Nora Bossongs Gedicht „Geweihe“

NORA BOSSONG

Geweihe

Das Spiel ist abgebrochen. Wie sollen wir
jetzt noch an Märchen glauben? Die Äste
splittern nachts nicht mehr, kein Wild,
das durch die Wälder zieht und das Gewitter
löst sich in Fliegenschwärmen auf. Gleichwohl,
es bleibt dabei: Das Jucken unter unsern Füßen
ist kein Tannenrest, kein Nesselblatt, wir folgen noch
dem Dreierschritt, den sieben Bergen und auch
dem Rehkitz Brüderchen und seiner Liebsten.
Erzähl mir die Geweihe an die Wand, erzähl mir
Nadeln in die Fliegen. Im rechten Moment
vergaßen wir zu stolpern.
Schneewittchen schläft.

2006

aus: Nora Bossong: Reglose Jagd. Zu Klampen Verlag, Springe 2007

 

Konnotation

Wenn das Ende der Kindheit erreicht ist, zerbricht der Glaube an die Wunderkraft der Märchen. Soeben waren noch unerwartete Rettungen möglich, jetzt wartet eine unsichere Wirklichkeit, in der bedrohliche Gewitter heraufziehen. Für das lyrische Wir im Gedicht der 1982 geborenen Lyrikerin Nora Bossong gibt es den verlässlichen Haltepunkt der Märchen nicht mehr: „Das Spiel ist abgebrochen.“ Aber für die Erfahrung des Neuen stehen noch keine Erfahrungsmuster bereit.
Nora Bossongs Gedichte geben vor, Geschichten zu erzählen, aber diese Geschichten lassen durch Verkürzungen alles in der Schwebe, sie siedeln in einem Zwischenraum, in dem nichts auserzählt wird, sondern alles nur im Modus der Andeutung greifbar wird. In diesem 2006 entstandenen Text sind die beruhigenden Utopien aus den Märchen von den „sieben Bergen“ oder dem „Rehkitz“ verschwunden, nur noch Chroniken der Jagd und der Gewalt bleiben zurück.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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