Friedrich Rückerts Gedicht „Ich bin müde, sterbensmüde;…“

FRIEDRICH RÜCKERT

Ich bin müde, sterbensmüde;
Ich bin müde, lebensmüde;
Dieses Bangens und Verlangens,
Dieses Hoffens, Bebens müde;
Dieses zwischen Erd und Himmel
Auf- und Niederschwebens müde;
Dieses spinnengleichen Wesens
Hirngespinste-Webens müd
Müde dieser Torenweisheit
Stolzen Überhebens müde.
Auf, o Geist, in diesen Fesseln
Ring dich nicht vergebens müde!
Schwing dich auf zu deinem Äther,
Des am Staube Klebens müde.

1865

 

Konnotation

Im Juli 1819 beschrieb der polyglotte Universalgelehrte, Dichter und Übersetzer Friedrich Rückert (1788–1866) in einem Brief an seinen Verleger J.F. Cotta (1764–1832) seine Auseinandersetzung mit der orientalischen Gedichtform des Ghasels: „… persica nämlich, nicht Übersetzungen zu nennen und auch nicht Nachbildungen, in seiner Weise ein Gegenstück zu Goethes Diwan… bei diesem der Geist die Hauptsache, bei meinem die Form…“
Dem Ghasel, einer Folge von zweizeiligen Strophen, deren zweiter Vers immer wieder den in der ersten Strophe angewandten Reim wiederholt, ist Rückert sein Leben lang treu geblieben. 1865, ein Jahr vor seinem Tod, greift er noch einmal auf diese Form zurück, um litaneiartig das Schwinden seiner Lebenskräfte zu beschwören. Bereits 1848 hatte sich Rückert, angewidert von der Politik und dem Kulturbetrieb, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Dieses ergreifende Ghasel fand man in seinem Nachlass.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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