Steffen Popps Gedicht „Fenster zur Weltnacht“

STEFFEN POPP

Fenster zur Weltnacht

Eine Straßenbahn schläft vor dem Haus – gelb
mit gefaltetem Bügel, im Standlicht eingerollt

im Bug des Triebwagens träumen zwei Schaffner
kopflos, unter den Schilden ihrer Pappmützen

einer bewegt sich
steigt aus, ein schwacher Glutpunkt, und atmet
Rauch, mit dem Rücken zum Führerhaus

lange schaut er
herauf, durch die orange Beleuchtung –

blind
wie Homer, in schwarzen Schuhen
mit Stahlkappen
unter dem Giebel des Uranus.

2004

aus: Steffen Popp: Wie Alpen. kookbooks Verlag, Berlin 2004

 

Konnotation

Der 1978 geborene Steffen Popp ist der bunteste Vogel im Gehege der jungen Lyriker-Generation. Popp liebt den Zusammenprall der metaphorischen und tonalen Gegensätze, er bevorzugt die surrealistische Überraschung, die unvorhergesehene Wendung. Zwischen steilem Manierismus, traditionalistischem Prunkzitat und banaler Alltagsnotiz schwankend, bahnt er sich seinen Weg durch die Ambivalenzen der Gegenwart – und verblüfft dabei immer wieder mit kühnen poetischen Bildfindungen.
Hier öffnet einer das „Fenster zur Weltnacht“ – und selbst in einer nächtlich ruhenden Straßenbahn beginnen alltägliche Augenblicke zu leuchten. Die Straßenbahn als Ausgangspunkt für visionäre Blicke, die bis zum Dichter-Vater Homer und zum fernen Planeten Uranus reichen – ein für Popp typischer kosmischer Übermut. Dieser Dichter treibt die bildalchemistischen Operationen immer weiter – um die alten schweren Dichterzeichen ebenso zu retten wie die modernen Ernüchterungsmelodien.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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