Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Mein Land“

MARIE LUISE KASCHNITZ

Mein Land

Ich habe mein Land abgesteckt
Mit gefrorenen Fischen
Und mit raschelndem Maiskolbenlaub
Meinen Weg ins Freie
Eisfarren zieh ich mir auf
An meiner Fensterscheibe
Für meine Besucher
Hauch ich ein kreisrundes Loch
Sie sehen meine Augen
Meine vergeblich
Winkenden Wimpern
Um Mitternacht fegt durch den Mais
Der Slalom der Geister.

1965

aus: Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Chr. Büttrich und N. Miller. Bd. 5. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1985

 

Konnotation

Das Land, in dem die Dichterin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) ihren poetischen Bezirk absteckt, ist nicht mit geografischen Kategorien zu erfassen. Es ist ein utopisches Refugium inmitten einer eisigen Landschaft, für Besucher offenbar kaum zugänglich. Gespräche zwischen dem dergestalt eingeschlossenen Ich und der Außenwelt sind kaum möglich, nur eine stumme Verständigung mittels Augenkontakt. Kaum vorstellbar, dass aus diesem Land eine poetische „Flaschenpost“ die Welt erreicht.
Das Kaschnitz-Gedicht stammt aus dem Band Ein Wort weiter (1965), mit dem die Autorin die größte Popularität erreichte. Hier entwickelt sie ein sehr ambivalentes Bild für die Einsamkeit der dichterischen Stimme. Die Isolation scheint zwar selbst gewählt, aber die Schluss-Zeilen signalisieren die „Vergeblichkeit“ des Versuchs, Kontakt aufzunehmen mit den „Besuchern“. Ein intensiver Austausch findet nur mit „Geistern“ statt, die durch das Maisfeld rund um das Eis-Haus jagen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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