Christoph Meckels Gedicht „Uferstraße“

CHRISTOPH MECKEL

Uferstraße

Jeden Morgen, seit wir am Ufer wohnen
treten wir aus den Häusern und warten auf Zeit.
Hin und wieder legt an ein Schiff
und verladen werden ein paar neue Jahre
an unser Ufer; während wir warten
fragen wir uns, ob sie ausreichen werden, und wie wir
sie aufteilen unter uns und wieviel wir
an unsre Geliebten verschenken, wieviel wir
im Panzerschrank verschließen, wieviel unsre Kinder
verlangen, verbrauchen werden – und wann ein Schiff
zurückkehrt mit neuen Frachten an Zeiten, Jahren
und wann es ausbleibt für immer.

1974

aus: Christoph Meckel: Ungefähr ohne Tod im Schatten der Bäume. Ausgewählte Gedichte. Hrsg. von Lutz Seiler. Carl Hanser Verlag, München 2003

 

Konnotation

Der 1935 geborene Dichter Christoph Meckel ist ein Phantastiker mit einer großen Empfindlichkeit für die Wunder, die auch noch in unserer entzauberten Welt der Moderne zu entdecken sind. In seinen Gedichten wird der Herrschaftsanspruch der zweckrationalen Alltagsvernunft entschieden in Frage gestellt – hier lockern sich die vertrauten Weltverankerungen und alles gerät in eine surreale Schwebe.
Die Zeit erscheint in Meckels 1974 erstmals veröffentlichtem Gedicht als eine knappe Ressource, die nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung steht und deshalb importiert werden muss. Die Verteilung der Lebenszeit an ein im Text unbestimmt bleibendes Kollektiv ist zur Grundfrage des Daseins geworden. Die Zeit steht auch stets unter dem Signum der Vergänglichkeit; sie darf daher in einer Epoche der globalisierten Beschleunigungen als das letzte verbliebene Luxusgut gelten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00