Friedrich Rückerts Gedicht „Volkslied“

FRIEDRICH RÜCKERT

Volkslied

Ich hört ein Sichlein rauschen,
Wohl rauschen durch das Korn;
Ich hört’ ein Mägdlein klagen,
Sie hab’ ihr Lieb verlor’n.

Die Sichel hat geschnitten
Den trocknen Halm entzwei:
Er hat es schnell erlitten,
Und nun ist es vorbei.

Es ist mir in Gedanken,
Als wenn der Schnitter Tod
Mit seiner Sichel, der blanken,
Wollt’ enden meine Not.

nach 1815

 

Konnotation

In seiner stupenden Fähigkeit zur Adaptierung alter Volksliedkulturen hat der polyglotte Philologe, Privatgelehrte und Dichter Friedrich Rückert (1788–1866) sich reichlich aus romantischen Quellen bedient. In seinem „Volkslied“ hat er gleich zwei berühmte Vorläufer-Gedichte geplündert. Da ist zum einen das berührende Lied „Lass rauschen, lieb, lass rauschen“, das als Text eines „unbekannten Dichters“ in der Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808) dokumentiert ist, aber aus der Feder von Clemens Brentano (1778–1842) stammt.
Brentano hatte eine Klage über die Vergänglichkeit der Liebe geschrieben. Rücken radikalisiert den elegischen Ton des Gedichts und deutet das Bild der schneidenden Sichel im Sinne des „Schnitter Tod“-Motivs, Dieses Motiv ist einem Volkslied des 17. Jahrhunderts entnommen, das ebenfalls als „Erndtelied. Katholisches Kirchenlied“ in Des Knaben Wunderhorn enthalten ist.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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