Hilde Domins Gedicht „Traumwasser“

HILDE DOMIN

Traumwasser

Traumwasser
voll ertrunkener Tage.

Traumwasser
steigt in den Straßen.

Traumwasser
schwemmt mich hinweg.

1961/62

aus: Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1987

 

Konnotation

Seit der literarischen Romantik gilt der Traum nicht mehr als blendendes Trugbild oder leere Gaukelei der Imagination, sondern als enger Wahlverwandter der Poesie und als Spiegel der Seele. In Hilde Domins (1909–2006) Gedicht ist es ein unfestes, fluides Element, das im Traum dominiert und die Herrschaft über die Realität übernimmt: das Wasser.
Es ist offenbar ein Vorgang der Überflutung, der hier alles aus den alten Welt-Verankerungen löst: Das „Traumwasser“ überschwemmt jeden Lebensbereich – die vertrauten Koordinaten der Alltagswelt (die Straßen) wie auch das lyrische Subjekt selbst. Es wäre aber rein spekulativ, hier eine Traumdeutung nach psychoanalytischem Muster zu entwickeln und aus der Dominanz des „Traumwassers“ eine Befindlichkeit des Ich herauszupräparieren. Der Reiz des 1961/62 in Heidelberg entstandenen Textes besteht doch darin, dass durch die Sprache selbst, durch die poetische Fügung vom „Traumwasser“ der Stoff der Welt verflüssigt wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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