Georg Weerths Gedicht „Die hundert Bergleute“

GEORG WEERTH

Die hundert Bergleute

Die hundert Bergleute von Haswell,
Die starben an einem Tag!
Die starben zu einer Stunde!
Die starben auf einen Schlag!

Und als sie still begraben,
Da kamen wohl hundert Fraun,
Wohl hundert Fraun von Haswell,
Gar kläglich anzuschaun.

Sie kamen mit ihren Kindern,
Sie kamen mit Tochter und Sohn:
„Du reicher Herr von Haswell,
Nun gib uns unsern Lohn!“

Der reiche Herr von Haswell,
Der stand nicht lange an:
Er zahlte wohl den Wochenlohn
Für jeden verunglückten Mann.

Und als der Lohn bezahlet,
Da schloß er die Kiste zu.
Die eisernen Riegel klangen –
Die Weiber weinten dazu.

1844

 

Konnotation

Der gnadenlose, auf Profit um jeden Preis ausgerichtete Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts forderte unter den Arbeitern im Bergbau besonders viele Opfer. In der Kohlengrube von Haswell Collierey (Durham) entzündete sich am 28. September 1844 das Kohlenwasserstoffgas und tötete fast 100 Menschen. Als Korrespondent eines Woll-Unternehmens war der für die soziale Frage schon sensibilisierte Dichter Georg Weerth (1822–1856) 1843 nach England gekommen, wo er alsbald in den Liedern aus Lancashire das Elend der englischen Arbeiterklasse besang.
Die Volksliedstrophe und der lakonische Tonfall geben Weerths Klagegedicht eine zusätzliche Drastik. In grimmiger Direktheit benennt das Gedicht nicht nur den Verantwortlichen der Katastrophe, sondern kann am Beispiel des mitleidlosen Bergwerkdirektors auch das fehlende soziale Gewissen des Kapitalismus demonstrieren. Weerths Gedicht ist auch in einer bekannteren Version überliefert, in der die konkrete Bezeichnung „Bergleute“ durch das allgemeinere „Die Männer von Haswell“ ersetzt wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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