Nora Bossongs Gedicht „Postkarten“

NORA BOSSONG

Postkarten

Von hier sieht der Himmel anders aus,
mager, wie nur Protestanten ihn kennen.
In einer Scheune stirbt die alte Tietjen,
hundertzwei und Schweiß auf der Stirn.
Bis zuletzt hat sie Torf gestochen,
ihren Ofen auch sommers damit beheizt.
Vergeblich, sagt der Pfarrer, als Lore keucht,
sie wolle nun doch einmal die Berge sehen.
Alles vergeblich. Und wer legt jetzt Fleisch aus
für Werwölfe und herrenlose Hunde?
Wer schickt jetzt Karten, letzte Nachrichten
aus diesem Landstrich hinaus?

2007/2008

aus: Neubuch. Hrsg. von Ron Winkler. Yedermann Verlag, München 2008

 

Konnotation

Mit zwei Romanen und einem Gedichtband hat die 1982 geborene Nora Bossong sich bereits einen festen Platz in der deutschen Gegenwartsliteratur erschrieben. In ihren Romanen wie in ihren Gedichten rückt die Geschichte ins Blickfeld. Es sind Gedichte mit starkem erzählerischen Duktus, der ein Gleichgewicht herzustellen versucht zwischen inhaltlichen Verknüpfungen und formalem Kalkül. Dabei knüpft Bossong Begebenheiten und Figuren motivisch zu einem Erzählstrom, der Porträts und Landschaften miteinander vertauscht.
Eine irgendwie vertraute doch auch wie verwunschene Gegend wird hier beschrieben. Es ist der schmale Raum zwischen Geschichte und Erinnerung, der wie in vielen von Bossongs Gedichten hier ausgelotet wird. Das Gedicht als Postkarte zeigt eine Paysage intimes, einfaches Landleben, das mit der alten Tietjen von der Landkarte getilgt wird, inklusive aller an Aberglauben erinnernden Motiven, wie dem Werwolf, dem Dorfpfarrer und einem religiös konnotierten Himmel.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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