Friederike Mayröckers Gedicht „weiszhäutiger Sprechgesang, oder Szene Matisse“

FRIEDERKE MAYRÖCKER

weiszhäutiger Sprechgesang, oder Szene Matisse
Für Ernst Jandl

ich öffne die Tür ein heller Fleck im Winkel: mächtiger
heller Fleck. Angestrahlt von mehreren Lampen, weites
Schwanengefieder –
hockend im weiszen Hemd am Ende des Bettes.
Ich öffne die Zimmertür im grellen Licht ein weiszer
blendender Fleck
groszes Schwanengefieder. Über Briefblätter gebeugt
oder Rechnungen, ohne Bewegung im weiszen offenen
Hemd
am Fuszende des Bettes. Dann sein kurzer Aufblick und
Grusz
zur geöffneten Tür wo ich stehe, meine Hand umklammert
die Klinke. Im Hintergrund
auf dem Kamin die SCHLACHTHAUSBLUME:
verfärbte
Lippenwülste einer welkenden Amaryllis

1995

aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007

 

Konnotation

Eine blendend helle Erscheinung, ein Engel im Schwanengefieder: In der poetischen Momentaufnahme der Dichterin Friederike Mayröcker (geb. 1924) erscheint der inständig Geliebte, der ihr als „Ohrenbeichtvater“ und inspirierender Weggefährte stets zugetane Ernst Jandl (1925–2000), als fast überirdische Gestalt. Ausgangspunkt des 1995 entstandenen Gedichts mag nur ein kurzer Besuch im Krankenhaus gewesen sein. Das Notat über eine alltägliche Begegnung verwandelt sich in die hagiografische Verklärung einer Lichtgestalt.
Im Hintergrund dieser Szene, in der das blendende Weiß alles überstrahlt, lauert eine Bedrohung, die sich in dem nicht zufällig in Versalien gefassten Namen „Schlachthausblume“ manifestiert: Die auratische Gestalt „am Fuszende des Bettes“ ist umgeben von Zeichen des Verfalls und des Todes. Im Alterswerk: der Friederike Mayröcker finden wir neben solchen berührenden Liebespoemen auch ergreifende Naturgedichte, die eine Demut gegenüber den Dingen der Welt kultivieren, die vollständig in einer berührenden lyrischen Zartheit aufgegangen ist.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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