Unbekannter Autor Gedicht „Die ABC-Schützen“

UNBEKANNTER AUTOR

Die ABC-Schützen

Rathe, was ich habe vernommen,
Es sind achtzehn fremde Gesellen ins Land gekommen,
Zu mahlen schön und säuberlich,
Doch keiner einem andern glich,
All ohne Fehler und Gebrechen,
Nur konnte keiner ein Wort sprechen,
Und damit man sie sollte verstehn,
Hatten sie fünf Dolmetscher mit sich gehn,
Das waren hochgelehrte Leut,
Der erst erstaunt, reißts Maul auf weit,
Der zweite wie ein Kindlein schreit,
Der dritte wie ein Mäuselein pfiff,
Der vierte wie ein Fuhrmann rief,
Der Fünft gar wie ein Uhu thut,
Das waren ihre Künste gut,
Damit erhoben sie ein Geschrei,
Füllt noch die Welt, ist nicht vorbei.

16. Jahrhundert

 

Konnotation

Was sind das für seltsam stumme „Gesellen“, die hier ein nicht näher genanntes „Land“ besiedeln und fünf Dolmetscher zur Übermittlung ihrer Anliegen brauchen? Der Titel des Rätsel-Gedichts aus dem 16. Jahrhundert liefert den entscheidenden Hinweis. Es handelt sich bei den wundersamen Reisenden um die Buchstaben des Alphabets. Dieses Rätsel-Gedicht nahmen Achim von Arnim und Clemens Brentano in den dritten Band ihrer Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1808) auf; es firmiert dort unter „Kinderlieder“.
Aber die Zahl der stimmlosen und stimmhaften Konsonanten (achtzehn) und ihrer „Dolmetscher“, der fünf Vokale A-E-I-O-U („Der Fünfte war wie ein Uhu thut“) scheint nicht mit der Zahl unseres neuhochdeutschen Alphabets übereinzustimmen. Das erklärt sich aus der Tatsache, dass die achtzehn Konsonanten und fünf Vokale vom lateinischen Alphabet her abgeleitet sind, in dem „J“, „V“ und „Y“ nicht vorhanden sind. Das lateinische Original-Gedicht wurde vermutlich von dem Humanisten Johannes Lorichius (ca. 1520–1569) ins Deutsche übertragen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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