Hugo Dittberners Gedicht „Unter heimatlicher Erde“

HUGO DITTBERNER

Unter heimatlicher Erde

Unterwegs zu den Eltern, horche ich.
Der Winter legt eine Schicht auf.
Im U-Bahn-Licht neben mir sprechen
Geschminkte vom Stricken. Jede Masche
ein schöner Geliebter. In Worten
der Kindheit, als kennte ich sie.
Sie sind hier zuhause – und doch
spendieren sie mir, dem Fremden,
die größere Nähe, den schönen Schmerz.

nach 1990

aus: Hugo Dittberner: Das letzte fliegende Weiß. Palmenpresse, Köln 1994

 

Konnotation

Ist das folgende Gedicht des 1944 geborenen Hugo Dittberner ein melancholischer Abgesang auf das Alltagsgedicht der Siebziger oder doch eine liebevolle Reminiszenz an jene Zeit, da Dichter sich den Anspruch gaben, straßennah zu dichten und an den alltäglichen Problemen der Menschen interessiert zu sein? Das nach 1990 entstandene Gedicht lässt die Frage offen, doch sein Subjekt erinnert sich an eine zurückliegende Zeit.
Das Setting ist alltäglich. Ein Mann fährt mit der Untergrundbahn zu seinen Eltern. Allerdings sind die möglicherweise bereits Verstorbenen ihm fremder, als die ebenso fremden jungen Frauen in der Untergrundbahn, die von Liebhabern sprechen, von denen jeder wie die Maschen in einem Strichwerk sich an den anderen reiht. Das Gedicht, so lässt sich mit Blick auf die jungen Frauen behaupten, deren größere Nähe den schöneren Schmerz verursacht, thematisiert das Älterwerden.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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