Kerstin Hensels Gedicht „Wahnsing“

KERSTIN HENSEL

Wahnsing

Ich lebe im Wahn sprechen zu können.
Die letzte meiner Art die noch Worte findet
Vorm Zunder der Zeitungen.

Aus der Hochburg der Technik und im Schweigezelt
Unserer Anstalt
Wirft man das Netz nach mir aus. Mein Fall
Füllt Lehrbücher, Talkshows, die Kassen, meine Zunge
Verholzt. Ich lebe im Wahn
Sprechen zu können. Der Arzt
Steigt in meinen Kopf
Und redet mit mir: die einzige Chance
Mich zu erreichen.

Ich lebe im Wahn sprechen zu können.

2008

aus: Kerstin Hensel: Alle Wetter. Gedichte. Luchterhand Literaturverlag, München 2008

 

Konnotation

Das Ich dieses Gedichts ist zum „Fall“ geworden, zum Objekt der Wissenschaften und der Medien, die neugierig die konstatierte Anomalie erforschen und voyeuristisch ausbeuten wollen. Die Sprache selbst und die Fähigkeit zu sprechen, Worte zu finden, werden dabei paradoxerweise als wahnhafte Abweichung empfunden. Es ist die Arbeit der Dichtkunst selbst, die hier unter Verdacht steht, als „Wahnsing“ kenntlich gemacht zu werden.
Kerstin Hensel (geb. 1961) arbeitet in ihrer vielstimmigen und formenreichen Poesie gerne mit ironischen Scharaden und wortwitziger Leichtigkeit. Ihre 2008 erstmals publizierte Inspektion eines Ich, das sich im „Wahnsing“ gefangen wähnt, sucht dagegen den Weg in die Verstörung. Und es bleibt offen, wer hier den „Wahnsing“ mehr befördert: das wegen seiner sprachlichen Abweichung denunzierte Ich, das von einer gefräßigen Öffentlichkeit belagert wird – oder vielmehr die Pseudo-Experten, die es genüsslich belauern.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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