Claire Golls Gedicht „Verwünschung“

CLAIRE GOLL

Verwünschung

Verräter,
Wie ich dich hasse und liebe zugleich.
Wie ich dir den Tod wünsche
Und tausend ewige Leben
Und ganz Paris mit all seinen Frauen
Bis auf die Eine
Und ein Kerkerloch
In dem dein Gebein herumliegt,
Kegelspiel für Ratten.
Daß ich dich entfernen könnte von dieser Erde,
Eine Wolke stehlen
Dir zur Himmelfahrt
Und möchte doch, daß du niemals stirbst.
Möchte für dich bis ans Ende der Welt
Barfuß über Steine gehen,
Möchte schießen in dein Herz,
Mitten in dein Herz.

um 1930

aus: Claire Goll: „Ich liege in deinen Träumen“. Liebesgedichte. Hrsg. von Barbara Clauert-Hesse. WallsteinVerlag, Göttingen 2009

 

Konnotation

Ein oft unerkannter, heimtückischer Begleiter der Liebe, der in affektiv aufgeladenen Situationen seine Macht zeigt, ist der Hass. Der Hass auf den Liebesverräter, der sich abwendet und sein Begehren auf einen anderen Menschen verlagert – er wird gespeist von heftiger Eifersucht, die sich bis zum Vernichtungswunsch steigern kann. Einen besonders drastischen Fall von eifersüchtiger Hass-Liebe illustriert das in den 1930er Jahren entstandene Gedicht der Poetin Claire Goll (1890–1977).
Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Expressionisten Yvan Goll (1891–1950), hatte sich Claire Goll eine offene Ehe unter Abwendung von der Monogamie verordnet. Die Autorin selbst gestattete sich zahlreiche Parallelbeziehungen, geriet aber außer sich vor Wut, als sich seinerseits der wankelmütige Yvan in andere Frauen verliebte. So entstand die „Verwünschung“ als das Dokument einer Liebes-Passion, in der sich das seelisch verwundete Ich durch die Paradoxien der Hass-Liebe hindurcharbeitet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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