Gottfried Benns Gedicht „Einsamer nie“

GOTTFRIED BENN

Einsamer nie

Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde – im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?

Die Seen hell, die Himmel weich,
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?

Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge – :
dienst du dem Gegenglück, dem Geist.

1936

aus: Gottfried Benn: Statische Gedichte. Arche Verlag, Hamburg 2006

 

Konnotation

Dieses Bekenntnis zum „Gegenglück“ des Geistes und der intellektuellen Kontemplation hat den „Medizyniker“ und Melancholiker Gottfried Benn (1886–1956) berühmt gemacht. Kurz bevor er dieses Gedicht im September 1936 an seinen Briefpartner F.W. Oelze sandte, hatte er in der vorangegangenen Epistel an Oelze die thematischen Spuren bereits gelegt: „Immer einsamer wird es, menschenleer. Wohin führen die Jahre, wohl nirgends hin.“
Das schöpferische Subjekt hat sich von den Zumutungen der Politik und der gesellschaftlichen Prozesse abgewandt – um sich in der Verschmelzung mit der Natur und Elementen dem ästhetischen Selbstgenuss hinzugeben. Wo das Soziale sich im Dialogischen und in der Kollektivität verwirklicht (Blickwechsel, Ringtausch), da beharrt der Dichter auf seinem exzentrischen „Gegenglück“. Das lyrische Genre für die existenzielle „Erfüllungsstunde“ ist die Elegie.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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