Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „An einen Ratsuchenden“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

An einen Ratsuchenden

Aromatherapie, Eheberatung, Diät
oder Mensch ärgere dich nicht spielen,
an der Pforte des Trappistenklosters läuten
und ein neues Leben anfangen,
das ist auch keine Lösung.
Das Zweitstudium hast du hinter dir,
und in Tibet warst du auch schon einmal.
Einmal ist keinmal, glaubst du.
Nur zu, alter Esel! Uns aber
bleibst du bitte vom Leib
mit deinem Gewinsel.
Auf so einen wie dich
können wir nämlich verzichten.

1999

aus: Hans Magnus Enzensberger: Leichter als Luft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

Sich abfinden und auf Wasser sehn“: Die stoische Maxime des späten Gottfried Benn hat sich der 1929 geborene Hans Magnus Enzensberger für sein eigenes lyrisches Alterswerk ausgeborgt. Aus dem einstigen Vordenker der 68er Kulturrevolution ist ein ironischer Chronist des Unabänderlichen worden, dem es darauf ankommt, die Welt mit missionarischen Botschaften zu verschonen.
Für die Therapie-Gesellschaft, in der Rat- und Sinnsuchende aller Couleur nach Identität und Selbstverwirklichung fahnden, hat Enzensberger nur Spott übrig. So auch in diesem Appell „An einen Ratsuchenden“, der den „Moralischen Gedichten“ seines Gedichtbandes Leichter als Luft (1999) entnommen ist. Ob es sich nun um heilige oder um profane Erlöser handelt – der skeptische Dichter hält sie für entbehrlich. Daraus erklärt sich die schroffe Absage an alle Heilsbotschaften und Weltverbesserungsprogramme.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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