Theodor Däublers Gedicht „Oft“

THEODOR DÄUBLER

Oft

Warum erscheint mir immer wieder
Ein Abendtal, sein Bach und Tannen?
Es blickt ein Stern verständlich nieder
Und sagt mir: wandle still von dannen.

Dann zieh ich fort von guten Leuten.
Was konnte mich nur so verbittern?
Die Glocken fangen an zu läuten,
Und der Stern beginnt zu zittern.

um 1910

 

Konnotation

In der Lyrikgeschichte des 20. Jahrhunderts tritt uns der in Triest aufgewachsene Dichter Theodor Däubler (1876–1934) als ein kosmologisch inspirierter Visionär entgegen, der sein Sehertum in einem „Weltmythos“ verankern will. Seine „Ptivatkosmogonie“ verlangte nach einem „Heldengedicht“, das er in den 30.000 Versen seines pathetisch aufgeladenen Epos Nordlicht (1910) verwirklicht sah. Die Träume vom „sternenüberblühten Weltenbaum“ manifestierten sich jedoch auch in kleinteiligeren Gedichten.
Von Beginn an, in seinen ab 1900 entstandenen Oden und Gesängen, suchte Däubler „den sternhellen Weg“, deklarierte die Sonne zum Lebensquell und identifizierte das (Sonnen)Licht mit dem Geist. Das vor 1910 entstandene Gedicht „Oft“ spricht von der Macht eines Gestirns, das den Lebensweg des lyrischen Ich in eine unvorhersehbare Richtung lenkt. Auch hier wird jene kosmische Botschaft weitergereicht, die Däublers Werk grundiert: „die Erde wird wieder leuchtend werden, aber die Völker sind verantwortlich, dass dieser Stern, der ein dunkler ist, einst der allerhellste sei.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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