Friedrich Christian Delius’ Gedicht „Abschied von Willy“

FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS

Abschied von Willy

Brandt: es ist aus. Wir machen nicht mehr mit.
Viel Wut im Bauch. Die Besserwisser grinsen.
Der letzte Zipfel Hoffnung ging verschütt.

Für uns ist längst krepiert, was Sieben Schwaben
wie euch noch gut scheint, euch zu kopulieren.
Den Spieß herum, es gilt zu formulieren:
Wer Notstand macht, der will den Notstand haben.

Wer jetzt nicht zweifelt, zweifelt niemals mehr.
Was jetzt versaut ist, wird es lange bleiben.
Von Feigheit, Dummheit lässt sich nichts mehr schreiben,
Kein Witz kommt auf. Verzweiflung nur und Spott, die treiben

Uns zurück, wohin ich gar nicht will
Verflixt noch mal, ich stecke im Idyll.

1966

aus: F.C. Delius: Selbstporträt mit Luftbrücke. Ausgewählte Gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992

 

Konnotation

Friedrich Christian Delius, 1943 in Rom geboren, war gerade mal 23 Jahre alt und kürzte seine beiden Vornamen noch mit F.C. ab, als er gemeinsam mit seinen kulturrevolutionären Freunden beschloss, den bundesrepublikanischen CDU-Staat aus den Angeln zu heben. 1966 schrieb er das Gedicht zur Geburtsstunde der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) – eine schroffe Absage an die Große Koalition und an den damaligen Hoffnungsträger der SPD, den späteren Bundeskanzler Willy Brandt.
Es ist eins der ästhetisch gelungensten Beispiele aus der Zeit der lyrischen Politisierung. Rainer Maria Rilkes berühmtes Sonett „Herbsttag“ wird zu agitatorischen Zwecken umfunktioniert. Delius hält die formale Spannung aufrecht, indem er die metrische Struktur in Rilkes Gedicht übernimmt und nur leicht variiert. Die christliche Demutsgeste bei Rilke ersetzt der Autor aber durch die selbstbewusste Anrufung eines politischen Kollektivs. Am Ende bezichtigt sich das lyrische Ich gar der Idyllisierung. Der Grund: Das Schreiben von Gedichten stand damals unter Ideologieverdacht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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