Hans Sahls Gedicht „Die Letzten“

HANS SAHL

Die Letzten

Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Wir tragen den Zettelkasten
mit den Steckbriefen unserer Freunde
wie einen Bauchladen vor uns her.
Forschungsinstitute bewerben sich
um Wäscherechnungen Verschollener,
Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie
wie Reliquien unter Glas auf.
Wir, die wir unsre Zeit vertrödelten,
aus begreiflichen Gründen,
sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden.
Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz.
Unser bester Kunde ist das
schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch.
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.

um 1990

aus: Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Das Exit im Exil. Luchterhand Literaturverlag, München 2008

 

Konnotation

Der Publizist und Gelegenheitsdichter Hans Sahl (1902–1993), der in einer großbürgerlichen jüdischen Familie aufwuchs, brillierte in den 1920er Jahren als Literatur- und Filmkritiker in Berlin. 1933 floh er vor den Nationalsozialisten über Prag und Zürich nach Paris, wo man ihn 1939 nach Kriegsausbruch internierte. Mit viel Glück entkam er aus dem okkupierten Frankreich und gelangte in die USA, von wo aus er erst 1989 nach Deutschland zurückkehrte.
Das erstmals 1993, in Sahls Todesjahr, veröffentlichte Gedicht bilanziert mit kühlem Sarkasmus die Existenzbedingungen eines Exilanten, der selbst nach dem Ende seiner Emigration noch konstitutionell „zuständig“ ist für die Vermittlung der Erfahrung des Heimatlos-Werdens. In böser Ironie mokiert sich Sahl über die Geschäftigkeit seiner Zeitgenossen, die die Emigranten auf ihre Opfer-Rolle als „Trödler des Unbegreiflichen“ festgelegt haben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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