Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Ein männlicher Briefmark erlebte…“

JOACHIM RINGELNATZ

Ein männlicher Briefmark erlebte
Was Schönes, bevor er klebte.
Er war von einer Prinzessin beleckt.
Da war die Liebe in ihm erweckt.

Er wollte sie wiederküssen,
Da hat er verreisen müssen.
So liebte er sie vergebens.
Das ist die Tragik des Lebens!

1912

 

Konnotation

Es gehört zur Kunst großer Humoristen, dass sie auch tragische Existenz-Situationen als sehr heiteres poetisches Setting von Missgeschicken oder kuriosen Schicksalsfügungen tarnen können. Dem „männlichen Briefmark“, den der große poetische Leichtmatrose, Kabarettist und Reim-Virtuose Joachim Ringelnatz (1883–1934) erfunden hat, widerfährt zunächst etwas durchaus berauschend Glückliches. Eine überwältigende Liebe entsteht durch eine erotische Begegnung – auch wenn dieser erotische Augenblick hier als gewissermaßen postalische Angelegenheit erscheint.
Dieses Liebes-Unglück, das den „Briefmark“ heimsucht, ist genauso fatal und ernst zu nehmen wie der emotionale Schiffbruch, den die unglücklichen Liebesnarren in den epochalen Gedichten Heinrich Heines (1797–1856) erleiden. Dieses berühmte Exempel aus dem grandiosen Band Die Schnupftabaksdose (1912) ist daher den legendären Heine-Gedichten über das Liebesleid an die Seite zu rücken. Selbst im komisch-philatelistischen Kontext behält der Schlussvers seine tragische Substanz.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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