Theodor Kramers Gedicht „Wer läutet draußen an der Tür?“

THEODOR KRAMER

Wer läutet draußen an der Tür?

Wer läutet draußen an der Tür,
kaum daß es sich erhellt?
Ich geh schon, Schatz. Der Bub hat nur
die Semmeln hingestellt.

Wer läutet draußen an der Tür?
Bleib nur; ich geh, mein Kind.
Es war ein Mann, der fragte an
beim Nachbar, wer wir sind.

Wer läutet draußen an der Tür
Laß ruhig die Wanne voll.
Die Post war da; der Brief ist nicht
dabei, der kommen soll.

Wer läutet draußen an der Tür?
Leg du die Betten aus.
Der Hausbesorger war’s, wir solln
am Ersten aus dem Haus.

Wer läutet draußen an der Tür?
Die Fuchsien blühn so nah.
Pack, Liebste, mir mein Waschzeug ein
und wein nicht: sie sind da.

1938

aus: Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte in 3 Bänden. Hrsg. v. Erwin Chvojka. Bd. 1. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997 und 2005

 

Konnotation

Es ist die traumatische Erfahrung für alle Opponenten und Dissidenten einer totalitären Macht. Jederzeit können die Schergen der Despotie in die private Lebenswelt des einzelnen einbrechen und ihre Akte der Willkür vollstrecken. Diesen Augenblick der Angst vor Verhaftung oder Verschleppung, der die sich kumulierende Bedrohung abbildet, hat der große österreichische Realist und plebejische Lyriker Theodor Kramer (1897–1958) hier festgehalten. Das Gedicht entstand im Juni 1938, als der linke Sozialdemokrat Kramer nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich existenziell bedroht war.
Die volksliedhafte, formal konventionelle Dichtung Kramers hat die Literaturgeschichte oft sehr despektierlich behandelt. Dabei hat Kramer in der Tradition der Chansonniers und Bänkelsänger die bewährten Muster des Redens und Reimens souverän durchgespielt. Sein politisches Erweckungserlebnis im Jahr 1929, das ihn zum Realismus der Neuen Sachlichkeit führte, beschrieb der Dichter so: „Ich hoffe sehr, dass ich unter anderem ein Asphaltdichter bin, ein Kohlenrutschendichter, ein Stundenhoteldichter, ein Freß- und Saufdichter.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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