PETER HORST NEUMANN
Ein Leser
Gefangen, verloren, geborgen
im Walfischbauch.
Das simulierte Gespräch,
das Gespräch mit dir selbst:
jede Antwort in Fragegestalt.
Am vierten Tag ausgespien,
am fünften schon wieder bereit,
dich gefangen zu geben
im Buch, lieber Jonas, im Buch.
2002
aus: Auf der Wasserscheide. Akzente Heft 6, 2003
Wir müssen von unseren Verblendungen offenbar gewaltsam entfernt werden, um zur Besinnung zu kommen. Einst wollte der biblische Prophet Jona der ihm gestellten Aufgabe der Verkündung der Heilsbotschaft entfliehen. Seine Flucht vor seinem Auftraggeber endete damit, dass er von einem großen Fisch verschluckt und erst nach drei Tagen und drei Nächten ausgespuckt wurde. Die einsame Zeit im Bauch des Walfischs, in deren Verlauf er sich an die alten Gebete aus der Kindheit erinnerte, veränderte das Leben Jonas.
Die Gedichte des Lyrikers und Literaturwissenschaftlers Peter Horst Neumann (1936–2009) durchforschen die Sedimente von Philosophie und Theologie nach dem Kern der elementaren Daseinsfragen. Das Selbstgespräch des lyrischen Subjekts „im Walfischbauch“ erscheint als philosophische Meditation, die, wie jeder gute Diskurs, statt endgültiger Antworten immer neue „Fragegestalten“ aufwirft. Der Monolog im „Walfischbauch“ erweist sich nach einer kleinen Vokal-Eliminierung als intensivste Selbsterhellung – im Akt der Lektüre. In einer Neufassung trägt das 2002 erstmals publizierte Gedicht den Titel „Im Walfischbauch“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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