Karl Kraus’ Gedicht „Bekenntnis“

KARL KRAUS

Bekenntnis

Ich bin nur einer von den Epigonen,
die in dem alten Haus der Sprache wohnen.

Doch hab’ ich drin mein eigenes Erleben,
ich breche aus und ich zerstöre Theben.

Komm’ ich auch nach den alten Meistern, später,
so räch’ ich blutig das Geschick der Väter.

Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen
an allen jenen, die die Sprache sprechen.

Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner.
Ihr aber sei die kundigen Thebaner!

1916

 

Konnotation

Die Epigonen, so die mythologische Fama, sind ursprünglich sehr kampfeslustige Subjekte. Sie gelten als die Söhne der sieben frühgeschichtlichen Fürsten, die bei der Erstürmung der mittelgriechischen Stadt Theben zunächst scheiterten. Der Feldzug der „Nachkömmlinge“ (= Epigonen) jedoch endete mit der Eroberung und Plünderung Thebens. Im literaturgeschichtlichen Kontext gelten die Epigonen dagegen als ideenlose Nachahmer. Und wenn sich einer Meister der Sprache wie Karl Kraus (1874–1936) auf die Epigonen beruft?
Was zunächst wie ein Anflug von Bescheidenheit wirken mag, ist in Wahrheit eine selbstbewusste Kampfansage. In seinem im November 1916 erstmals veröffentlichten Gedicht porträtiert sich Kraus als „Epigone“, der im „alten Haus der Sprache“ als Rächer auftritt als Rächer der Sprache, der ihren gedankenlosen Gebrauch und Missbrauch in der Öffentlichkeit bestraft durch virtuose sprachkritische Polemik. Die „kundigen Thebaner“ sind nur die journalistischen Vollstrecker von Klischee und Halbbildung.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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