Günter Grass’ Gedicht „Prophetenkost“

GÜNTER GRASS

Prophetenkost

Als Heuschrecken unsere Stadt besetzten,
keine Milch mehr ins Haus kam, die Zeitung erstickte,
öffnete man die Kerker, gab die Propheten frei.
Nun zogen sie durch die Straßen, 3.800 Propheten.
Ungestraft durften sie reden, sich reichlich nähren
von jenem springenden, grauen Belag, den wir die Plage nannten.
Wer hätte es anders erwartet. –

Bald kam uns wieder die Milch, die Zeitung atmete auf,
Propheten füllten die Kerker.

1956

aus: Günter Grass: Werkausgabe in Einzelbänden. Band 1: Gedichte und Kurzprosa. Steidl Verlag, Göttingen 1998

 

Konnotation

Wo auch immer religiöse Propheten auftreten, da verheißen sie Gewaltverhältnisse, gegen die menschliches Handeln ohnmächtig ist – meist soll göttliche Intervention Abhilfe schaffen. In einem seiner frühesten Gedichte deutet der 1927 geborene Günter Grass biblische Motive in eine politische Parabel um. Die apokalyptische Erzählung des Propheten Joel berichtet etwa von fürchterlichen Verheerungen und Heuschreckenplagen im Land Juda und in Jerusalem. Grass übersetzt das in eine fatalistische politische Pointe.
Die moderne Heuschreckenplage ist durch keinen Propheten-Einsatz mehr aufzuhalten. Schlimmer noch: Die Propheten selbst ernähren sich von der Plage, die Gewaltverhältnisse sind nicht mehr zu beenden. Denn wenn sich auch der Lebensalltag in diesem Gedicht aus Grass’ Debütbuch Die Vorzüge der Windhühner (1956) am Ende wieder zu normalisieren scheint, so besteht doch die politische Repression fort: „Propheten füllten die Kerker.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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