Rainer Maria Rilkes Gedicht „Auferstehung“

RAINER MARIA RILKE

Auferstehung

Der Graf vernimmt die Töne,
er sieht einen lichten Riß;
er weckt seine dreizehn Söhne
im Erb-Begräbnis.

Er grüßt seine beiden Frauen
ehrerbietig von weit –;
und alle, voll Vertrauen,
stehn auf zur Ewigkeit

und warten nur noch auf Erich
und Ulriken Dorotheen,
die, sieben- und dreizehnjährig, (sechzehnhundertzehn)
verstorben sind im Flandern,
um heute vor den andern
unbeirrt herzugehn.

1906

 

Konnotation

Die enorme Wandlungsfähigkeit des Dichters Rainer Maria Rilke (1875–1926) zeigt sich in jenen Gedichten, in denen er die feierlichen Töne, die für seine Dichtung so charakteristisch scheinen, konterkariert durch eine eigentümliche Verbindung aus Pathos und Komik. Als er im Sommer 1906 die „Auferstehung“, ein zentrales Element der christlichen Glaubenslehre, ins Bild setzt, verwandelt er das theologisch schwere Thema in einen Slapstick.
Offenbar hat es ein göttliches Signal zur „Auferstehung“ gegeben, denn die verstorbenen Söhne und Töchter eines Grafen treten in geordneten Reihen an, um rechtzeitig in die „Ewigkeit“ zu gelangen. Der „Jüngste Tag“ hat jeden apokalyptischen Schrecken verloren; die Szene erinnert eher an ein Familientreffen. Rilke fügt eine zeithistorische Markierung an, um dieser komischen Szene ein historisches Kolorit zu geben. 1610 starb der beliebte französische König Heinrich IV, der das Blutvergießen der Religionskriege eine Weile beenden konnte. Zwei Familienangehörige sind dem Weiterschwelen der Kämpfe in Flandern zum Opfer gefallen. Aber nun winkt ja der ewige Frieden!

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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