Gerhard Falkners Gedicht „Ausziehen bis zum Umfallen“

GERHARD FALKNER

Ausziehen bis zum Umfallen

Sie schläft und das ist alles. Sie liegt da
wie ein weißer Schal. Ihr Herz, das sieht jeder,
es kentert. Sie hat keinen Bruder,
der ihr sagt: deine Haut ist wie ein
schwebender Spiegel.
Es ist Mittag oder Samstag oder Juni.
An den großen, weiten Videovillen waren wir
vorbeigekommen, auf dem Weg hierher –
an den grünen Pavillons der Weltausstellung
mit ihren ausgefeilten Netzwerkumgebungen.
Ich hatte sie von der Straße
aufgelesen. Mitten in ihrem Gesicht, da blühte
ihre rote Mundblume. Am Ernst-Reuter-Platz
winkten wir uns ein Taxi und fuhren hierher.
Wir haben Mann und Frau gespielt
und uns anschließend wieder vertragen.
Jetzt liegt sie da, geschaukelt vom Schlaf
wie eine dunkle Zeile von Kafka.

Sie ist weiter nichts als schön und das ist alles.

2008

aus: Gerhard Falkner: Hölderlin Reparatur. Berlin Verlag, Berlin 2008

 

Konnotation

Die Lust an der Konfrontation des ästhetisch Gegensätzlichen, an der Entzauberung des Pathos durch Ironie bei gleichzeitiger Rettung des hohen Tons: Das sind die Strategien, die Gerhard Falkner (geb. 1951) schon in seinen frühen Gedichten eingesetzt hat und die seinen Poesien ihre Frische und Widerständigkeit gegeben haben. In dem ungeheuer vielstimmigen Band Hölderlin Reparatur (2008) operiert der Autor mit den unterschiedlichsten Redegesten und Evokationen. Erhabenes Sprechen trifft auf die coole Werbeformel, romantischer Gesang wird konterkariert durch nüchtern-technischen Gegen-Gesang.
Falkner spielt hier mit den Unrnittelbarkeitsgesten des alltäglichen Erlebnisgedichts und den Emphasen romantischer Liebeslyrik. Die großen Liebesmetaphern werden aber auch ironisch gebrochen durch die Vergegenwärtigung der digital erzeugten Simulationen, die das Bild der (Gefühls-)Landschaft prägen. Auf suggestiv romantisierende Zeilen folgen Ironisierungen („Wir haben Mann und Frau gespielt / und uns anschließend wieder vertragen“) – gerade durch die Mischung der Diskurse entsteht ein schönes Liebesgedicht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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