Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Schluß“

MARIE LUISE KASCHNITZ

Schluß

Dein Gedicht
Schlag es Dir in den Hals
Bring Dich zum Schweigen

Wenn du redest geht dir nicht ein
Was die andern zu sagen haben

Das Ohneich
Das Ohnedu
Das Ohnewann
Das Ohnewo

Die Maschine
In der man es manchmal
Knirschen hört
Schluchzen nicht mehr.
Nur die Handvoll Mensch im Getriebe.

Schweig.

1965

aus: Marie Luise Kaschnitz: Ein Wort weiter, Claassen Verlag, Hamburg 1965

 

Konnotation

Es ist ein bitterer kategorischer Imperativ, den die Dichterin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) gegen sich, gegen die eigene Poesie und letztlich gegen die eigene Dichterzunft richtet: Dem lyrischen Sprechen wird hier die Legitimation entzogen, erlaubt ist nur noch das Schweigen. Das 1965 in dem Band Ein Wort weiter publizierte Gedicht ist eine düstere Antwort auf eine frühere poetische Selbstverständigung, die noch Rettung verhieß: „Zeile für Zeile / Mein Paradies.“ Jetzt wird diese Utopie negativiert.
Im Gedichtband Dein Schweigen – meine Stimme von 1962 hatte sich dieses ambivalente Verhältnis zur Wirkungskraft der Poesie schon abgezeichnet: „Schreibend wollte ich / Meine Seele retten… / Ich versuchte Verse zu machen / Es ging nicht. / Ich versuchte Geschichten zu erzählen. / Es ging nicht. / Man kann nicht schrieben / Um seine Seele zu retten. / Die aufgegebene treibt dahin und singt.“ Hier wird aber noch die Möglichkeit des „Gesangs“ ausdrücklich konzediert. Diese Hoffnung ist in den letzten Lebensjahren der Dichterin zerstoben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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