Gabriele Wohmanns Gedicht „Gestern“

GABRIELE WOHMANN

Gestern

Gestern
Kam keiner
Keiner rief
Mich hat keiner erwartet
An einer Böschung saß ich mit keinem
Fuhr weiter zu keinem
Keinem zulieb
Am Meer auch keiner
Kein Wort gesagt
Hat jemand.

1974

aus: Gabriele Wohmann: Ich weiß das auch nicht besser, Eremitenpresse, Düsseldorf 1974

 

Konnotation

In mehr als 75 Büchern hat die Erzählerin und Gelegenheitsdichterin Gabriele Wohmann (geb. 1932) die Untiefen und Dämonien des modernen Alltagslebens mit all seinen Geschlechterkämpfen und profanen Tragödien ausgelotet. Ehegeschichten mit einer klaren Tendenz zum Scheitern oder Lebensläufe auf abschüssiger Bahn gehören zu den bevorzugten Themen dieser Autorin. In ihren weit ausschwingenden Erzählgedichten des Bandes ich weiß das auch nicht besser (1974) bilanziert sie solche Biografien des beschädigten Lebens, die von unerfüllten Hoffnungen zur „nächsten kleinen Herzrhythmusstörung“ führen.
Die poetische Inventur des Daseins endet mit einem klaren Ergebnis: das Leben lebt nicht; die Einsamkeit des Ich ist unumkehrbar, ein Du, an das man ein Lebenszeichen Bertolt Brechts lyrisches Alter Ego hatte in ähnlicher Situation im „Radwechsel“-Gedicht (vgl. Lyrikkalender vom 5.4.2007) wenigstens noch einen Fahrer, mit dem er vom „Straßenhang“ aus hätte sprechen können. Gabriele Wohmanns einsamer Heldin bleibt nur das Selbstgespräch.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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