Nicolas Borns Gedicht „Ich weiß ein Haus“

NICOLAS BORN

Ich weiß ein Haus

Ich weiß ein Haus.
Die Pforte erkenn ich,
da klopf ich an.
Ich will bleiben
bis die Nacht kommt.

Im Haus ist Asche,
die Betten und Bänke
Asche wie von Liebe.

Nicht sage ich Schwester,
nicht sage ich Bruder.
Ich weiß nur das Haus,
da will ich bleiben
bis die Nacht kommt.

1965

aus: Nicolas Born: Gedichte. Hrsg. v. Katharina Born. Wallstein Verlag, Göttingen 2004

 

Konnotation

Nicolas Born (1937–1979) wird in der Literaturgeschichte als literarische Galionsfigur der „Neuen Subjektivität“ rubriziert. Wenig bekannt ist, dass er seine wesentlichen literarischen Impulse der Begegnung mit einem Dichter der Sprachmagie verdankt, dem Poeten Ernst Meister (1911–1979). In der Auseinandersetzung mit dessen Werk entstand 1960 der nie publizierte Band „Echolandschaft“. Stark umgearbeitete Gedichte aus diesem frühen Werk wurden 1965 in einem „Essener Lesebuch“ publiziert.
Die Einkehr des Ich in ein geheimnisvolles Haus wird in der Art eines poetischen Traumprotokolls inszeniert. Für das lyrische Subjekt entsteht eine Szenerie zwischen Vertrautheit und Fremdheit, bekannte Elemente überlagern sich mit rätselhaften Details. In der ursprünglichen Fassung des Gedichts kommen noch biblische Motive ins Spiel. Geht es um die Imagination einer Heimkehr oder um das Wunschbild eines Refugiums, das mit Erwartungen liebender Zuwendung verbunden ist?

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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