Ulf Miehes Gedicht „Eine Sorte von Vätern“

ULF MIEHE

Eine Sorte von Vätern

Gesichter:
Verschwommen, blaß;
gutsitzende Brille.

Eigenschaften:
Harmlos. Ihre Arglosigkeit
übertrifft die
gutmütiger Haustiere.

Ansonsten:
Gründlich.
Im Listenanfertigen
für Sonnabendeinkäufe,
Steuererklärungen
und Menschentransporte.

Erinnerungsvermögen:
Schwach.
Bauchschuß, Bluterbrechen
total vergessen nach zwanzig Jahren –
nur für den Stammtisch
Panzerabschüsse parat.

Die Regierung,
von ihnen gewählt,
ist ihnen ähnlich.

1965/66

aus: Aussichten. Junge Lyriker des deutschen Sprachraums. Hrsg. v. Peter Hamm. Riederstein Verlag, München 1966

 

Konnotation

Bevor er überaus erfolgreich als Krimiautor von sich reden machte (Ich hab noch einen Toten in Berlin. 1972) debütierte der Schriftsteller und Drehbuchautor Ulf Miehe (1940–1989) mit dem Gedichtband In diesem lauten Lande (1966), der entscheidend zur politischen und ästhetischen Selbstverständigung der „68er Generation“ beitrug. Sein erstmals 1966 gedrucktes Gedicht über die politisch verstrickte Vätergeneration steht als exemplarischer Text am Beginn der literarischen Politisierung.
Miehe beschränkt sich hier auf die lakonische Skizzierung eines Vater-Typus, der die Generation der Kriegsteilnehmer repräsentiert. Das Gedicht setzt auf schroffe Kontraste: Die charakterliche „Harmlosigkeit“ der Väter steht einer kollektiven Bereitschaft zur „gründlichen“ Vollstreckung unmenschlicher Taten des Nazi-Regimes gegenüber. Das Gedicht verweist nicht nur auf eine kollektive Schuld dieser „Sorte von Vätern“, sondern suggeriert auch das Fortdauern der nationalsozialistischen Mentalitäten in den Regierungen der Bundesrepublik.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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