Raphael Urweiders Gedicht „26. April“

RAPHAEL URWEIDER

26. April

die bäume alle plötzlich aufgebrochen
ich kann sie nach farben unterscheiden
bevor sie alle grün sind aufgebrochen
als wie verwundet als wären blüten
wirklich blut der bäume ich würde
gerne seele sagen seelen der bäume
hätte ich je gelernt was seele heißt ja
hätten bäume seelen hießen sie blüten

2008

aus: Jahrbuch der Lyrik 2008. Hrsg. von Christoph Buchwald u. Ulf Stolterfoht. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Der Spieltrieb des 1974 in Bern geborenen Dichters Raphael Urweider ist stark entwickelt, verglichen mit den Poesien seiner Altersgenossen. Das reine Spiel der Worte, die musikalisch phrasiert in einem Raster aufeinander treffen, entfaltet sich in Urweiders kürzeren Gedichten besonders schön, in Miniaturen, die die Welt auf wenige Bausteine reduzieren und wie in einer Schneekugel durcheinanderwirbeln.
Wie in einem Puzzle trennen sich die Komponenten dieses Gedichts und wachsen neu zusammen, werden zusammengefügt. Die klangliche Nähe von Blüten und Blut führt zu einer Meditation über Leib und Seele der Bäume. Wenn Bäume Seelen hätten, hießen sie Blüten. Mit dem Schluss endet das Gedicht nicht, in der Form des Ritornells startet es aufs Neue. So entsteht eine Schleife, mit der das Puzzle stets aufgebrochen und neu zusammengesetzt wird, bis zu jenem Punkt, an dem ein Stück nicht passt und die Denkbewegung des Satzsubjekts abbrechen muss: Haben Bäume denn Seelen?

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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