Günter Kunerts Gedicht „Aus meinem Lesebuch“

GÜNTER KUNERT

Aus meinem Lesebuch

Worte sind schön. Worte sind häßlich.
Der Tod ist stumm, die Sünde läßlich.
Ach, Glaube, Liebe, Hoffnung, Wahn
sind permanent schon abgetan.
Pilatus hat es vorgesagt:
Die Wahrheit ist nicht mehr gefragt.
Man wisse nie, was sie denn sei –
und sprach damit die Lüge frei.
Die Worte gelten wie gehört:
Der lauscht beglückt und der verstört
dem einundselben leeren Satz.
Das Übrige ist für die Katz.

1997/98

aus: Jahrbuch der Lyrik 1998/99. Hrsg. v. Christoph Buchwald und Marcel Beyer. C.H. Beck Verlag, München 1999

 

Konnotation

Folgt man den Erzählungen des Neuen Testaments, war Pontius Pilatus, der legendäre Statthalter Roms in Judäa, der Verantwortliche im Hochverrats-Prozess gegen den historischen Jesus von Nazareth. Im Johannesevangelium ist eine skeptizistische Äußerung von Pilatus überliefert, die er formulierte, als ihn Jesus mit dem Thema „Wahrheit“ konfrontierte. Pilatus antwortete damals mit einer Frage: „Was ist Wahrheit?“ Der radikale Skeptiker Günter Kunert, Jahrgang 1929, verweist in seinem 1997/98 entstandenen Gedicht auf die Folgen dieser Pilatus-Äußerung.
In Kunerts pessimistischer Perspektive hat nicht nur die „Wahrheit“ ihre finale Bankrotterklärung längst hinter sich. Auch alle anderen utopischen Kategorien und ethischen Werte sind zerfallen. In schlicht gebauten Paarreimen konstatiert Kunert die Entleerung der Sprache und den geschichtlichen Triumphzug der Lüge. Was bleibt, ist Sarkasmus: „Das Übrige ist für die Katz.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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