seinem Ziel. Der Gott folgt erst dem vorausschwebenden Blatt, das als Zeichen für die wachsende Gedicht-Sprache zu werten ist, deren erste Ansätze wie der Gesang einer Prozession anmuten. Wir dürfen annehmen, daß der Dichter am Fenster die Worte nachspricht, die zu ihm aufsteigen. So schließt sich der Kreis. Zwischen dem Herzenmalen und dem Wachstum einzelner Metaphern liegt der Feldzug für das erschwiegene Wort, das Gedicht mündet in seine eigene Gestaltwerdung.
Seine Würdigung wäre unvollständig und der Thematik nicht angemessen, wenn wir nicht noch eigens auf die Form eingehen würden. Da überraschen uns zunächst die musikalischen Qualitäten dieser Verse. Eine dunkelsüße Klangmagie, der man sich schwerlich entzieht, erinnert uns eher an das Melos romantischer Gedichte als an die kühle Laborsterilität, die man der zeitgenössischen Lyrik nachsagt. Indes verrät sich die enge Beziehung des Dichters zur Musik bereits in einigen Titeln des Bandes Mohn und Gedächtnis. Da finden wir Überschriften wie „Ein Lied in der Wüste“,50 „Chanson einer Dame im Schatten“51 usw. Doch erst in der „Todesfuge“52 unternimmt Celan den Versuch, die Sprache musikalischen Gesetzen unterzuordnen, und im Band Sprachgitter unterstellt er sogar einen ganzen Zyklus dem Begriff Engführung.53 Wenn auch ein Gedicht sich immer nur in der Abfolge von Wörtern und Sätzen entfalten kann und das für die Fuge typische Nebeneinander der Töne, die Polyphonie, von der Sprache nie erreicht wird, so ist der Ausdruck „Fuge“ keineswegs nur ein poetisches Ornament. Verschiedene Motive wie das berühmte Oxymoron „Schwarze Milch der Frühe“,54 das Spiel des Mannes mit den Schlangen, das Schaufeln der Gräber in den Lüften, das goldene Haar Margaretes und – kontrapunktisch dazu – das aschene Haar Sulamiths klingen in immer neuen Variationen an, werden kunstvoll gegeneinander geführt und miteinander verschlungen. Fugisch kann man die Komposition der einzelnen Versgruppen nennen, der Rhythmus aber entspricht dem eines Tanzes. Der Mann in der „Todesfuge“, der die Grausamkeit der Machthaber verkörpert, befiehlt ja auch einer Gruppe von Juden, zum Tanz aufzuspielen, während die andern das Grab schaufeln. So entsteht ein gräßlicher Reigen, eine Art Totentanz:

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
55

Will man diese Verse metrisch analysieren, dann stößt man auf den Daktylus, dessen Senkungen zwar nicht immer streng eingehalten werden. Dieser Versfuß ist das Grundelement der Zeile, während ihre Länge frei variieren kann. Man darf somit beim frühen Celan wohl von freier Strophenform, nicht aber von freien Rhythmen sprechen, denn die daktylischen Zeilen dominieren in Mohn und Gedächtnis selbst dort, wo kein Totentanz beschworen wird. Die Verse der „Todesfuge“ besitzen eine derartige Suggestionskraft, daß sich ihr düsterer Moll-Klang bei der Lektüre automatisch auf andere Gedichte überträgt. Die dunkel gestrichenen Geigen verstummen nie ganz.
In „Umsonst…“ haben wir durchgehend daktylische Zeilen mit gelegentlich eingestreuten Trochäen; sie setzen, abgesehen von Zeile 9, mit einem Auftakt ein und enden mit unbetonter Silbe. Einzige Ausnahme bilden die beiden Zeilenschlüsse auf „Zeit“. In der ersten Strophe folgt auf die Hebung ein Semikolon. Die anschließende Zeile bezieht sich sinngemäß auf den „Herzog der Stille“, eine Pause ist durchaus angebracht und mag statt der unbetonten Silbe als Taktfüllung dienen. Die zweite Strophe dagegen schließt mit dem Wort „Zeit“. Als Schlußstein des Ganzen soll der Takt entsprechend hervorgehoben werden. Wie steht es nun mit den Trochäen innerhalb der Zeilen? Das erste Mal wird das daktylische Gleichmaß in Vers 4 unterbrochen mit den Takten:

Sèin / Bānnèr hìßt èr ìm / Bāum – èin Blātt, dàs ìhm / …

Der klangvolle Doppelnasal und der Gedankenstrich sorgen dafür, daß wir diese Trochäen nicht als störend empfinden. Aber in der ersten Strophe achten wir auch noch weniger darauf als in der zweiten, wo Vers 9 mit einem betonten Auftakt beginnt. Das Wort „Gott“ in Zeile 7, Betonungsträger eines Trochäus, erhält zu Recht ein besonderes Gewicht. Die Hebung hebt es wortwörtlich hervor. Doch in Vers 9 stoßen zwei Trochäen unschön aufeinander:

ēinst, àls ìn / Flāmmèn dàs / Schlōß stànd, / āls dù / …

Der mitschöpferische Leser erwägt Möglichkeiten, wie die störende Zäsur zu vermeiden wäre. So könnte man zum Beispiel das „einst“ wiederholen und in den vierten Takt einfügen. Das schiene sinnvoll, wenn es wirklich in der Absicht des Autors stünde, die Gleichzeitigkeit des Schloßbrandes und des Aussprechens von Menschenworten zu betonen. Das ist offenbar nicht der Fall, denn wir haben gesehen, daß Celan auf die zeitliche Differenzierung verzichtet und dadurch das Verständnis erschwert. Vielleicht verschiebt nun aber diese gewollte Zäsur die Gewichte doch ein wenig, indem nämlich das stark betonte und in einem Trochäus hervorgehobene „als“ neben der temporalen Bedeutung eine leicht kausale Färbung annimmt. Lesen wir den Vers so: „einst, als in Flammen das Schloß stand, als [= weil] du sprachst wie die Menschen: Geliebte…“, dann ist es ohne Zweifel die Sprache der Menschen, die zum Verhängnis führt, dann zerbirst mit dem brennenden Schloß die wortlose Einheit der Liebenden. Wenn jedoch Celan diese Nuance eindeutig bevorzugt hätte, wäre es ein leichtes gewesen, „als“ durch „weil“ zu ersetzen. Er hat es nicht getan, und es bleibt bei der Vermutung, die Zäsur – wenn sie überhaupt bewußt gesetzt wurde – diene dazu, den letzten vier Takten vermehrtes Gewicht und eine kausale Schattierung zu verleihen.
Die Anzahl der Hebungen pro Zeile variiert zwischen zwei und sieben. Beide Strophen schließen mit einem Fünfheber. Die drei längsten Zeilen 8, 9 und 10 sind alle siebenhebig und erinnern in gewisser Hinsicht an den Hexameter. Alle Verse, nicht nur die Langzeilen, haben mit dem klassischen Versmaß die zweisilbige Senkung vor der letzten betonten Silbe gemeinsam; als regelrechte Hexameter können aber, sehen wir vom Auftakt ab, nur die Zeilen 4 und 7 bezeichnet werden. Sogar die Einschnitte wären, nach der Theorie Wolfgang Kaysers, richtig gewählt.56 Diese daktylischen Langzeilen mit Hexameter-Schlüssen sind verantwortlich für den elegischen Grundton unserer Verse. Formal hat das Gedicht eine gewisse Ähnlichkeit mit den freirhythmischen Elegien Rilkes. Der elegische Grundton paßt ausgezeichnet zur melancholischen Vergeblichkeit des Herzenmalens, zur schmerzlichen Wehmut, die über dem Ganzen liegt. Er gibt dem Gedicht aber auch etwas märchenhaft Altertümliches. Wie eine ferne Sage klingt es herauf.
An die Technik der „Todesfuge“ erinnert sodann die Wiederholung des Anfangsmotivs, aus dem in der zweiten Strophe ein neues Thema entwickelt wird. Es ist, als würde derselbe Kreis eine Stufe höher und mit einem größeren Radius noch einmal abgeschritten, bis uns die letzte Zeile mit dem echohaften „O Halm“ und „o Blume der Zeit“ wieder zur ersten Strophe zurückführt. Diese Kreis- oder Spiralenbewegung ist typisch für den Bau der frühen Gedichte Celans. Man hat das Gefühl, man komme immer wieder auf etwas schon Gesagtes zurück, was den reigenartigen Eindruck verstärkt. Die Verschränkung und wiederholte Abwandlung derselben Metaphern zeigt sich allerdings noch deutlicher im Winzer-Gedicht.
Der Wortschatz mutet sehr konventionell, fast spätromantisch an: „Herz“, „Schloß“, „Baum“, „Blatt“, „Soldaten“, „Banner“, „Schwerter“; „Gott“, „Scharen“, „Mantel“, „Treppe“, „Flammen“. Auffallend ist ein großer Vokalreichtum. Auch die übrigen Stilmittel, welche den Wohlklang steigern, sind romantischer Herkunft, etwa die Assonanzen-Kette „Herzen – Fenster – Herzog“, oder die fast übertriebene Folge von Alliterationen und Stabreimen: „Banner – Baum, Blatt – blaut“. Sie machen nicht allein den unverwechselbaren Celanschen Ton aus, so wenig wie die surrealistischer Technik verpflichteten Genitiv-Metaphern vom Typus „Herzog der Stille“, „Halme der Schwermut“ und „Blumen der Zeit“. Charakteristisch scheinen eher die nahtlosen Übergänge von traditionellem Symbolgebrauch zu ureigensten Chiffren-Prägungen zu sein. Man wird eingelullt, fühlt sich bezaubert und merkt plötzlich, daß man den Boden unter den Füßen verloren hat, daß es mit dem musikalischen Genuß nicht getan ist. Die Reaktion gleicht derjenigen eines Träumers, der mitten im Traum aufschreckt und sich bewußt werden will, daß er „nur träume“, aber trotzdem nicht erwachen kann. Meisterhaft ist dieser Übergang am Anfang, in den Zeilen 1 bis 4. Schrittweise führt uns der Dichter vom Bekannten zum Unbekannten. Die Gebärde des Herzenmalens ist uns wohlvertraut, und auch in der Wendung „Herzog der Stille“ wird das Abstrakte noch nach romantischer Art personifiziert, in der bekannten Technik der Genitiv-Metapher. Bereits bei „Schloßhof“ und „Soldaten“ wissen wir, daß wir die Wörter nicht als solche nehmen dürfen, daß wir es mit Chiffren zu tun haben. Und in der vierten Zeile wird die noch halbwegs vertraute Szenerie Schlag auf Schlag verfremdet. Daß ein Banner als Blatt im Baum gehißt wird, ist ungewöhnlich, erst recht surreal wirkt das Blauen, zudem im Herbst, in der Jahreszeit des Vergilbens. Erst in dieser unscheinbaren Verbalform „blaut“ verrät sich das wirkliche Können des Dichters. Jeder andere Lyriker hätte sich mit dem Hissen eines „blauen Blattes“ zufriedengegeben. Wie ungleich stärker wirkt das Blau in der dynamischen Verbalform! Es strahlt über das ganze Gedicht und verändert das Gewicht jeder einzelnen Metapher. Betrachten wir die restlichen Verben, so merken wir, daß es durchwegs gebräuchliche und eher farblose Ausdrücke sind und daß keines so explizit metaphorisch eingesetzt wird wie „blauen“.
In solchen Feinheiten äußert sich die besondere Qualität unseres Gedichtes. Sie bürgen dafür, daß die konventionellen Bilder nicht abgegriffen wirken. Alle großen Lyriker zeichnen sich durch einen bestimmten Vorrat von Schlüsselwörtern aus. Die Kunst des Verbindens und Aussparens, die Behandlung der Füllung zwischen den Kernsymbolen entscheidet darüber, ob das Versgebilde epigonal oder ursprünglich wirkt. Die Erneuerung der lyrischen Sprache hängt weniger von der Modernisierung des Wortschatzes als vom Grad der Verzweiflung ab, zu der ein Dichter fähig ist. Man mag bedauern, daß Celans Sprache in späteren Gedichtbänden einer Entzauberung zum Opfer fällt, darf aber keinesfalls die frühe Musikalität und den Bilderreichtum gegen den trümmerhaften, auf das Nötigste reduzierten Spätstil ausspielen, wie das etwa von lyrischen Asketen getan wird, die totale Sprachskepsis früher am Werk sehen möchten, als sie beim Dichter ausgebrochen ist. Das elegische Frühwerk Celans zeigt uns die Fülle, welche die spätere Kargheit erlaubt.

Hermann Burger, aus Herman Burger: Paul Celan, Fischer Taschenbuch Verlag, 1989

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