Christoph Meckels Gedicht „Nacht“

CHRISTOPH MECKEL

Nacht

Nacht, als ich getragen wurde
durch Häuser und Gärten.

Wer trug mich. Der Fährmann Christophorus
trug seine Bürde
in tausend Jahren durchs Wasser.
Mein Vater trug ein Gewehr,
meine Mutter trug Ringe und Perlen.

Aber wer trug mich. Kein Fuhrwerk,
keine Bahre, kein Flughund, kein Engel.

Aber was trug mich.

nach 2000

aus: Christoph Meckel: Seele des Messers. Carl Hanser Verlag, München 2006

 

Konnotation

In der Nacht, wenn wir für kurze oder längere Zeit in den Schlaf versinken, lockern sich unsere vertrauten Weltverankerungen, und auch unsere Fundamente bröckeln – wir werden haltlos. Christoph Meckel (geb. 1935), dessen Gedichte oft die Bereiche zwischen nächtlicher Phantasmagorie und hellsichtiger Alltags-Wahrnehmung vermessen, hält in seiner Erkundung der „Nacht“ einen Augenblick der elementaren Unsicherheit fest: Wo findet sein lyrisches Ich festen Halt, wer ist die tragende Instanz?
Mythos, Traumbild, Erinnerungsblitz und existenzphilosophische Meditation fliegen hier zusammen. Die Legendengestalt des heiligen Christopherus und die historisch mit der literarischen Affirmation des Nationalsozialismus verbundene Figur des eigenen Vaters stellt Meckel in einem kühnen Akt der Überblendung nebeneinander. Auf die dringliche Frage des lyrischen Ich, wer denn der beschützende „Träger“ des eigenen Lebens sein könnte, gibt es nur negative Antworten. Das ist Poesie – die intensive Frage nach dem Grund der eigenen Existenz stellen und sie nicht depotenzieren mit vermeintlich erlösenden Antworten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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