Christian Lehnerts Gedicht „(Der Sohn)“

CHRISTIAN LEHNERT

(Der Sohn)

Der warme Rücken des Vaters, den ich als Kind suchte,
der Waldrand, gestern schon
zwang mich die Dämmerung, zeitig umzukehren.
Ich bewege mich in zusammenhangslosen Sätzen,
deren Wörter
die Dinge heranholen wie Lawinengestein.
Stimmen kommen zurück aus dem Leben,
sie sind irregegangen:
was wollen sie jetzt noch von mir?
Ich spreche nichts mehr nach.
Ich sehe zu,
wie Schnee und Schlamm
über dem Gebirgskamm verschwimmen.
Es gibt keinen anderen Ausweg, als hier zu sein.

nach 2000

aus: Christian Lehnert: Ich werde sehen, schweigen, hören. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2005

 

Konnotation

Christian Lehnert (geb. 1969) ist ein religiöser, von theologischen und mystischen Motiven umgetriebener Dichter. Mitte der 90er Jahre fand er, inspiriert durch religionswissenschaftliche Studien, in den Landschaften der jüdischen und arabischen Welt seine Orte poetischer Verheißung. Angeregt durch den Besuch heiliger Stätten des Judentums und des Islam, etwa auf der Halbinsel Sinai, entstanden lyrische Zyklen, in denen das poetische Subjekt immer wieder Motive der Schöpfungsfrühe und der Geburt des Menschen imaginiert.
In Lehnerts drittem Gedichtband findet sich eine Reihe von Texten, die eine Annäherung an den Vater und an Urszenen der Kindheit erproben. In anrührender Weise wird hier ein Augenblick des Beschütztseins vergegenwärtigt: „Der warme Rücken des Vaters“ ist eine Erfahrung von Geborgenheit, die dem lyrischen Ich offenbar dauerhaft fehlt. Vor den Augen des Subjekts scheint alles in Vergänglichkeit zu zergehen. Aber am Ende wird ein Ruhepunkt beschworen – die feste Gewissheit einer Präsenz im Dasein.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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