Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Es war ein Brikett, ein grosses Genie,…“

JOACHIM RINGELNATZ

Es war ein Brikett, ein grosses Genie,
Das Philosophie studierte
Und später selbst an der Akademie
Im gleichen Fach dozierte.

Es sprach zur versammelten Briketterie:
„Verehrliches Auditorium,
Das Leben – das Leben – beachten Sie –
Ist nichts als ein Provisorium.“

Da wurde als ketzerisch gleich verbannt
Der Satz mit dem Provisorium.
Das arme Brikett, das wurde verbrannt
In einem Privatkrematorium.

1912

 

Konnotation

Man hat die Dichtung des Gelegenheits-Matrosen, Schaufensterdekorateurs, Kabarettisten und Reimkünstlers Joachim Ringelnatz (eigentlich: Hans Bötticher, 1883–1934) gerne als heiteren „Stumpfsinn in Versen“ missverstanden – hatte er doch selbst einen seiner Bände (Die Schnupftabakdose, 1912) im Untertitel so qualifiziert. Aber bei aller Neigung zum Kauzigen und Märchenhaft-Verspielten finden sich bei Ringelnatz immer wieder auch Verse mit philosophischem Hintersinn, meist als komische Anekdote getarnt.
Die Briketts, gepresst aus Steinkohlenstaub, haben ihre beste Zeit als Brennmaterial schon lange hinter sich. Ringelnatz hat in der Schnupftabakdose in schönem Aberwitz ein Brikett zum Philosophie-Dozenten erhoben. Und es liest sich wie eine diskrete Selbstreflexion, wenn ausgerechnet das große Brikett-„Genie“ das Provisorische und Vergängliche des Daseins predigt. Wer die Wahrheit sagt, wird aber selbst in der Moderne als Ketzer verdächtigt. So wird dann das Brikett sofort der Höchstrafe unterworfen – und erfüllt seine Bestimmung: Es wird verbrannt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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