Johannes Bobrowskis Gedicht „Ebene“

JOHANNES BOBROWSKI

Ebene

See.
Der See.
Versunken
die Ufer. Unter der Wolke
der Kranich. Weiß, aufleuchtend
der Hirtenvölker
Jahrtausende. Mit dem Wind

kam ich herauf den Berg.
Hier werd ich leben. Ein Jäger
war ich, einfing mich
aber das Gras.

Lehr mich reden, Gras,
lehr mich tot sein und hören,
lange, und reden, Stein,
lehr du mich bleiben, Wasser,
frag mir, und Wind, nicht nach.

1961

aus: Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 1. Deutsche Verlagsanstalt, München 1998

 

Konnotation

Die Sehnsuchtslandschaft des Dichters Johannes Bobrowski (1917–1965) war schon zu seinen Lebzeiten von der Landkarte Europas verschwunden. Der Dichter bezeichnete sie mit dem antiken Namen „Sarmatien“. Diese Lebenswelt umfasst die Regionen zwischen dem ostpreußischen Tilsit, wo Bobrowski am 9. April 1917 geboren wurde, der einstigen Provinzialhauptstadt Königsberg und den angrenzenden litauischen, polnischen und russischen Gebieten, die in den Weltkriegen mehrfach einer politischen Revolution unterworfen wurden.
Charakteristisch für Bobrowskis Dichtung ist die Beschwörung eines Verlusts, das retrospektive Weltverhältnis, das sich artikuliert in Trauer und Melancholie. In einem suggestiven Sehnsuchtston, im sprachmagischen Klangzauber wird das Arkadien der ostpreußischen Kindheit vergegenwärtigt. Eine versunkene Ferne wird beschworen, und darin die Naturzeichen einer ewigen Sehnsucht: See, Wolke, Berg, Gras, Wasser.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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