Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Beschwörung IX“

MARIE LUISE KASCHNITZ

Beschwörung IX

Ich lag im Bunker mit vielen,
Keiner kam zur Ruh,
Und eine Hand bestahl mich,
Und die andere deckte mich zu.
Und ich ging auf der Straße mit vielen,
Weil es wieder zu wandern hieß,
Und eine Hand schob mir den Karren,
während die andre mich stieß.
Und ich wußte nicht zu sagen,
wes Art mein Nächster war,
Es war nach den alten Begriffen
Nichts mehr berechenbar.
Und es war auch nicht mehr die Rede
Vom Wohlgefallen,
Nur das elende herrliche Leben
War in uns allen.

1947

aus: Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Chr. Büttrich und N. Miller. Bd. 5, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1985

 

Konnotation

Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges sind gerade überstanden, da bündelt die Dichterin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) die traumatisierenden Alltagserfahrungen dieser Jahre in einem poetischen Zyklus, der in ihrem ersten, 194 7 publizierten Gedichtband Totentanz und Gedichte zur Zeit erscheint. Im Teil IX des Zyklus regiert der Blick der im Nazi-Reich Ausharrenden, die in der Endphase des eskalierenden Krieges den Erfahrungen der Bombardierung, Flucht und Vertreibung ausgesetzt sind.
So bewegend diese Verse zur Lage der vom Bombenkrieg bedrohten Städtebewohner auch anmuten mögen, so ist doch die Verklärung eines kollektiven Opfer-Status durchaus problematisch. Das identifizierende „Wir“ in den Schluss-Versen unterstellt die Einheit einer schuldlosen Opfergemeinschaft. In ihren autobiografischen Aufzeichnungen hat Kaschnitz später ihre passive Position während der Jahre des Nazi-Regimes vorsichtig kritisiert. Andererseits verteidigte sie stets die „Innere Emigration“: „Eine wissenschaftliche Erkenntnis, eine gelungene Verszeile, auch eine nie gedruckte, konnten nach meiner damaligen Auffassung die Welt verbessern, verändern, das war unsere Art von Widerstand.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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