Johannes Kühn: Wasser genügt nicht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Johannes Kühn: Wasser genügt nicht

Kühn-Wasser genügt nicht

SPÄTER GAST

O Bier,
o Schnaps,
o Grog!
Wo das beste Brett ist,
an dem einer sich festhalten kann,
danach hat er gefragt, als er kam,
wo einer ohne viele Müh
die Wirtshaustür erreicht,
die nach außen aufgeht.
Er will wissen,
was betrunkner macht,
der Schnaps,
das Bier, der Grog.
Er hat es immer zu spät gemerkt,
da gab es nichts zu entscheiden.
Und welche Heiligen des Landes
kommen zu Hilfe, wenn man torkelt?
Kann einer von hier sie kurz unterrichten
und sie für ihn anflehn?
Wo ein Bett ist, fragt er,
will aber nächtigen im Heu
ohne Zigarette im Mund.
So, nun weißt du, warum er da ist.

 

 

 

Nachwort

Als Johannes Kühn im Dezember 1995 nach Seamus Heaney den Horst-Bienek-Preis für Lyrik erhielt, und wir Pläne sponnen, wünschte sich sein Verleger, Michael Krüger, als nächstes einen Band mit Gedichten zu nur einem Motiv. Er kam wohl darauf, weil Johannes Kühn auffällig oft einen Reiz darin findet, dasselbe Motiv in vielgestaltigen Variationen zu behandeln, darunter Motive wie der Mond, der Frühling, das Wandern, die heute kaum noch jemand im Gedicht aufgreift, wohl aus Angst, in Klischees zu verfallen. Zum Thema Gasthaus gab es schon eine Reihe von Gedichten, und Johannes sagte spontan:

Vierzig bringe ich dazu noch fertig, aber nicht mehr!

Es sind dann aber in den Monaten Dezember 1995 und Januar, Februar, März 1996 weit mehr entstanden. So konnten wir aus einem reichen Fundus auswählen.
Alle Gedichte dieses Bandes sind tatsächlich am Gasthaustisch geschrieben. Während des üblichen Trubels, bei ständigem Stühlerücken von Kommenden und Gehenden, bei zugerufenen Begrüßungen und Bestellungen, bei lauten Gesprächen und heftigen Diskussionen sitzt der Dichter über sein Blatt Papier gebeugt und schreibt seine Gedichte. Am liebsten ist es ihm, wenn einer von uns neben ihm sitzt, dem er sie taufrisch vorlesen kann, gespannt auf eine erste Reaktion. Seine Stammwirtschaft ist das Gasthaus Huth im saarländischen Dorf Hasborn, sie liegt für ihn gerade um die Ecke. Seit man dort auch essen kann, ist aus der früheren Wirtschaft ein Gasthaus geworden.
Im Nordsaarland hat sich das Gasthaus als geselliger Ort der Männer erhalten. Dort stehen sie oder sitzen auf Hockern rund um die Theke mit dem Zapfhahn. In diese Runde begibt der Dichter sich nicht. Sein Platz ist im rechten Eck der Schankstube, damit er die Theke vor sich hat. Das Essen wird in Räumen serviert, die eigens dafür angebaut wurden. Schon seit langem verbringt er manche Stunde des Tages in seinem Gasthaus, morgens eine, nachmittags zwei, vor sich eine Tasse Kaffee, seltener Tee, und dazu eine Flasche Sprudel. „Hoffentlich erfährt keiner, daß ich Limonade trinke!“ Ein eifernder Antialkoholiker ist er nicht, er trinkt schon mal ein Glas Wein. Unter Biertrinkern fühlt er sich wohl als nüchterner Beobachter. Es gibt für ihn aber auch Zeiten, in denen er das laute Gasthaus nicht ertragen mag. Zum Brennpunkt des Dorfs, wo die Männer von der Theke zu den Tischen und über die Tische hinweg ihre Kommentare zum Orts- und Weltgeschehen geben, haben die Frauen bis heute keinen Zutritt, es sei denn, in männlicher Begleitung.
Johannes Kühn erlebt das gegenwärtige Gasthaus und immer zugleich seine Wandlung. Heute und damals mischen sich zu einem eigenen Bild. Er erinnert sich genau, wie die Bergleute und Hüttenarbeiter nach der Schicht, die Bauern nach dem Füttern und die Handwerker nach dem Auskehren der Werkstatt zum erquickenden Dämmerschoppen kamen. Aus dieser Wirtschaft der Vergangenheit möchte er in seinen Gedichten den Wirt herüberretten, der die Männer eines ganzen Dorfes zusammenführt, als seien sie alle Verwandte, und der sie so anzupacken weiß, daß sie ein Gefühl von Geborgenheit erfahren. Und wenn einer gestorben ist, zeigt sich beim Begräbnisumtrunk, wie gut er ihn gekannt hat, oft besser als der Pfarrer, der ihn begräbt.
Am heutigen Gasthaus schätzt Johannes Kühn, daß man in ihm ungestört verweilen kann. Es gibt weniger Betrunkene, die lästig fallen, und Außenseiter werden nicht mehr wie früher beargwöhnt. Der Wirt weiß sein Geschäft zu führen und legt beim Bedienen feinere Manieren an den Tag.
Johannes Kühn sucht das Gasthaus auf, weil er das Dorfleben in vielen Spielarten vor Augen haben will: mit der freundlichen Zuwendung, der geschwätzigen Oberflächlichkeit, der aggressiven Stichelei –, und das alles sehr viel farbiger als auf der Straße und in den Häusern, weil der Alkohol die Zurückhaltung löst und die Selbstkontrolle lockert. Er sitzt immer am Rande in seinem Winkel und schaut dem Treiben zu. So ist er der gesellige Außenseiter, der es von Zeit zu Zeit schon einmal ertragen muß, daß er als Schreibender belächelt wird und Spott auf sich zieht. Johannes Kühn aber wahrt eine gutmütige Haltung, tut den Spöttern gar die Ehre an, sie poetisch zu porträtieren. Es gibt für ihn nicht die Trinker, sondern immer nur den einen, der gerade vor ihm sitzt, nicht den Schreihals, sondern einen Exaltierten, den er zu Wort kommen läßt, nicht den Jammerlappen, sondern immer nur den, dessen Sorgen und Leid er kennenlernen will.
Das Gasthaus seiner Gedichte schlägt viele in Bann, erweckt die schlichte Trinklust, erzeugt den bacchantischen Bierjubel. Dennoch werden nicht alle frei im Rausch. Manche geraten in Obsessionen, andere erregen Ablehnung. Es gibt auch die, welche über dem Bier zu gefühlig-prahlerischen Erzählern und solche, die zu verbissenen Streithähnen werden. Alle bekommen wir sie vorexerziert, und alle gewinnen Kontur in der Sprache, auch Eigenbrötler, die nicht im Gasthaus erscheinen, über die dort aber geredet wird.
Wie in seinen Natur- und Arbeitergedichten bleiben seine Beobachtungen auch hier ganz nah an den Lebensäußerungen der Menschen, deren überraschende Besonderheit er zu fassen sucht. So durchdringt er den Bierdunst und erkennt im Gasthaustreiben das Spiegelbild nicht nur des Lebens in Hasborn. In seinen Gedichten transzendiert er das besondere Milieu eines Dorfs auf das Leben der Dorfleute von überall. Es kommt vieles zur Sprache: von der Arbeitslosigkeit bis zum Kirmestanz, von der Zote an der Klosettwand bis zum Rendezvous der Pärchen am Nachbartisch, vom Kartenspiel bis zum Tod.
Bei aller Lebensnähe, die in den Gedichten aufscheint, wird der Leser sehr bald merken, daß Johannes Kühn keine naturgetreue Wiedergabe des Milieus anstrebt. So verzichtet er, dessen Alltagssprache die Mundart ist, auf jedes Dialektkolorit, obwohl ja gerade Gasthausgedichte das nahezulegen scheinen. Er bleibt der Dichter, der außerhalb steht und unter Einsatz seiner kraftvollen Metaphern, aus Bestandteilen seiner Beobachtungen, eine vollere Wirklichkeit entfaltet. Die Herkunft seiner Sprache von Hölderlin, Mörike und Trakl, von Heym, Bobrowski und manchmal auch Brecht, bleibt spürbar, selbst wenn er Wald- und Steinbrucharbeitern, dem Wirt oder Betrunkenen das Wort gibt. Jeder, der in diesen Gedichten vorkommt, erfährt durch die Hineinnahme in den hohen Ton eine besondere Wertschätzung.

Irmgard und Benno Rech, Nachwort

 

„Wasser genügt nicht“

– Wirtsleute sind an Gäste aller Art gewöhnt, an Schwätzer und Streithansel, an freundliche Plauderer und Trunkenbolde, Einheimische und Fremde, Skatspieler und Fußballfans, Angeber, Schreihälse und Trauerklöße. Johannes Kühn ist auch für sie ein seltsamer Gast. Er sitzt bei Kaffee oder Sprudel in einer Ecke, mit einer Zigarre vielleicht, und sammelt Eindrücke von Gasträumen und Gesprächen, beobachtet Gäste und Wirte. Was sich davon verdichtet zu Versen, das können wir in seinem neuen Buch lesen. –

Klar und knallig sieht diesmal der Einband aus: ein Bierdeckel trägt – vor blauem Grund – den Titel: Wasser genügt nicht. Gasthausgedichte. Das Buch ist in sechs Kapitel eingeteilt, im ersten werden wir von den Wirten in Empfang genommen. Die preisen ihr Lokal an, schwätzen über die Kundschaft, spinnen an ihrer Berufsphilosophie. Rollengedichte also, Selbstporträts in Worten.
Sie alle sind gute Wirte, die mal mit Nachsicht, mal mit Strenge eine ordentliches Haus führen, und ein bißchen Lebenshilfe, ja Seelsorge geschieht auch zwischen Zapfhähnen und Musikbox: In mir haben manche Burschen einen zweiten Vater. Zwar wird auch von einem erzählt, der sich zuweilen beim Kassieren zu seinen Gunsten verrechnet:

Und wenn er sich verrechnet,
will es die Tücke solcher rauschumspülter Zahlen,
daß sie mit einem leichten Nicken
in seine Kasse gehn.

Aber man sieht, da wirken sozusagen Naturgesetze, da liegt kein böses Verschulden vor. Nein, in der Regel ist der gute Wirt so etwas wie der gute Hirt seiner Trinkergemeinde. Und einer, dem besondere Freundlichkeiten nachgesagt werden, muß gar gestehen:

… solche Vorkommnisse
haben mir den Zunamen Barmherziger
eingetragen, ganz ohne kirchlichen Weihrauch.
Ich habe noch einen
und sag ihn hinter vorgehaltner Hand:
Besoffenenopa.

Dann folgt der Reigen der Gäste, der ist bunter noch als die Reihe der Wirte, der Typenreichtum ist verblüffend, die überraschendsten Kerle treten auf die Bühne am Tresen. Und dann die Parade der Gasthäuser, im Dorf, im Wald, der illegalen und improvisierten Kneipen, an Baustellen etwa, der Tanzdielen und Stammtische.
Und die Chronik der laufenden Ereignisse, der Feste und Hochzeiten, Begräbnisse und Schlägereien, der Besäufnisse und auch des einsamen Jägerglücks, das doch auch gefeiert werden muß. Und die endlose Folge der Utopien und hochfliegenden Stammtischreden, aller Weltverbesserungen und Pläne zur Erlösung der Menschheit.
Doch dann, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, die Zischelzungen der Betrunkenen, das bösartige Geschwätz über jeden, der von ihren Normen abweicht, den sie dann zum Dorfneger machen. Nein, Idyllen sind das nicht, in denen eine vergehende Dorfgemütlichkeit beschrieben würde, der Dichter selbst war lange das Opfer solcher Zischelzungen.
In dem Gedicht „Die Betrunkenen und ich“, das schon früher, in dem Band Salzgeschmack veröffentlicht war und hier wieder aufgenommenen wurde, hat er solche Reden festgehalten:

Zum Arschabputzen
taugt Papier
noch besser; das du beschreibst.
Wenn zu Gemeindelasten
dein Kadaver zum Friedhof kommt,
ist auch die letzte Puste
um deinen Namen geweht!

Das Neue an diesem Buch ist die Konzeption als Zyklus, als große Gedichtfolge über ein Thema. Der Verleger Michael Krüger hatte sich ein solches Projekt von Johannes Kühn gewünscht, eine lange Reihe von Variationen über ein einziges Motiv. Das Gasthaus ist bei Johannes Kühn ein dörflicher Mikrokosmos, ein sozialer Brennpunkt, ein Panorama all dessen, was das Dorf bewegt: die Liebschaften und das Geld, die Todesfälle und die Wut der Arbeitslosen, Handwerkerstolz und Trinkerelend.
Und wer nicht selber anwesend ist im Gasthaus, über den wird am Tresen um so mehr geredet, wie zum Beispiel über die Frauen. Denn die Kneipe ist eine Welt fast ohne Frauen, die tauchen nur als Randfiguren auf oder eben als Gesprächsthema der Männer.
Viele Leser schätzen Johannes Kühn wegen seiner Bilder von der Natur, seiner Schilderung des Schaumberger Lands und seiner Dörfer. In diesem neuen Buch konzentriert er seinen Blick auf die Menschen. So genau sind die Bewohner dieser Dörfer noch nie gesehen worden, so genau hat ihnen noch niemand zugehört. Alle Gedichte erzählen kleine Geschichten von ihnen, beobachtet aus dem Winkel des Dichters, in einer Sprache, die Anklänge aus dem Dialekt mit dem hohen Ton großer Tradition verbindet. Die Verknüpfung solcher Sprachebenen, des rohen Jargons, des Dialekts, des hymnischen Redens, der kühnen Metaphern und Neuschöpfungen, das macht den sprachlichen Reiz dieser Gedichte aus.
„Trink dir weg die Trauerlippen! / Wetze sie flach mit dem Glasrand!“ – So empfehlen diese Gedichte und erzählen dann auch vom Zotendreck der Klosettwände und dem silbernen Glanz der Bierkranen. Auf eine rätselhafte Weise vermengen sich hier diese Sprachebenen im Reden der Wirte und Gäste zu einem eigentümlichen Ton, in dem die Kneipengänger zu großen literarischen Figuren werden, wobei dem Saarländer immer der Dialekt und der Lärm vom Biertisch hörbar bleiben.
Und kann man ehrlicher und freundlicher zugleich über einen Altherrenstammtisch reden als mit den Versen:

in ihren Leibern
die Flammen der Reben
beschenken die Herren sich würdevoll
mit Nachtgespräch.

Vergleicht man diese neuen Verse mit früheren Gasthausgedichten von Johannes Kühn, (es gibt viele davon), so scheinen sie mir an Konkretheit gewonnen zu haben, die Figuren sind jetzt plastischer, ausgeprägter als Individuen. Diese Gedichte sind wahrhaftig, weil sie von geduldiger und mitfühlender Beobachtung der Menschen zeugen; viele von denen, die in den Gedichten reden, werden uns bekannt vorkommen, manche werden den Leser überraschen. Immer fühlt man den freundlichen und genauen Blick des Dichters, dem nichts entgeht. Darin gleicht der Dichter seinen Wirten, den freundlichen und aufmerksamen. Er registriert nicht gnadenlos, sondern beobachtet verständnisvoll.
Sie ist ihm recht, diese Welt im Kleinen, wo der Alkohol alles ein bißchen verklärt, vergrößert, ja aufbläht, – so daß das Unscheinbare deutlich wird, das Übersehene hörbar. Denn das Bier enthemmt und ermöglicht so das angstfreie Reden, in dem der Redner Genuß daran findet, sich selbst in Szene zu setzen, die eigene Stimme zu hören.
Ich jedenfalls habe dieses Buch als ein Gruppenporträt genossen. Man muß sich nur verlocken lassen von dem stilisierten Bierdeckel auf dem Buchdeckel, es aufschlagen, schon wird man von den Wirten in Empfang genommen und steht am Tresen, hört die Zischelreden und den Bierjubel, sieht all die Thekenkumpane, die man schon kennt, und entdeckt noch andere, den Hahnmatz zum Beispiel, den Stotterer oder den Schäfer.
Und so vertraut sie mir sind, so angenehm überraschen sie mich in diesem Buch durch die wundervolle Sprache, die ihnen der Dichter geschenkt hat. Diese Sprache offenbart mir erst, was in ihnen steckt.

Peter Goergen, die horen, Heft 186, 2. Quartal 1997

Orte und Gedächtnis

(…)

Johannes Kühn wiederum, dessen vierter Lyrikband seit 1989 bei Hanser erschienen ist, legt Gedichte vor, die nur einen einzigen Gegenstand umkreisen: das Wirtshaus. In Alltags- und Gelegenheitsgedichten bester Machart, wobei Einflüsse von Mörike unüberhörbar klingen und ein Hermann Lenz nicht weit weg ist, wird das (Feucht)Biotop der kleinen Leute beschrieben, mehr noch: wird eine ausgreifende Phänomenologie des männlichen Rückzugsraums diesseits der Familie geliefert. Kühn schreibt übers Trinken und die Trunksucht, über den Rausch und das Vergessen, über Hoffnung und Resignation:

Zufrieden wird man nicht mit Morden,
doch mit Bier.

Dann wieder bildet die Gaststätte einen eigenen und einzigartigen Ort des kollektiven Gedächtnisses, denn hier im Raum ,wesen‘ noch manche derjenigen an, die andernorts längst aus der Erinnerung gestrichen worden sind:

Manchmal
lassen sie im Gasthaus Tote erscheinen
auf ihre Art im Gespräch
und sind zu deren Gedächtnis fröhlich,
wie diese es einst hier waren
an den grünen Tischen.

Der Wirtshaustisch ist gleichsam die ikonographische Verdichtung dieses Gedächtnisses – die tiefen Einkerbungen und Ritzen in der Platte legen die Spuren zu und von ungezählten Geschichten, Anekdoten und anderen (Liebes-)Händeln frei. Ein Gedicht wie „Der Gasthaustisch“ berichtet sehr eindringlich davon:

Nun holte die Zeit eine Rute
und schlug zwischen uns und trennte,
und immer noch steht
der Gasthaustisch
im braunen Saal
mit seiner weißen Decke,
darauf die Zukunftsbilder zu malen.

Wohl kommen jetzt andere Paare.

Kühns besondere Leistung, scheint mir, besteht darin, daß er die gefährliche Klippe der Beschaulichkeit, die sich mitunter gewiß auch in diesem lyrischen Zyklus erhebt, umschifft, indem er – in die Position des Außenseiters und Eckenstehers schlüpfend („Zum Arschabputzen / taugt Papier noch besser, / das du beschreibst“) – zugleich die Dialektik von Behaglichkeit und Dumpfheit deutlich macht und damit den Gedanken einer friedlichen Versöhnung durchkreuzt.

Werner Jung, neue deutsche literatur, Heft 515, September/Oktober 1997

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Monika Schattenhofer: Die Wirtschaft des Dichters
Süddeutsche Zeitung, 19. 3. 1997

Christian Schuler: Ein Abend ersetzt Wochen
Stuttgarter Zeitung, 21. 3. 1997

Walter Buckl: Lyrische Studien mit Neigung zum Narrativen
Tages-Anzeiger, Zürich, 27. 5. 1997

Anton Thuswaldner: Fernab des Gängigen
Salzburger Nachrichten, 7. 6. 1997

Rüdiger Görner: Mein Schatten als Narr
Die Presse, 21. 6. 1997

Tilman Urbach: Einkehr
Neue Zürcher Zeitung, 28. 10. 1997

Sabine Brandt: Schnaps und Welt
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 11. 1997

 

„Der verlachte Dichter im Wirtshaus“

– Zur Lyrik Johannes Kühns. –

Wie man ihn als Dichter im Wirtshaus verlacht, verrät Johannes Kühn nicht nur in einem Gedicht. „Spinner“ gar nennen ihn einige Miteinwohner des Dorfes Hasborn. Daß er ein Spinner sein soll, ehrt ihn. Denn der Spinner ist der Zwillingsbruder und Zulieferer des Dichters. Eine Dichtung kann gar nicht fein genug „gesponnen“ sein. Die schönste Huldigung an das Gewebe der Dichtung hat Heinrich Heine in seiner Romanze „Der Dichter Firdusi“ geschrieben, im Bericht über die Entstehung des persischen Nationalepos „Schach Nameh“:

Unterdessen saß der Dichter
An dem Webstuhl des Gedankens,
Tag und Nacht, und webte emsig
Seine Liedes Riesenteppich –.

Und denken wir an das Positive der Wendung „einen Gedanken spinnen“. Goethe berichtet in der Italienischen Reise von seinen Gesprächen mit dem Kunstkenner Karl Philipp Moritz: Er „ließ nicht ab, jetzt, in dem Kreise der höchsten Kunst und schönsten Natur, über die Innerlichkeiten des Menschen, seine Anlagen und Entwicklungen fortwährend zu sinnen und zu spinnen.“ Spinnen also als Ausdruck für philosophische Reflexion. Willkommener noch ist aber die Bedeutung von „spinnen“, die Heines Verse nahelegen, Verse über den Riesenteppich, in den „wunderbar hineingewebt“ sind „Fabelchronik“, „Rittertaten, Aventüren, Zauberwesen und Dämonen, / Keck umrankt von Märchenblumen“.
Kurz, „spinnen“ im Sinne von „fabulieren“, „der Phantasie die Sporen geben“. In solcher Bedeutung ist auch Kühns saarländischer Landsmann Ludwig Harig ein wunderbarer Spinner. Ja, es kann überhaupt niemand ein Dichter sein, wenn er nicht zugleich ein Spinner ist. Vom Dichter Bertolt Brecht berichtet Marieluise Fleißer in ihrer Erzählung „Avantgarde“, daß man ihn schon in der Schule einen „Spinngockel“ nannte.
Kühn ist kein „Dorfpoet“. Aber er lebt schon seit Jahrzehnten in Hasborn, und der Fensterplatz ist einer seiner auffallenden Beobachtungsstandorte. Sein eigentliches Reich aber wird die Umgebung des Dorfes, die Natur. Er ist vertraut mit allen Blumen, Bäumen und Vögeln, mit jedem Wetter, mit jeder Jahreszeit. Die dichterische Welt seiner zehn Lyrikbände antwortet auf diese Erfahrungen vor allem mit eindrucksvollen Bildern:

Sommer,
zünd an die Rosen,
Grünflut zu Flammen stau…

Oder:

Gefüllt ist der Ebene Tisch.
Iß,
Nahrhaft sind die Bilder.

(„In der Ebene“) .

Bildlich zusammengezogen werden der Lichthunger des Menschen und die Lebensnahrung spendende Sonne:

Nun, Hungernder, erscheint die Sonne, große Apfelsine
in der blauen Schüssel,
greif hin…

Das Bild des Regenbogens, von langher Symbol für die Verknüpfung von Himmel und Erde, Symbol der Vermittlung, erscheint plötzlich im Zusammenhang praktischen Gebrauchs, wird aber dann als solches zurückgebogen in die alte Bedeutung:

Den Regenbogen
Zur Toreinfahrt bei meinem Haus gebrauchen,
das möcht ich gern.

(…)
Doch besser bleibt er am himmlischen Haus aus Luft,
Und besser wünsch ich mir,
da hineinzugehn
mit Sohlen ohne Klappern.

Kein Romantiker ist Johannes Kühn, auch kein Neuromantiker. Wie eine nüchterne Gegenrede zu Eichendorffs Gedicht „Sehnsucht“ beginnt sein Gedicht „Radgetön“:

Radgetön
auf Straßen weit entfernt.
Es fahren Leute irgendwohin,
sie erwecken keine Sehnsucht mitzureisen.

Posthorn einerseits, Radgetön andererseits – die Kluft zwischen Postkutschenzeit und dem Zeitalter der totalen Motorisierung wird deutlich. Kühn ist kein blinder Gegner der Industrialisierung, der Zivilisation. Wo die Maschine dem Menschen die Arbeit erleichtert, ist sie ihm willkommen, auch wenn es die eher schon in die Jahre gekommenen Geräte der ihm bekannten Arbeitswelt sind: der Mähdrescher, der Bagger, der Pickhammer – die komplizierte oder gar computergetriebene Technik liegt jenseits des Fensterblicks und der Wanderer-Perspektive, also jenseits der unmittelbaren Wahrnehmung.
Es gibt von Kühn eine Reihe von Oden auf saarländische Städte, auf Saarbrücken, Saarlouis oder Völklingen. Aber Städte sind für Kühn keine Orte, um heimisch zu werden. Sie nämlich sind vor allem schuld an der Verseuchung der Umwelt.

DAS SAARLAND

Sitz erst an schwarzen Bächen,
wo du mit bester Angel
nicht mehr,
mit dem leckersten Wurm
nicht mehr
einen Fisch fängst im Schlammwasser,
Fremder.

Bist du zu trauern
plötzlich gestimmt,
weil das Wasser, vom Staub gelähmt,
vorbeikriecht,
bleib sitzen! –
Schlote schicken
rußende Schwaden herab,
daß du als Trauernder
richtig gekränzt seist.

„… daß es aufstände, das Kind“
Nicht verwechseln sollte man Kühn mit einem dichtenden Propheten der Natur- und Weltharmonie wie Christian Wagner aus dem schwäbischen Warmbronn, der zwischen 1835 und 1918 lebte. Der Vergleich liegt ja nicht so fern, weil Kühn vor einigen Jahren den Christian-Wagner-Preis erhalten und auch Gedichte über den Autor geschrieben hat. Im Weltbild Wagners sind Blumen Wächter gegen die Seuchen und Haustiere „Schutzengel“ der Kinder, sind Birken „Waldestöchter“ und Holzfäller „Mordsgesellen“, da ist das Jäten des Unkrauts im Kornfeld ein Anschlag auf den Frieden der Natur.
Nirgendwo in Kühns Werken ist Schwärmerei am Werk. Er übersieht nicht das Materielle der Natur, ihre organische und anorganische Beschaffenheit. Er ist kein Idylliker – allerdings auch nicht das Gegenteil. Ihn beschäftigt nicht ständig der Protest gegen einen bedenklichen Dorf- und Bodenkult, ihm ist die anklägerische Gebärde der antiidyllischen Regional- und Dorfliteratur fremd, die in den vergangenen Jahrzehnten vor allem bei österreichischen Erzählern Konjunktur hatte. Der Naturlyriker Kühn ist kein Ankläger, kein Richter, auch nicht eigentlich ein Verteidiger, er ist Chronist – freilich ein Chronist mit voller Zuneigung zu seinem Gegenstand.
Kein Religionsersatz ist ihm das Verbundensein mit der Natur. Kühn erliegt nicht der Versuchung, die Natur zu vergotten, er läßt in seiner Naturanschauung das Religiöse – das Religiöse im überlieferten Verständnis – aus dem Spiel. Katholisch erzogen und den Glauben an das Jenseits nicht preisgebend, hat er sich gleichwohl losgelöst vom tradidionellen „christlich-katholischen Erlösungsverständnis“ (Birgit Lermen). Er hält diese Situation des Dazwischenstehens aus, er greift nicht nach dem Surrogat, Erlösung in der Natur zu suchen.
Erhalten hat er sich bestimmte Sichtweisen des Kindes. Die literarische Gattung, in der sich solche Weltsicht am reinsten aussprechen kann, ist das Märchen. So versteht sich die große Zahl von Märchen, die Kühn geschrieben hat, so aber auch das Auftauchen von Märchengedichten in seinem lyrischen Werk, von Gedichten wie „Rumpelstilzchen“, „Tischleindeckdich“ oder „Dornröschen“, wo es heißt:

Prinz, der Erlösung bringt,
wär ich gern,
daß es aufstände
das Kind
und selber blühte,
ein Rosenstrauch!

Im Märchen wird eine alte Menschheitsidee und -utopie als real genommen: die von der Kommunikationsgemeinschaft aller Dinge und Lebewesen. Tiere können reden, und nicht nur miteinander, sondern auch mit den Menschen; ja mit den Pflanzen und Steinen können die Menschen sprechen, zumal die Kinder. Dies ist ein Zustand, der nicht nur vor der babylonischen Sprachverwirrung liegt, sondern auch vor der Auszeichnung des Menschen durch den Logos, die Vernunft, die Sprache.
Hier haben Natur und Mensch eine einzige gemeinsame Sprache. Nun lesen wir Verse Kühns anders, so diese aus dem Gedicht „Ein Sonntag“:

Zu den Wasserfällen halt ich das Ohr.
An Lerchenaufbruch
hak ich den Sinn…
Sandjubel unter dem singenden Fuß.
Harfendasein junger Sträucher unter dem Windwehn.

Eine innere Geschwisterschaft besteht zwischen dem Menschen und dem Naturwesen, dem Baum. So heißt es im Gedicht „Die Weide“:

Wär mir
vergönnt eine Verwandlung
von meiner Trauer weg
in einen Baum, ich wählte sie…

Freilich ist Kühn kein Naturmystiker. Das „wäre“, das „falls“ des Satzes ist nicht zu überhören, der bloße Wunsch, der dahintersteht. Keineswegs geht das dichterische Subjekt im Naturwesen auf, keinesfalls verschmilzt es mit ihm in mystischer Vereinigung. Das lyrische Subjekt behauptet seine Eigenständigkeit.

Lyrische Porträtkunst
Kühn bleibt, wenn auch als Außenseiter, bewußtes Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Das zeigen die Gedichte, in denen er Menschen seiner früheren Arbeitswelt oder das Los der Arbeitslosen beschreibt:

Das Werk in der Stadt
wird abgebaut,
du kannst hinfliegen
fleißig wie die Biene,
du kannst hineilen
fleißig wie der Fleiß,
es braucht dort niemand mehr Arbeit.

Das zeigen aber auch Gedichte, die er „Gasthausgedichte“ nennt. Sie füllen einen ganzen Band (Wasser genügt nicht, 1997) und gehen zurück auf eine Anregung von Kühns Verleger Michael Krüger, auf dessen Wunsch, doch einmal einen Kühnschen Gedichtband zu nur einem Motiv zu veröffentlichen.
Das Gasthaus ist der Ort der zwischenmenschlichen Kommunikation schlechthin, der Ort, wo nicht nur die Einheimischen miteinander in Kontakt treten können, sondern auch Fremde. Das Gasthaus ist der Ort der – verabredeten und der zufälligen – Begegnungen. Ja, es kann zum Schicksalsort werden; wir wissen es vor allem aus der Geschichte des Dramas. Im Gasthof ereignet sich die tragische Geschichte von Lessings Miß Sara Sampson, im Gasthaus trifft Minna von Barnhelm ihren Major von Tellheim wieder und findet der Major sein „Soldatenglück“.
Johannes Kühns Gasthausgedichte sind lyrische Porträtkunst. Eine ganze Galerie von Wirts- und Gästeporträts ist entstanden. Da sind der Stammgast und der Zeitungsleser, der Hausierer und der Teppichverkäufer, der Stotterer und der „Schwatzaff“, der Krebskranke und der Arbeitslose, da sind natürlich die notorischen Trinker, aber auch die Steinbrucharbeiter mit trockener Kehle. Da steigt am Kirmestag die Isidora weinselig auf den Tisch, und „wie ein Sturm im Spätherbst / den Haselstrauch entblättert / ganz plötzlich streift sie die Kleider ab.“ Und da kehren, vom Friedhof kommend, Gäste ein für einen Umtrunk zu Ehren des Toten. So wird das Gasthaus zu einem Sammelpunkt prallen Lebens und zum Spiegel der menschlichen Existenz, der Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Und in allen Festen zwischenmenschlicher Kontakte spürt der schreibende Gast, der Gast in seinem Winkel, nur um so stärker sein Ausgeschlossensein. Mit Hohn überschütten die Betrunkenen den Naturlyriker:

Was. Apfelbaum in Blüten!
Und dann entzückt sein und davon plappern!
Ach, dir gehört kein Grashalm,
kein Haselast!
Du mußt dir die dünnen Nüsse fast stehlen
im Herbst, Tagdieb!

Zum Arschabputzen
taugt Papier noch besser,
das du beschreibst.

So wird das Gasthaus als Ort der Fröhlichkeit – und nirgendwo sonst in Kühns Versen haben Humor und Ironie eine solche Chance wie hier – zugleich Ort der Erfahrung von tiefer Einsamkeit. War die Zahl der Liebesgedichte unter den tausenden von Gedichten verhältnismäßig spärlich und war Kühn nie ein Liebesserenaden-Sänger, so hat nun die Liebe wohl ihren Platz ganz für die Naturliebe räumen müssen.
Aber noch nie hat Resignation einen Dichter geschändet. Und Melancholie ist seit jeher eine ebenso reiche Quelle für Dichtung wie die Liebe. Und in einem Punkt kann von Einsamkeit überhaupt keine Rede sein. Im Gedicht „Die Muse“ heißt es:

Irgendwo an den Quellen
ist sie gesehen worden
und an Gärten,
wo Lorbeer wächst.
Sie streue Salz in die Lüfte,
hauche die Augen göttlich.

Mich besucht sie nie.

Einspruch, dreimal Einspruch! Johannes Kühn kann sich vor Besuchen der Muse gar nicht retten.

(Stark gekürzte Fassung der Laudatio zur Verleihung des Stefan-Andres-Preises 1998 an Johannes Kühn)

Walter Hinck, die horen, Heft 192, 4. Quartal 1998

Schnaps und Welt

Aus dem Nachwort der Herausgeber erfährt man, daß Johannes Kühn, geboren 1934, gern eine größere Anzahl Gedichte um jeweils ein Motiv kreisen läßt. Und daß sein Verleger sich für den vierten Band des Dichters zur Abwechslung einmal Variationen zum Thema Gasthaus wünschte. Kühn entsprach dem Wunsch, und also sind die achtundsiebzig Gedichte des vorliegenden Bandes alle auf Bestellung geschrieben worden. Wie wirkt ein solcher Umstand sich auf Dichtung aus?
In der Regel wohl nicht sonderlich positiv. Kühn jedoch bricht diese Regel, er hat sich, als er seine Verse schrieb, nicht um den Besteller gekümmert. Unbefangen informiert und unterhält, erschreckt oder erheitert er seine Leser, vor allem aber liebkost er ihre Sinne durch eine geschmeidige Sprache. Die stamme, sagen die Herausgeber, „von Hölderlin, Mörike und Trakl, von Heym, Bobrowski und manchmal auch Brecht“. Ein beachtliches Kollegium von Erblassern, die sich aber weder kollektiv noch individuell in den Vordergrund drängen. Wie sein Gedichtband bezeugt, weiß Kühn mit dem ererbten Pfund zu wuchern.
Das Gasthaus, das er vor uns lebendig werden läßt, steht in seinem Wohnort, dem saarländischen Dorfe Hasborn. Dort leben Bauern und Bergleute, ihre Arbeit ist schwer. Nach dem Tagwerk hocken sie am Tresen, schütten Bier über ihren Alltag und Schnaps über das Weltgeschehen. Der Wirt, in der Schule des Zuhörens schlau geworden, gibt Bescheid über die trinkenden Männer. Etwa so:

Der gute Gast,
der kommt und zahlt, nachdem er leergetrunken. Amen.
Wie ein Gebet vollzieht sich der Besuch des Gasts, des zahmen.

Vom Stammgast weiß er:

Vorgewärmt von gestern noch der Sitz
im stilleren Winkel. Das Gasthaus stirbt nicht aus
an langen Tagen des Winters.
Die Mauer Vergangenheit
wird aufgeschlossen.
Sieben Glas hat er getrunken
in seinem Winkel
und torkelt heimwärts.

Verirrt sich ein Fremder an die Theke, fällt Stille über die Saufrunde:

Und du bestellst,
und sie warten,
wen wirst du hier als Freund erkennen,
mit dem du in Arbeit warst
vor kurzen Zeiten noch,
wen willst du besuchen
in einem der Häuser?
Ein Schweigen wie aus Wäldern ist im Raum.

Noch während die Personnage der Bühne Gasthaus aufgebaut wird, schauen wir schon in die Seelen, und wenn wir alle Typen kennengelernt haben, ist uns nicht mehr viel verborgen.

Manchem schießt Kraft in die Arme,
um Löwen auf den Rücken zu werfen,
und er meint, einen Kornwagen ziehn
könnt er wie Pferde

weiß der Autor und warnt:

Ich geh ihm aus dem Weg
und du wohl auch.

Ein Trinker beschwört seine Flasche:

Opfere dich,
fließ aus,
werde Brunnen,
sitzt Ehrgeiz in die,
aber ich laß dich zerklirren,
am Holztisch zerschlag ich deinen Hals.

Mancher Gast schleppt seine persönlichen Dämonen mit in den Bierdunst:

Es kam auch einmal einer
mit einem Stahlhelm in der Hand,
den trug sein Sohn
beim Vormarsch im Westen,
ein Granatsplitterloch
zeigte der Vater weinend…

Ein andermal kommt ein Krebskranker:

Er weiß, daß er stirbt,
wählte die Nacht,
den Abschied zu mildern.
Er will die Augen
für immer schließen
am Ende des Monats.
Man hats ihm gesagt,
man hats ihm gesagt.

Aus Geschwätz und Gespräch, Arbeitsfleiß und Alltagsflucht, nüchternen Einsichten und alkoholisierten Träumen formt sich, Vers um Vers, ein Kosmos, quirlend vom Leben. Ein dörflicher Kleinkosmos zwar, doch das ist keine Einschränkung, das Dorf dient als Modell für die Menschenwelt schlechthin. Wohl nicht zufällig hat der Autor Kühn im Umgang mit Land und Leuten jedes Lokalkolorit, jede mundartliche Färbung beiseite gelassen. Er meint uns alle, und auf die eine oder andere Weise sind wir auch alle getroffen.
Johannes Kühn, so vermeldet es sein Verlag in einer Nachbemerkung, ist in den vergangenen Jahren für seine Dichtung viermal ausgezeichnet worden. Die einschlägigen Lexika jedoch schweigen über diesen Dichter. Er ist ein Geheimtip, der es verdient, zum Tip zu avancieren.

Sabine Brandt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.11.1997

Die Freude schaut Sterne an den Himmel

– Preisrede für Johannes Kühn zur Verleihung des Horst-Bienek-Preises für Lyrik 1995 am 7. Dezember in München. –

Anfang November spürte ein Weltraumteleskop der NASA mitten in den Turbulenzen des Orionnebels ein außergewöhnlich lebhaftes Torkeln und Trudeln feurigflüssiger Gestirnsmasse auf, ein rasch wechselnder Gesteinswirbel in bizarren Figurenspielen zerfallender und neu entstehender Himmelsgestalten, ein ständiger Austausch von immer neuen Bildern. Die Weltraum-Kamera filmte das Ereignis: die Geburt eines neuen Sterns. Die bewegten Bilder dieses Vorgangs, die auch im deutschen Fernsehen zu sehen waren, erinnerten mich an frühkindliche Spiele mit dem Kaleidoskop, worin bei jeder Drehung der Röhre ein bunter Mosaikstern seine Gestalt und Farbanordnung in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit veränderte. Es war wunderbar, schöne Bilder zu schauen, mein Bruder und ich konnten uns oft nicht satt sehen an diesem Wechselspiel der Formen und Farben.
Was uns aber am meisten beeindruckte, war die stets neu entstehende Radialsymmetrie, die bei der geringsten Erschütterung zerfiel, um einer anderen Platz zu machen. Ich erinnere mich an einen köstlichen Nachmittag am Wohnzimmerfenster, die Sonne stand schon tief und schien geradewegs ins Ausguckloch unseres Kaleidoskops: Ich hielt die Röhre unbewegt vors Auge, entdeckte ein Sternbild, wie es sich schöner nicht vorstellen läßt, und wollte meinem Bruder die Röhre reichen, solange das Bild noch nicht auseinandergebrochen war. Doch bei der ersten Handbewegung klickte es, die Splitter sprangen nach allen Seiten, und mein Bruder erblickte einen ganz neuen Stern. Er schaute lange, dann sagte er:

Schade, daß du ihn nicht sehen kannst, er ist noch schöner, als deiner war.

Ein Lichtjahr ist die Strecke von neuneinhalb Billionen Kilometern, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Aus dieser Zahl wird das weltweite Interesse an der gigantischen Sternengeburt aus dem Fernsehen, 1.500 Lichtjahre von der Erde entfernt, erst recht verständlich, denn nichts bestaunen wir mehr als das Maßlose, das alle unsere Vorstellungen übersteigt. Tageszeitungen berichteten über sensationelle Panoramaaufnahmen, illustrierte Blätter brachten ganzseitige Fotoreportagen, unter Fachleuten und Laien wurde das Geschehnis heftig diskutiert, vor allem der vielen Billionen von Kilometern wegen, die das Licht zurückgelegt haben mußte, uns dieses Schauspiel eines rhythmisch bewegten Sternenmosaiks am Bildschirm zu präsentieren.
Nur in Hasborn im Saarland, im Gasthaus Huth in der Theelstraße, wurde das Erscheinen des neuen Sterns anders aufgenommen und gedeutet als sonstwo. Johannes Kühn, begabt mit der Hellsichtigkeit des Dichters, aber noch unverdorben vom Abrakadabra physikalischen Fachwissens, erlebte die Sternengeburt am Fernsehen wie wir damals als Kinder die wechselnden Bilderspiele am Kaleidoskop. Als neugieriger, aber unbefangener Dichter macht er sich sein eigenes Bild von den Weltzusammenhängen und legt es entsprechend poetisch aus. Johannes Kühn kümmert sich nicht um die Erkenntnisse der Schulphysik: Wenn er den Himmel betrachtet, schaut er mit seinem nur ihm selbst eigenen Dichterauge. Die subjektiven Nachbilder auf der Netzhaut seines Auges erzeugen sein Bild von der Welt, und so steht er – Goethe näher als Newton – außerhalb aller üblichen Theorien und Systeme. „Aus einem unvermuteten Augenaufschlag oder in einem teilnahmsvollen Atemzug offenbart sich diesem Dichter die unbegreifliche Welt als böse oder lichte Wundererscheinung“, charakterisiert Peter Rühmkorf diese arglose Betrachtungsweise des Dichters, „und wenn uns das manchmal richtig naiv vorkommt, ist es doch gerade diese Kindlichkeit, die Kühns Gedichte so menschlich macht.“
Lichtjahre, Quantensprünge, Kaskadenschauer, Das sind in Johannes Kühns Augen schöne neue Metaphern für Gedichte, keine Bezeichnungen für physikalische Abläufe und Vorgänge, Plausibler als Astro- und Atomphysik erscheint ihm Tiplers Physik der Unsterblichkeit, in der mit naturwissenschaftlicher Beweisführung dargelegt wird, daß die Auferstehung von den Toten 10 hoch minus 10 hoch 10 bis 10 hoch minus 10 hoch 123 Sekunden stattfinde, bevor der Omegapunkt erreicht sei, der natürlich von der divergierenden Omegapunktsingularität abhänge. Wie alle Dichter immer schon von diesem rätselhaften letzten Buchstaben des griechischen Alphabets fasziniert, spielt auch Johannes Kühn mit den Möglichkeiten der Weltchiffrierung in poetischen Metaphern. Der Omegapunkt sei vielleicht schon bald erreicht, erzählte er mir unlängst bei einem Glas Bier im Gasthaus Huth und lächelte verschmitzt, eines gar nicht so fernen Tags flöge eine Raumfähre am Himmelstor vorüber, „und dann müssen sich einige Herrschaften ein paar neue Gedanken machen“.
Diese Geburt eines neuen Sterns im Orionnebel erlebte Johannes Kühn als ein augenblickliches Ereignis. „Mein Auge ist souverän“, sagte er zu mir, „ich leide zwar unter dem grauen Star, doch mein Blick ist immer noch so klar, daß ich ihm vertrauen kann“. Er wollte sich eben nicht mit außerhalb seiner Wahrnehmung liegenden unanschaulichen Begriffsbrocken abspeisen lassen und erzählte mir in allen Einzelheiten, wie er dem Schauspiel am Nachthimmel als einer im gleichen Moment sich ereignenden Schöpfung gefolgt sei, Schöpferlaune, Erfindungslust, Entdeckerfreude: Vor allem ist es ja die Freude, die das kreative Wunder bewirkt. Die Freude wartet nicht ab, bis sich dem Betrachter ein neuer Stern zeigt, und stellt sich dann geflissentlich ein, sie selbst schafft das Nochnichtdagewesene mit der Kraft der Phantasie. Schon der vierundzwanzigjährige Johannes Kühn machte sich die Sterne selbst. In einem Gedicht, das ich in einer saarländischen Anthologie gefunden habe, beschwört er die schöpferische Freude und schreibt:

Sterne schaut sie
ans nächtliche Samtbild des Himmels.

Johannes Kühn ist die Freude nicht in die Wiege gelegt worden, Da kamen keine guten Feen wie im Märchen ans Kinderbett und beschenkten den kleinen Johannes mit ihren Wundergaben, die eine mit Reichtum, die andere mit Schönheit, die dritte mit Freude und die vierte mit Glück. In freudlosen Jahren mußte er sich die Freude herbeisingen:

Woher sie den Fuß schnürt zum schönen Schritt
durch alten Bau des Körpers,
daß er auf einmal neu
und wie von Blitzen behängt,
klar steht im dunklen Tag,
wer weiß

und antwortet trotzig:

Die Stunde hat den Salzgeschmack aus dem Mund gespuckt.

Johannes Kühn stammt aus einfachen Verhältnissen, Im saarländischen Bergweiler als Ältester von sieben Kindern in einer Bergarbeiterfamilie geboren und herangewachsen, ist er schon früh vom Normalen abgerückt und hat den Riß übersprungen, der die Welt in Sein und Schein spaltet. Abgestoßen von der Gleichmacherei des Dorfs, schockiert von der Zwanghaftigkeit einer Missionsschule, versuchte er, den Widrigkeiten eines aufkeimenden seelischen Leidens trotzend, den beengenden Reglementierungen zu entfliehen. Er hörte als Externer mit Freunden zusammen Vorlesungen an den Universitäten von Saarbrücken und Freiburg, besuchte eine Schauspielschule, arbeitete in der Tiefbaufirma seines Bruders im Straßengraben und schrieb während all dieser Jahre freud- und glücklos Theaterstücke und Gedichte. In einer frühen Erzählung, einem Tagebuch seiner Ferienarbeit in einem Sperrholzwerk. wendet er sich an Cicero:

Hier geht ein Höllenrad. Cicero. Solche Arbeit taten Sklaven an den Steinmühlen deiner Zeit. Ein freier Bürger bin ich, Cicero. Ich will keine Sklaven! Mein Blut ist nicht aufrührerisch, mein rotes Gesicht ist keine Fackel zur Revolution gegen herrschende Menschen, wir sind freie Bürger. Aber das Band, das Band, das eisern rollt, rollt nur, immer, und es lärmt, es lärmt.

Das rollende, lärmende, Geist und Gemüt zermürbende Fließband ist in seinem Kopf und Herzen lange Jahre nicht zum Stillstand gekommen. Das Unglück diktiert ihm sein Leben, das Leben schreibt ihm sein Unglück vor:

Daraus hat er ein Dogma gemacht.

Ich hatte nie Glück.
Ich habe keins.
Und ich werde keins haben.
Ich habe genug erlebt, daß ich dies Dogma bau,
da bin ich mein eigener Papst.

Zehn rote Bälle
wirft einer mir zu, alle,
die ich fangen will,
mißraten an meiner Hand vorbei.

Komm ich
unter den früchteregnenden Nußbaum im Herbst,
hört er auf mit dem Nüsseklopfen.
Öffne ich eine von denen, die liegen,
außen wie schön diese Nüsse,
stinkt ihr Inhalt.

In dieser Lehrmeinung von der eigenen Beschaffenheit steckt zugleich aber auch der Kern eines poetischen Credos. Johannes Kühn, der selbsternannte Schattenmann, der Elendsesel, der Winkelgast, hat zwar zehn Jahre geschwiegen. Dann aber, dank Freundeshilfe von Irmgard und Benno Rech, der Heilkunst seines Arztes Wolfgang Werner und dem fürsorglichen Beistand seiner Schwester Martina, wirft er die graue Hülle des Einsiedlers ab und tut den Mund wieder auf. Nun entpuppt er sich als lächelnder Herr, als souveräner Poet, der über sich selbst spottet. Wer ist schon bis an die äußerste Grenze des Komischen gegangen, wo Majestätsbeleidigung in Selbstironie oder Selbstironie in Majestätsbeleidigung umschlägt – und hat in einem unvereinbar scheinenden Zusammenspiel von erlittenem Elend und erwünschtem Glück sich in die Brust geworfen und erhobenen Hauptes gesagt: „Da bin ich mein eigener Papst“? Während die anderen – der Vorarbeiter Friedrich und Herr Zettelmeyer, der Weltmann und der General –, die ihn über viele Jahre mißachtet und gekränkt haben, heutzutage nervös und gestreßt ihren Geschäften nachgehen, elektronische Datenverarbeitungsgeräte bedienen und kostspielige Autos mit gestyltem Cockpit fahren, steckt er den Bleistift ins Jackentäschchen und sagt: „Ich geh’ zu Fuß.“

Wenn wir den Scheibenwischer nicht hätten,
gäb es mehr Unfälle für Autos,
Wenn ich den alten Weg nicht hätte,
wär ich trauriger als ich bin.
Und ich geh zu Fuß
die Akazien entlang,
die Birken entlang
und Buchen.

Ich brauch keine Karten auszubreiten,
da bin ich,
da muß ich hin!
Ich muß ihn nicht einmal gehn.
Wenn ich ihn leid bin,
kehr ich um.

Dieser Spaziergänger, der seine Wanderkreise über Felder und Wiesen, durch Tages- und Jahreszeiten, an Bächen und Weidezäunen entlang zieht, Fräulein Birke und Freundin Buche, Fuchs und Eichkatze, Fink und Falke in der stillen Gegend besucht, wo hinter Zweigen Einsiedler wohnen, deren Bärte wie Schnee der Weisheit leuchten, und das alles in wohlklingenden Versen besingt – ist dieser Spaziergänger ein Idylliker, wie einige engherzige, ja kleinmütige Kritiker vermuten, die aber großmundig auf Zeitbezogenheit, Modernität und Fortschritt eingeschworen sind? Johannes Kühn ist ein Idylliker der dritten Art. Schillers Definition der Idylle, worin der verlorene Zustand als wirklich dargestellt werde und nicht als Gegenstand der Klage und Trauer, rückt Johannes Kühns Gedichte nahe an Blochs „Prinzip Hoffnung“ heran. Da heißt es: „Gesucht und gespiegelt wird das Goldene Zeitalter, wo bis ganz hinten ins Paradies hineinzusehen war“, und weiter:

Die Kunst, Gesang in den Lüften zu hören, erscheint dann nicht mehr als eine Flucht oder gar als interessierte Verhimmelung eines schlecht Vorhandenen: sie erscheint nicht mehr als voreilige Lösung gesellschaftlicher Widersprüche in leuchtendem Spiel, sondern der Vorschein des Rechten tritt weiterwirkend, als allein weiterwirkend hervor.

Wenn man bei Johannes Kühn nach dem Rechten sucht, findet man es auf der linken Seite, dort wo das Herz schlägt. Es ist das Erbarmen mit der Kreatur, das ihn beseelt. In seinen Landschafts-, Tier- und Arbeitergedichten begegnen wir auf Schritt und Tritt der dreizehnten Fee, die nicht Unglück bringt wie im Märchen, sie bringt Nächstenliebe, Mitgefühl, Zärtlichkeit. „Der Rat, Glück zu verachten, kommt vom Ausbeuter her“, heißt es im „Prinzip Hoffnung“, „Glück ist zum Unterschied vom Rausch das Zeichen, daß ein Mensch nicht außer sich ist, sondern zu sich und dem Seinen kommt.“ Johannes Kühns Gedichte sind die Glücksfälle seines Unglücks.

Grabsteine haben junge Gesichter, sind gar nicht ernst
in der Sonne, als wären die Toten
heiter unten.

Wo ist ein Ziel, das mich fängt?
Mond darf es sein, Teich, der mit Fischen glänzt,
daß ich von mir schüttle
alle Kleider aus Langeweile, alte Fetzen!

Schöner war es, mit Schaukelpferden
durch die Stube zu wiegen,
als die Hände
weiß zu gähnen wie jetzt. Am Hasenstall
rieb ich die Nase mit schwarzem Tier,
Kind, das wußte,
einen Mittag zärtlich zu machen.

Das war früher in der Kindheit, wo das Wünschen noch geholfen hat. Wenn wir „früher“ sagen, dann meinen wir eine Zeit, die so lange vergangen ist, daß nur die Erinnerung sie heraufrufen kann, eine Zeit, in der noch alles möglich war: die Zeit der Kindheit, die noch kein „später“ kannte. Und auch in dem Wort „noch“ liegt etwas Ungewisses verborgen: etwas, das zurückreicht in fast vergessene Zeit, wenn ich sage: denkst du „noch“ daran? und etwas, das vorausweist in künftige Jahre, wenn ich sage: noch ist es mit uns nicht zu Ende.

Früher muß es viel kälter gewesen sein
Ich erinnere mich noch genau,
als wir föhngesichtig
am Fuße des Kilimandscharos lagen.

Mit diesen Versen beginnt das Gedicht „Winterlandschaft“ von Horst Bienek, das mich vor vielen Jahren schon einmal wegen des klangvollen und beschwörenden Namens „Kilimandscharo“ in seinen Bann geschlagen hat. Früher am Fuße des Kilimandscharos: Die Erinnerung daran, doch nicht verklärt, sondern überhell – „föhngesichtig“, wie er sagt, als Gedächtnis- und Trauerarbeit: das ist Horst Bieneks Thema. Erinnerung an die Kindheit, Erinnerung an die Heimat, am Fuße des Kilimandscharos. Gibt es eine schönere, eine weiträumigere Metapher für das ferne Land, das so unerreichbar in der Weite der Zeit und des Raumes liegt, als dieses Bild vom Kilimandscharo? Es ist das unbetretene Land, das zugleich verschollene Land der Kindheit weit zurück in der Vergangenheit und das erst vorscheinende Land wiedererlangten Geborgenseins irgendwo voraus in der Zukunft. Kindheit und Heimat sind also nicht verloren und verschollen, sie sind lebendig in unserer Erinnerung. Im Gedächtnis bleiben sie aufbewahrt, sie sind ein Stück von uns. In uns regt sich immerzu das Kind, das wir einmal waren; und das Stück Heimat unserer Kindheit bleibt uns als erinnertes und vorgestelltes Land der Hoffnungen erhalten, Wie wir uns drehen und wenden, wo wir herkommen und hinwollen: Vor unseren Augen liegt der Kilimandscharo unserer Hoffnungen. In meinem Falle: Sulzbach am Kilimandscharo, im Falle Horst Bienek: Gleiwitz am Kilimandscharo, im Falle Johannes Kühn: Hasborn am Kilimandscharo. Bienek geht sogar so weit, in seinem Gedicht „Winterlandschaft“ zu sagen:

Jeder von uns ist ein Kilimandscharo.

Jeder ist sein eigenes Land der Hoffnungen, das er entdecken und erkunden muß.
Deshalb ist Johannes Kühn, der Sternengucker und Landläufer, rastlos unterwegs. Er erkundet seinen Kilimandscharo, mal wie einen Stern, mal wie eine idyllische Gegend. Als Realist ist er Phantast geworden, als Phantast ist er Realist geblieben. Er hofft, aufgrund der Tiplerschen Unsterblichkeitsphysik und der neuesten Erkenntnisse der Himmelsmechanik, daß vielleicht noch zu seinen Lebzeiten eine Raumfähre am Himmelstor vorbeizieht und die Astronauten zwischen Tür und Angel einen Schimmer des Blochschen Vorscheins erhaschen, eine Kühnsche Leuchtspur, in deren Licht Menschen geboren werden, „die mit Löwen spielen und Erzstücke biegen im Zirkus“, wie er es in einem seiner letzten Gedichte verheißt. Dennoch macht er sich nichts vor. Er ahnt es zwar „mit halbgeschlossenem Aug’“, doch er rechnet nicht mit einer Wiederkehr per Raumfähre ins Land der Kindheit, das ja sogar für die allerneueste Discovery viel zu weit hinter den Sternen liegt, mehr als 1.500 Lichtjahre – und nur auf Versflügeln des Gedichts zu erreichen ist.

Ich habe mir die Jahreszeiten angesehn
und das Himmelsblau geschätzt
wie die Wolkenwetter,
den Herbst, den Winter,
das Frühjahr, den Sommer,
diesen hatte ich mich zugesellt,
als meine Freunde in andere Länder fuhren,
das Evangelium zu verkünden.
Als ich das letzte Mal
unter diesen Bäumen war,
hatte ich achtundzwanzig Jahre gelebt,
und wir nahmen Abschied voneinander.

Sie sind also glücklich,
wenn sie das Evangelium verbreiten,
Menschen zu guten Taten verpflichten,
daß diese dadurch in den Himmel kommen
und sie selbst auch.
Ich bin glücklich,
wenn ich gesundes Himmelsblau sehe
und wandern kann.
Sie verbrachten viel Zeit damit zu verkünden,
worum es geht in der Welt.

Sie wissen, daß es so ist
und ich nicht.

Harald Hartung, Sinn und Form, Heft 2, März/April 1996

Reiner Kunze stimuliert

Johannes Kühn zu freudigerem Dichten

Würde jemand Irmgard oder mich fragen, wie er einen verlässlichen Zugang zur Dichtung von Johannes Kühn finden könne, wir würden ihm raten, Reiner Kunzes Anmerkungen zu Kuhns Versen in Am Sonnenhang. Tagebuch eines Jahres zu lesen. Dort fände er Zitate und dazu kurze Hinweise, die zum Kern seines Werkes führen.
Reiner Kunze war von der Einzigartigkeit der Gedichte von Johannes Kühn überzeugt:

Solche Gedichte schreibt heute und in der Zukunft eben nur Johannes Kühn.

Sein Engagement geschah aus Überzeugung, nicht aus Gefälligkeit. Getragen war es von einer festen Erwartung:

Eine dichterische Kraft wie diese, muß von der Öffentlichkeit doch einmal wahrgenommen werden (Brief vom 20. April 1989).

Neben Reiner Kunze haben Ludwig Harig, Peter Rühmkorf, Wulf Kirsten, Elisabeth Borchers, Ernst Stadler auf Johannes gesetzt.
Das erste Exemplar von jedem neuen Buch von Joh. schickten wir an Reiner Kunze, und immer hat er rasch reagiert und benannt, was ihm besonders gefallen hat. Am 22. April 2002 schrieb er aus dem Krankenhaus:

Eigentlich ist man nach zwei Vollnarkosen innerhalb von drei Tagen (einschl. der dazugehörigen Eingriffe) noch nicht sehr geneigt, gesteigertes Interesse an der Mitwelt aufzubringen. Aber da kommt ein neuer Kühn, und schon ist das Interesse wieder da.

Drauf nennt er sieben Gedichte, die ihn besonders angesprochen haben. Joh. hat diese auf Zitate gestützte Würdigung besonders gefreut.
Reiner Kunze führte mit Joh. und uns keine poetologischen Gespräche. Er redete mit Joh. als dem von ihm bewunderten Dichter, der im Literaturbetrieb übergangen wird und mit uns als seinen Freunden, die sich für das Werk als Herausgeber nützlich machen. Er bestärkte unser Zutrauen in die Gedichte, und machte uns mit Joh. zusammen sicherer angesichts von Gleichgültigkeit und Zurücksetzung, die von mancher Seite ausgingen. In seinen Wahrnehmungskreis gehört aber auch die Schwester Martina, die ihrem unverheirateten Bruder ein gutes Leben mit Familienanschluss ermöglicht.
Einem jüngeren Kollegen, der ihn offensichtlich um Förderung gebeten hatte, antwortet er:

Seien Sie versichert, dass ich…, obwohl ich über nahezu keine Beziehungen verfüge, das Meinige tue, um Literatur, die mich überzeugt, aus dem Schatten zu holen.

Johannes Kühn hat er seit 1984 die Treue gehalten, Ich Winkelgast in die Liste seiner „Lieblingsbücher“ aufgenommen. Sein Auswahlkriterium:

Welche Bücher möchtest Du immer um Dich haben?

Von der Mitteldeutschen Zeitung nach einem Lektüretip zu Weihnachten 1997 gefragt, empfiehlt er:

Dichter Johannes Kühn Ich Winkelgast. Wer vergessen haben sollte, was Poesie ist – hier erfährt er es wieder.

Er ist kein geschäftstüchtiger, kein lauter Förderer. Er drückt seine Wertschätzung, seine Zuneigung aus, ermuntert den Leser, seine eigene Beziehung zu entwickeln. Nach seiner Auffassung brauchen z.B. gute Bilder keine Erklärung, es reicht, wenn auf sie hingewiesen wird. Er will nicht überreden, er möchte die Augen öffnen, die Wahrnehmung, das Empfinden befördern.
Reiner Kunze hat Joh. auf unterschiedlichste Weise ins Spiel gebracht, etwa, indem er Lesungen mit einem Gedicht von Johannes beschloss. Er war dann enttäuscht, wenn sich die Berichterstatterin in der Zeitung nicht einmal den Namen Johannes Kühn gemerkt hatte. Dadurch, dass er wieder einmal eine Lesung mit Gedichten von Joh. beendete, hat er ihm wohl unbeabsichtigt den Weg zur Adenauerstiftung nach Cadenabbia gebahnt, wo sich ein Dichterzirkel mit anregenden Autoren und Kritikern regelmäßig trifft. Joh. war dreimal dort.
Ein anderes Beispiel: Am 20. September 1996 schickt Reiner Kunze uns eine Serviette aus einem Restaurant SERBIEN in Jugoslawien, die von Kollegen beschriftet worden ist:

A very good poet: Johannes Kühn.

Also bewegen ihn auch solche Gelegenheiten, die Gedichte von Joh. bekannt zu machen.
Reiner Kunzes Reaktion auf die Gasthausgedichte Wasser genügt nicht bezeugt seine Offenheit auch für ungewohnte derbe Klänge, die für jeden Liebhaber der gemütvollen, der feinfühligen Natur- oder Bekenntnisgedichte von Joh. verstörend, ja provokativ klingen müssen. Er ist offen auch für Derbes, wenn es zum Gedicht geworden ist. Er legt den Poeten nicht fest, freut sich vielmehr an den ungewohnten Themen und Tönen. In seinem Brief vom 18. Februar 1997 schreibt er:

Die Gasthausgedichte… sind ein schöpferisches Wunder und authentische Aufzeichnungen aus einer Welt, die kaum noch einen finden wird, der sie so ins Bild setzt und verewigt. Das Buch ergreift mich.

Und nach vielen aufschlussreichen Anmerkungen schließt er:

Ich drücke Johannes Kühn die Dichterhand und Ihnen, liebe Rechs, die Herausgeberhände!

Die häufigste Anrede in seinen Briefen heißt dann auch:

Liebe Freunde.

Reiner Kunze wendet keine Überredungstricks an, er setzt sein Renommee für den Freund ein. Das überzeugt Joh., festigt dessen Selbstvertrauen, nachdem er bis in die achtziger Jahre leichtfertige, meist ablehnende Urteile erfahren hatte.
Inzwischen ist er Hanser-Autor, er wurde in viele Sprachen übersetzt und in Literaturzeitschriften von Canada bis Japan gedruckt. Es gibt drei Bücher auf Spanisch (Übersetzer José Reina), das zweite Buch auf Französisch (Übersetzer Joel Vincent) wird im kommenden Jahr erscheinen, Jean-Pierre Lefebvre hat ihn mit seiner „Anthologie bilingue de la poésie allemande“ („De Dietmar von Aist à Johannes Kühn“) in die Pléiade gebracht. Ich Winkelgast ist inzwischen auf Japanisch in einer besonders schönen Ausgabe erschienen (Übersetzer Mitsuo Iiyoshi).
Reiner Kunzes Werben für die Gedichte mehrte deren Reputation, verdienstvoller noch war seine Ermutigung für die Person. Sie stimulierte Joh. befreiter, selbstbewusster und freudiger zu dichten.

Benno Rech, aus Matthias Buth und Günter Kunert (Hrsg.): Dichter dulden keine Diktatoren neben sich, Verlag Ralf Liebe, 2013

 

VERLANGT VOM DICHTER NICHT

Verlangt vom dichter nicht,
was einzig das gedicht kann leisten

Verlangt vom dichter
das gedicht

Ist’s ohnegleichen
kann er das wasser ihm nicht reichen

Reiner Kunze

 

 

Auskünfte. Autoren im Dialog: Johannes Kühn (1974)

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Galerie Foto Gezett
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Johannes Kühn: Saarbrücker Zeitung ✝︎ WNDN ✝︎ SR ✝︎
Die Rheinpfalz ✝︎

 

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