B.K. Tragelehn: NÖSPL

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von B.K. Tragelehn: NÖSPL

Tragelehn-NÖSPL

UWE JOHNSON

Wenn er allein wäre, sagt er, würde er
Zwanzig Jahre lang nur zusehn.
Nicht auf der Seite seiner Prognosen, sondern
Neugierig. Mehr, sagt er, sei nicht übrig.
Sagt Warten dazu, sagt er.
Er weiß, das ist kein Leben. Und er weiß
Es gibt noch Wirklichkeit.

Ein Elefant, wird er nichts vergessen.

 

 

 

Zur Edition 

Die Gedichtsammlung erschien zuerst 1982 im Verlag Stroemfeld/Roter Stern in Frankfurt am Main. Eine zweite Auflage, die die Sammlung bis 1993 fortgesetzt hat, erschien 1996. Diese neue Ausgabe ist sozusagen die dritte Auflage. Sie folgt weitgehend der ersten. Die Fortsetzung der Sammlung ist einem zweiten Band mit dem Titel Das andere Ende vorbehalten, der die Gedichte aus den folgenden fünfundzwanzig Jahren, 1982–2007 enthält.
Dass diese dritte Auflage in einem anderen Verlag erscheinen muss, hat den Grund, dass der Verlag Stroemfeld/Roter Stern 2019 in Konkurs ging. Zur gleichen Zeit erhielt der Verleger K.D. Wolff 2019 einen Preis für sein Lebenswerk. Eine Konstellation, die auf den Grund deutscher Kulturpolitik sehen lässt.
Die neue Ausgabe reproduziert die erste auch in ihrer Ordnung. Zwar sind von T. einige Gedichte wiedergefunden und eingefügt, einige sind auch von ihm geändert worden, aber wie in der ersten sind alle datiert und stehen in chronologischer Folge, die ihre Einbettung in den Gang der Geschichte, den allgemeinen und den persönlichen, deutlich macht Die Bilder der Erstausgabe, Photographien aus der DDR, sind fortgelassen. Einzige Abbildung ist das Frontispiz, Porträt des Autors von 1960, eine Bronze des Seitz-Schülers K.H. Schamal. Die Anmerkungen, die dem Leser der BRD Umstände und Begriffe der DDR vermittelten, sind übernommen und ergänzt worden. Zu der immer noch vorhandenen Ost-West-Schwelle kommt heute der Abstand von wenigstens drei Jahrzehnten. Über die Vorgeschichte der Erstausgabe, deutsch-deutsch, spricht der Aufsatz „Einen Umbogen machen“, der im Anhang abgedruckt ist. T. schrieb ihn für Renatus Deckerts Anthologie Das erste Buch, die 2007 als Suhrkamp-TB 2864 erschienen ist.

Nachwort

Einen Umbogen machen

Mein allererstes Buch (oder Büchlein, oder eher Heft) kam in der DDR nicht zustande: ein Poesiealbum, geplant noch unter der Herausgeber-Ägide von Bernd Jentzsch (vor seinem Wegbleiben nach der Biermann-Ausbürgerung), und weiterverfolgt unter der von Richard Pietraß. Das war eine sehr wünschbare Art von Publikation. Die Hefte sahen schön aus, kosteten nur 90 Pfg. und waren auch am Zeitungskiosk zu erwerben. Jentzsch hatte mit Geschick allerlei durchsetzen können, und Pietraß versuchte das fortzusetzen. Aber es wurde nichts draus. Kein Argument und kein Kompromissvorschlag konnten das Heft mit meinen Gedichten retten. Dabei war schon vorsichtig ausgewählt worden!
Der Cheflektor hieß Leberwanz. D.h. er hieß Lewerenz, und ich nannte ihn Leberwanz. Der Verlagsleiter hieß Qualleck. D.h. er hieß Chowanetz, und ich nannte ihn Qualleck. Nach dem Umbruch (erst dann – oder: noch dann) wurde von ihnen die Herstellung des Heftes gestoppt. Im Börsenblatt des Buchhandels (das auch in der DDR so hieß) ließ der Verlag Neues Leben eine Anzeige drucken, dass der Autor des Poesiealbums soundsoviel nicht B.K. Tragelehn, sondern Ludwig Uhland heißt.
Ich habe mich über das Neue Leben beschwert. Herr Höpke, der Bücherminister, lud mich zum Gespräch, und ließ meine Gedichte nach Leipzig weiterreichen, zum Reclam Verlag. Der war unter der Ägide von Hans Marquardt immer wieder zuständig für Problemfälle. Und tatsächlich haben Marquardt und seine geschickt ausgewählten Mitarbeiter allerhand Unmögliches möglich gemacht. Aber nun schlug, vor jeder weiteren denkbaren Komplikation, der deutsche demokratische Alltag zu: der jährliche Planungstermin war verstrichen, und eine Aufnahme in den Plan im nächsten Jahr hätte eine Publikation erst im übernächsten möglich gemacht. Ich saß aber schon in Frankfurt am Main im Theater, weil die Theater der DDR mir keine Arbeit mehr geben wolltensollten. Und ich hatte die Schnauze voll. Auch in Zeitschriften oder Anthologien war von mir so gut wie nichts erschienen. Den besonderen Stein des Anstoßes, die Klettwitzer Elegien (noch in den sechziger Jahren geschrieben, nachdem ich wegen der Uraufführung von Heiner Müllers Komödie Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande ein halbes Jahr in einem Braunkohlentagebau in der Lausitz arbeiten musste, eine übliche Erziehungsmaßnahme) hatte Bernd Jentzsch schon drucken lassen. Der gab inzwischen eine Literaturzeitschrift heraus. In Stuttgart.
Ein erstes Buch rückte in Frankfurt in Reichweite: ich lernte K.D. Wolff kennen. Die Television hatte ihn mir schon gezeigt: ich sah ihn, rittlings auf einer Mauerkrone sitzend, eine Träte in der Hand, durch die er Losungen schmetterte, vor der amerikanischen Botschaft in Sofia, während der Weltjugendfestspiele, bei einer verbotenen Demonstration gegen den Vietnamkrieg. In einem resozistischen Land wurde nicht demonstriert, wenn man wollte, sondern nur wenn man sollte. Aber Wolff und seine Genossen hielten sich nicht dran. Das war schon ein paar Jahre her. Doch Wolff blieb Wolff. Er hatte inzwischen den Verlag Roter Stern gegründet, der mit Wahnsinnsunternehmungen wie der Herausgabe der faksimilierten Handschriften Hölderlins begann.
Nun lief es also hinaus auf ein Buch mit allen Gedichten aus fünfundzwanzig Jahren, eine erste Sammlung. Als Titel wählte ich ein Wort, das für Bundesbürger ausländisch klang. (Das Land jenseits der Elbe, aus dem ich kam, war für ihre übergroße Mehrheit eine ferne Steppe. Unvergesslich die Frage junger Leute in Stuttgart, als ich nach meiner ersten Inszenierung im Westen nach Hause fuhr in die DDR: Und wann bist du wieder in Deutschland? Es waren Studenten, durchaus nicht ungebildet, und sie fragten ganz ohne Polemik, unschuldig.) Der Titel lautete: Nöspl. Das Wort erwies sich als geeignet für Gesellschaftsspiele. Ein Mädchen in Frankfurt am Main riet eine Automarke, ein Wiener Philosoph den Namen eines Dorfes in Westfalen, eine Schauspielerin in Westfalen einen Wassergott. Die Lösung: Nöspl war die Abkürzung für Neues ökonomisches System der Planung und Leitung in der DDR, eine Reformkonzeption noch unter Walter Ulbricht, in Angriff genommen von Erich Apel, der sich 1965 erschoss. Da wurde noch gefragt: Vormittag oder Nachmittag? Aber Günther Mittag war es, der sie im Auftrag Honeckers, abgewickelt hat. Helmut Heißenbüttel, der das Buch für die Süddeutsche Zeitung besprach, definierte Nöspl als ein Dada-Wort.
Auf diese Rezension stieß ich ganz zufällig in der Luft. Ich hatte in Zürich über die Leitung des Theaters am Neumarkt verhandelt, vergeblich, und flog nach Hause. Im Flugzeug las ich die Süddeutsche. Und kurz vorm Landeanflug auf Berlin war ich beim Feuilleton angelangt. Ich habe mich über Heißenbüttels Aufsatz sehr gefreut. Es tut mir heute noch leid, dass ich ihm nicht gleich geschrieben habe. Ich hätte ihn gern kennengelernt. Aber irgendwie hatte das Theater mich damals mit Beschlag belegt – und im Theater kommt man zu nichts anderem als zu Theater. Die Literatur musste nebenherlaufen.
Vorsichtig war die Sammlung nicht. Heiner Müller erschrak, und sagte, dass er wiedermal das Gefühl hätte, mich beschützen zu müssen. Es ist wahr, wegen der Gedichte über die Grenze wäre ich rechtsförmig zu belangen gewesen. Aber was solls! Wenn sie wollten konnten sie das immer, die einschlägigen Paragraphen waren aus Gummi. Ich habe Glück gehabt. Wahrscheinlich wollten sie kein Aufsehen. Von den Exemplaren, die ich an Freunde in der DDR verschickt habe (nicht etwa aus dem Westen, sondern von einem ostberliner Postamt), ist kein einziges beim Empfänger angekommen.
Immer wieder ist es nicht zu umgehen, um irgendwo, wo immer, anzukommen, einen Umbogen zu machen. So heißt der Umweg im Sächsischen, in dem ich aufgewachsen bin.

B.K. Tragelehn, Nachwort

 

NÖSPL

ist der erste von insgesamt drei Lvrikbänden mit Gedichten und Gedicht-Übersetzungen von B.K. Tragelehn, die einzeln oder zusammen im Schuber bei Vorwerk 8 erhältlich sind. 1936 in Dresden geboren und aufgewachsen, lebt Tragelehn seit 1955 in Berlin. Vierzig Jahre, von 1957 bis 1997, hat er an vielen deutschen Theatern [erst in der DDR und seit 1987, nach mehreren Berufsverboten, auch in der BRD] inszeniert, oft Stücke von Shakespeare und anderen Autoren seiner Zeit, die er selbst übersetzt hat, Stücke von Molière, die er gemeinsam mit U. Ludvik übersetzt hat, sowie Stücke von Heiner Müller, dessen Freund, und von Brecht, dessen Schüler er war. So sind viele Gedichte mit der Theaterarbeit verbunden, z.B. Schauspielern gewidmet.
Die Sammlung der Gedichte von 1956–1981 dieses Bandes konnte erst 1982 in Frankfurt am Main erscheinen. In der DDR war fast nichts gedruckt worden. Der zweite Band Das andere Ende / Neue Xenien sammelt die noch nicht erschienenen Gedichte von 1982–2007 und Epigramme von 1959–1999. Der dritte Band Doppelgänger sammelt alle Übersetzungen: von antiken Dichtern wie Ovid über Giordano Bruno bis zu Adam Mickievicz [nach Interlinearversionen] und zu Dichtern des 20. Jahrhunderts wie W.H. Auden und W.C. Williams.
Das Ganze bildet eine persönliche poetische Chronik der Geschichte des 20. Jahrhunderts in seiner zweiten Hälfte. Der Herausgeber Gerhard Ahrens hilft mit Anmerkungen über die Schwellen von Ost und West und von Zeitabständen hinweg.

Vorwerk 8, Klappentext, 2021

 

 

Fixierte Erfahrungsspur 

Gedichte von B.K. Tragelehn: Schon auf dem Titelblatt findet sich die Spanne ihrer Entstehungszeit bezeichnet; von vornherein wird das Chronikhafte des Bandes betont. Dem entspricht, daß die Gedichte durchweg datiert sind; und wer sie gemäß ihrer Anordnung nacheinander liest, folgt einer in ihnen sich dokumentierenden Schreibgeschichte, deren biographischer Bezug stets auch einem politischen korrespondiert. Im übrigen verweist auf dieses Chronikhafte der sehr umfangreich gestaltete Anmerkungsapparat. Nicht nur informiert er über literarische und außerliterarische Anspielungen, die den Gedichten innewohnen, und nicht nur erhellt er, wo das der Fall ist, deren Palimpsestcharakter, sondern er gibt auch Auskunft über geschichtlich politische Kontexte und ihnen korrelierende Entstehungsanlässe. NÖSPL? Das Kürzelwort, zugleich als Titelwort für den Band insgesamt gewählt, steht in einem Sechszeiler des Jahres 1968; die einschlägige Anmerkung entschlüsselt es, und darüber hinaus erinnert sie auch an jenes politisch-ökonomische Kapitel der DDR-Geschichte, das mit ihm sich verband: 

NÖSPL heißt Neues ökonomisches System der Planung und Leitung: Name des ökonomischen Reformprogramms, noch zu Ulbrichts Zeit, das von Erich Apel (der sich 1965 erschoß) initiiert war und von seinem Mitarbeiter und Nachfolger Günter Mittag liquidiert wurde.

Tragelehn, Jahrgang 1936, ist gebürtiger Dresdener. Als Meisterschüler an der Berliner Akademie-Sektion Darstellende Kunst lernte er bei Brecht und Erich Engel; in Berlin auch seine ersten Inszenierungen; diejenige von Heiner Müllers Umsiedlerin (Karlshorster Studentenbühne; 1961) zog ein Autodafé nach sich, das für ihn auf Verbannung ins Niederlausitzer Braunkohlenrevier hinauslief. Fortan der mehrfache Wechsel zwischen dann doch wieder möglicher Theaterarbeit und Zeiten von neuerlicher Zwangspausierung, die letzte nach 1976. Und was schließlich nur blieb, war Emigration – in den achtziger Jahren arbeitete er an Bühnen der Bundesrepublik. Nach Berlin aber ging er zurück, als die Mauer noch kaum geöffnet war; zum Vereinigungsdatum inszenierte er Müllers Germania Tod in Berlin an der Freien Volksbühne; Jahre später, nach Müllers Tod, war er es, der auf der Generalversammlung des Ost-P.E.N. Worte des Gedenkens sprach. Im Text der Passus: 

Das Fixieren der Erfahrungsspur ist überlebenswichtig, jetzt, wo die neuesten Sieger der Geschichte ihr Urteil sprechen: Es soll nicht gewesen sein.

Eine NÖSPL-Gedichtsammlung hatte Tragelehn (im Westen) bereits 1982 vorgelegt, die jetzt unterbreitete fußt auf ihr; und wenn es schon damals, den Band als chronikhaften zu disponieren, einen ernstlichen Grund für ihn gab, so nun, in Hinsicht auf den neuen, erst recht. Es soll nicht gewesen sein? Tragelehn, der Müllers Stücke als „unser Gedächtnis“ apostrophiert, will seinerseits, und mit dem nötigen Trotz, Gedächtnisarbeit leisten.
Fragen ließe sich, ob Trotz nicht mit Starrsinn zu tun habe. Wer, in Beantwortung der Frage, schnellfertig ein Ja spricht, ignoriert freilich jenen regsamen Trotz, der gerade dadurch, daß er Starrheit vorwalten sieht, sich provoziert findet. Und solcher Trotz ist es, der sich bei Tragelehn geltend macht, ein Trotz, dem die Brechtschule zugute kam: zugute kommen konnte, weil der Schüler auf den Präzeptor nicht äffisch fixiert blieb. Die frühen Gedichte stehen noch ganz im Bann dieses Präzeptors; Bezug nehmen sie auf Chruschtschows Geheimrede vom Februar 1956; vorführend eine kritisch-nachdenkliche „Haltung“ und neigend zur spitzen Pointe, geben sie den Brechtschen Reflexionsgestus fast überdeutlich zu erkennen. Dann aber, in Gedichten des Fünfundzwanzigjährigen, der Verlust solcher Fassung. Sich wiederfindend im Elend, schrieb Tragelehn „Klettwitzer Elegien“; worauf sie sich richten, ist die zu bestehende existentielle Notsituation; sie frei von Larmoyanz zur Sprache zu bringen, wird ein grimmiges Spiel mit Segmenten überkommener großer Dichtung, mit Klassisch-Weltliterarischem betrieben. Der Antike entstammende Texte, Michelangelo, Luther, Goethe, Heine, Baudelaire: Der ins Braunkohlenloch Verwiesene reißt sich einen Makrohorizont auf; die Texte wühlen sich ins Loch geradezu hinein und sind doch zugleich Manifestationen einer großen Widerständigkeit.
Hinreichend ist bekannt, daß zu Beginn der sechziger Jahre sich etliche von Tragelehns schreibenden Generationsgefährten den weiten weltliterarischen Horizont ihrerseits entdeckten. Man hat, und zu Recht, die Vermittlungsrolle Georg Maurers hervorgehoben. Was aber namentlich (wenngleich nicht nur) durch ihn angeregt wurde, hatte vor allem mit einer Ästhetik des Widerstands zu tun. Der kleinmächtigen Stupidität gegenüber wurde ein Anspruch behauptet, der hartnäckig sich auf Menschheitliches bezog. „Sächsische Dichterschule“: Tragelehn, wie immer sein Curriculum vitae vor allem das eines Theatermannes war, läßt sich von ihr nicht wegdenken. Und auch bei ihm eine Ausformung des Liebesgedichts, das über Privates hinausdrängt. Ein denkwürdiger Text, aufs Jahr 1963 datiert, trägt den Titel „Die Nacht“; das Gedicht hat Verse von Properz, von Catull im Gedächtnis; die abschließende Versgruppe lenkt den Blick über das nächtliche Glück der Ich-Du-Begegnung hinaus: 

Nacht kurze lange Nacht
Am anderen Ufer
Erinnerung bleibt an die Zukunft
Morgen blanker Himmel kalter
Luft Strom der uns auflädt
Überm See gegen Mittag Dunst

Wenn Hoffnung, nachdem Theaterarbeit wieder möglich geworden war, im weiteren Verlauf der sechziger Jahre sich halbwegs, und trotzig, zu beleben vermochte, so schlug ihr dann freilich als eiskalter Wind entgegen, was im August 68 sich zutrug. Wiederum ließe sich der Gruppenbezug hervorheben: Die militärische Besetzung der Tschechoslowakei war ein politisch-geschichtlicher Vorgang, der von Tragelehns Generationsgefährten nicht wenigen zur fortwirkend stigmatisierenden Elementarerfahrung wurde. Tragelehns knapper Zyklus „Stillleben“ reflektiert den Vorgang, indem, auf bezeichnend verkargte Weise, Bitternis sich ausspricht. 

HALTE DEN KOPF FREI VON DEM WAS WAR
Und kommt
Besser bei Tag wie ein Sack im Sessel sitzen
Besser bei Nacht wie ein Stein im Bett liegen
Kommt Nahrung öffne den Mund
Kommt Schlaf schlafe

Gleichwohl: trotzige Wachheit, auch fürderhin. Sie bezeugt sich im bissig-lakonischen Kommentargedicht, in der pointierten Miniatur, in selbstironischen Bilanzversen. In einem Zyklus des Jahres 1972 werden „Haltungen L.s“ vorgeführt; das Interesse gilt Lenin, dem nach wie vor mythisch Überhöhten; „Die Niederlage“ heißt eines der Gedichte: 

Abkommandiert zur Erholung
Umstellt von Spitzeln
L ein Skelett im Rollstuhl
Mit der Hand die nicht schreibt
Mit der Zunge die nicht spricht
Mit Augen die sehen 

Vor den Fragen
Sterben die Antworten

Schneidender Sarkasmus sodann, der den Zyklus „L’automne prussien. Vier Ansichten“ (1973) kennzeichnet. Des weiteren etliche Seitentexte zu Stückinszenierungen. Zumeist handelt es sich um geraffte, scharf zuspitzende Lesarten der Stücke; zwei der Texte beziehen sich auf die seinerzeit arg befehdete, von Tragelehn selbst besorgte „Julie“-Inszenierung (1975); schließlich ein Dreizehnzeiler, der sich an Bessons Volksbühnen-„Hamlet“ entzündete. Auch hier („Hammelfett der Stenz von Dänemark…“) die grimmig-provokante Akzentuierung von Fatalität: 

Der Rest soll Schweigen sein Doch nein
Es bumsen die Kanonen Leichen hoch
Und Fortschrittsbrass marschiert

Dieses „Hamlet“-Gedicht entstand 1977: Er, Tragelehn, selbst sah sich inzwischen als Theatermann zur Untätigkeit verurteilt. Und notgedrungen jene „Ausreise“, die als lösend oder befreiend kaum wahrgenommen werden konnte. Es gibt in den fortan geschriebenen Gedichten kein Zeichen von Aufatmen. Auf den 30. März 1978 ist „Ein Abend in Deutschland“ datiert; der Ort des Liebesgedichts: Westberlin; die Verse berichten von einer Fahrt an die Havelgrenze, vom Aufenthalt unter der „Brücke der Einheit“, von der Rückfahrt: 

Meine Hand auf dem Fahrersitz zwei Finger in dir
Laster überholten uns du fuhrst fast Schritt
Eine Hand am Steuer in meiner Hose die andere Hand
Du überschwemmtest meine Hand ich salbte mich ein
Ich überschwemmte deine Hand du salbtest dich ein:
SO SIND WIR UNVERWUNDBAR. Aber auch auf
Unser Blatt wird ein Einäugiger schießen.

Immer wieder sucht das Beklemmende, beklemmend Absurde der existentiell erfahrenen Deutschland-Situation zu einer Sprache zu finden: „Printemps allemand“, „Berliner Elegie“, „Deutschland im Winter“, „Ausreisen 2“. Und immer wieder auch Gedichte, in denen vom verwarteten Leben, vom Leben in der Leere die Rede ist. Gustav Graf von Schlabrendorf wird erinnert („Der getreue Ekkart“): jener preußische, den Girondisten nahestehende Revolutionsfreund, dem die Rückkehr aus Paris verwehrt und der in der Fremde zu untätigem Ausharren bis zum Tod verurteilt geblieben war. Ebenfalls im Jahr 1981 entstand das Gedicht „Der Schlaf“, Walter Benjamins gedenkend und Marx zitierend: 

Wecken was Jahr und Tag in Schlaf gebannt
Wartet auf seine Zeit. Es irrt im Kreis die Uhr.
DIE WELT BESITZT LÄNGST DEN TRAUM EINER SACHE
VON DER SIE UM SIE WIRKLICH ZU BESITZEN NUR
DAS BEWUSSTSEIN BESITZEN MUSS. Ich erwache.
Es ist zu spät zu früh. Ich stehe an der Wand.

Und 1988: „Das Ende einer Hoffnung“, geschrieben am Silvestertag. Ins Bild kommt die „Wohnung“ im „modernden Haus“, an deren Gefängniswänden der Hoffnung Flügel sich zuschanden schlägt. Noch in der Rede indes vom Aufpflanzen der „schwarzen Fahne“ bleibt eine Spannung gegenwärtig. Der Text ist nicht frei von pathetischer Attitüde; der ihn spricht, veranstaltet seiner Hoffnung einen pompös-tragischen Bühnentod. Die ernstliche Bewandtnis solcher Veranstaltung gibt sich ebenso zu erkennen wie Differenzbewußtsein.
Genau ein Jahr später, das Datum ist der 31. Dezember 1989: „Schluß der Reise“. In acht Versen spricht, Baudelaire, dessen Gedicht „Le Voyage“ adaptierend, Aufbruchsemphase sich aus. Dithyrambische Töne: 

Neues zu finden, wollen wir das unbekannte Reich
Abtauchen bis zum Grund.
Ob Himmel oder Hölle ist uns gleich.

Kaum mehr dann aber als nur 100 Tage hernach jener Vierzeiler, dessen Titel mit bitterer Ironie auf Calderón Bezug nimmt: „Das Leben ein Traum“. „Gefangen in der Nacht gefangen“, so der konstatierende Eingangsvers; und Gedichte einer großen Trauer auch im folgenden. Im Grunde handeln sie alle vom Mühen, im Zeichen dieser Trauer Fassung zu gewinnen; die Verse lassen ein Ich hervortreten, das immer aufs neue versucht, sich selbst zu überreden: 

Laß es sein
Schäm dich nicht, leg dich nieder, altes Pferd.

(„Die Niederlage“; 31.12.1990) 

Das letzte der im Band versammelten Gedichte: „Einrichtung einer Idylle“ (1991). Es lautet: 

Zwei Stühle kaufen
Und sich dazwischen setzen
Schreiben in Einklang mit der Natur
Dem eigenen ruhiggestellten Arsch
Häßlicher Fleck in idealer Landschaft
Lorbeer wirft seinen Schatten voraus
Wenn Spitzel fragen
Mitteilen lassen Ich bin nicht da

Indessen: Ein derartiger, aus enttäuschter Hoffnung, aus Trauer geborener Sarkasmus kann zugleich nicht anders, als sich auch weiterhin der fatalen Tristesse vor sich gehender Gesellschaftswelt zuzuwenden: „Plan von Berlin“ (1990), „Deutschlandlied“ (1991). Der zornig-drastische Text des letzteren: 

Weil Frankfurt so groß ist
Teilt Vorsicht es ein
In Frankfurt an der Oder
Und Frankfurt am Main. 

Den Stall zu vergrößern
Die Mauern zu fällen
Marschieren die Kälber
Die Hunde die bellen. 

Das Oder an der Oder
Es war keins, ich weiß!
Das Entweder jubelt
Und ich sitz im Scheiß: 

Am Main gibts nichts Neues
An der Oder nichts Altes
Im Ganzen nichts Heißes
Und auch nichts Kaltes. 

Und still im Stall
Stehn Ochs und Kuh
Und hörn der großen
Stille zu 

Ohne Muh ohne Mäh
Ohne De De Rr-tätä.

Was aus Volks- und Kinderliedern montiert ist, weist gleichermaßen auch auf Brecht zurück, den im Kopf zu behalten sich Tragelehn stets angelegen sein ließ. Und scheinen will es gar, daß den Lehrer von einst die neueren Texte ganz besonders brauchen.
Als „Anhang“ findet sich im Band jenes Tragelehnsche Stückfragment, dessen Szenen Anfang der sechziger Jahre geschrieben wurden: Wäre der Text damals zum Abschluß gebracht worden, hätte er den Titel „Der Bau“ erhalten; Heiner Müller, diesen Titel vorschlagend, nutzte ihn schließlich für ein eigenes Stück. Der Erstdruck des Tragelehn-Fragments erfolgte 1994 in der ndl (Heft 3); ihn begleitete ein Essay von Friedrich Dieckmann. Dessen Urteil: Es handele sich um das „realitätshaltigste Stück“ der gesamten DDR-Dramatik; der Grundwiderspruch, in den der Monopolsozialismus gebannt war, sei exemplarisch gefaßt in ihm: der „zwischen Sinn und Form, zwischen Vernunft und Verordnung, zwischen Neuerertum und Bürokratie“. Und das Zeitstück von einst als Zeitstück „von heute“. Sehr vielen mag diese letztere Aussage als höchst komisch erscheinen. Schon manchem allerdings, der etwas komisch fand, blieb das Lachen schließlich im Halse stecken. 

Bernd Leistner, neue deutsche literatur, Heft 508, Juli/August 1996

Der Meistererbe

Es nervt, eine lebende Legende zu sein. Und doch war er der letzte Meisterschüler Brechts und der vertrauteste Regisseur Heiner Müllers. Seine Inszenierung der Umsiedlerin war so treffend, dass er sich in der Braunkohle bewähren musste. Sein erster Gedichtband im Poesiealbum wurde verboten und als er 1979 bei Reclam erscheinen sollte, da arbeitete der Autor schon im Westen, weil er es im Osten nicht mehr durfte.
Legenden taugen zum Bewundern, also nicht zum Leben. B.K. Tragelehn will gelesen, nicht bewundert sein. Obwohl oder gerade weil der Schüler längst selbst ein Meister ist. Ein Meister des Erbens, was das Gegenteil von Besitz bedeutet. Während die Brecht-Erben über den Wortlaut der Werke des Listenreichen wachten, gingen BKT und Müller daran, BBs Geist, seine Welthaltung produktiv zu machen. Auf der Bühne und im Gedicht.
Beides dreht sich um das lebendige, das gesprochene Wort, im Gegensatz zur erhabenen Kunstsprache der Klassik. Wie BKT am Wort arbeitet, das zeigt die dreibändige Sammlung seiner Gedichte.
Der erste Band beginnt 1956. Als er 1982 im Westen erschien, hielt man den Titel NÖSPL für ein Dada-Wort, einen Witz. Doch erinnerte er an das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung“: den Versuch der DDR, eine ideale Gesellschaft wie eine Maschine zu konstruieren.
Der zweite Band bringt die Gedichte von 1982–2007 nebst Neuen Xenien, die zum Goethe-Jahr 1999 erschienen:

Aufgemacht wurde das Tor für die Zukunft, Spalier stand die Menge
Närrischer Weise jedoch trat die Vergangenheit ein.

Und überraschend aktuell:

Absurditäten in Wirtschaft und Staat lang gewohnt aus dem Osten

Vom Resozismus zu lernen, heißt untergehen lernen.
Fragt mich nicht, was denn dann ist. Macht das, was ihr selber wollt.

Der dritte Band versammelt die Übersetzungen von Ovid bis W.H. Auden und W.C. Williams.
Schon im Äußeren ist Anti-Klassik Programm: statt Goldschnitt graue Pappbände, rau und roh wie Schotter. Auch das Druckbild schmucklos, die Anhänge (Anmerkungen, poetologische Notizen und ein Interview mit H.-D. Schütt) eng, blockhaft, eine Bleiwüste, die man nicht konsumieren kann. Man muss sie durcharbeiten, sich mit spitzem Stift aneignen, dann wird die Last zur Lust, das Erkennen zum Genuss.
Wie BB, „der belehrbare Lehrer“, es BKT gelehrt hat.

Jens-F. Dwars, Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 75, 2022

 

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