Gertrud Kolmars Gedicht „Trauerspiel“

GERTRUD KOLMAR

Trauerspiel

Der Tiger schreitet seine Tagesreise
Viel Meilen fort.
Zuweilen gegen Abend nimmt er Speise
Am fremden Ort.

Die Eisenstäbe: alles, was dahinter
Vergeht und säumt,
Ist Schrei und Stich und frostig fahler Winter
Und nur geträumt.

Er gleitet heim: und mußte längst verlernen,
Wie Heimat sprach.
Der Käfig stutzt und wittert sein Entfernen
Und hetzt ihm nach.

Er flackert heller aus dem blinden Schmerze,
Den er nicht nennt,
Nur eine goldne rußgestreifte Kerze,
Die glitzernd sich zu Tode brennt.

1938 

aus: Gertrud Kolmar: Gedichte. Ausgewählt von Ulla Hahn. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999

 

Konnotation

In einem großen apokalyptischen Zyklus ihres Gedichtbands Tierträume (1930) imaginiert die jüdische Lyrikerin Gertrud Kolmar (1894–1943) ein großes Tribunal der Tiere über den Menschen. Ausgangspunkt hierfür ist der alttestamentarische Spruch des Propheten Habakuk, nach dem die Tiere einst die an Menschen begangenen Untaten rächen werden. Die poetische Transfiguration gesellschaftlicher Konfliktverhältnisse in eine Tier-Symbolik vollzieht auch das 1938 entstandene Gedicht „Trauerspiel“.
Die Tagesreise, die der Tiger hier antritt, führt nicht ins Offene, erlöst nicht aus der Gefangenschaft im Käfig, sondern endet in einer Verlorenheit. Denn das Tier hat „verlernt“, was Heimat sein könnte. Dann setzt sich in einer surrealistischen Wendung der Käfig selbst in Bewegung und hetzt dem Tiger hinterher. Was bleibt, ist die Einkehr in den Schmerz – und in den drohenden Tod. Man kann in diesem Tier-Gedicht die Zeichen des nahenden Terrors erkennen. Gertrud Kolmar harrte während der Nazi-Zeit aus in Berlin; 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort am 2. März 1943 ermordet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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